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Leo Trotzki 19300715 Stalin als Theoretiker

Leo Trotzki: Stalin als Theoretiker

[Nach Schriften 1.1. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1929-1936. Hamburg 1988, S. 192-223. Dort mit zahlreichen Fußnoten]

Büyük Ada, 15. Juli 1930

I. Die bäuerliche Bilanz der demokratischen und der sozialistischen Revolution

»… Stalins Auftritt vor der Konferenz der marxistischen Agrarwissenschaftler war ein epochales Ereignis in der Geschichte der Kommunistischen Akademie. Ausgehend von Stalins Worten mussten wir alle unsere Pläne neu überdenken und sie entsprechend dem von Stalin Gesagten ändern. Stalins Auftritt gab unserer Arbeit ungeheure Impulse.« (Pokrowski vor dem 16. Parteitag.)

In seiner programmatischen Rede vor der Konferenz marxistischer Agrarwissenschaftler (am 27. Dezember 1929) hat Stalin sich lang und breit mit der der »trotzkistisch-sinowjewistischen Opposition« zugeschriebenen Behauptung auseinandergesetzt, »wonach die Oktoberrevolution der Bauernschaft eigentlich nichts gegeben hätte«. Das dürfte sogar den ehrfürchtigen Zuhörern als eine allzu grobschlächtige Lüge erschienen sein. Der Klarheit wegen sollten wir die Passage ausführlicher zitieren:

»Ich meine die Theorie«, sagte Stalin, »wonach die Oktoberrevolution der Bauernschaft weniger gegeben hätte als die Februarrevolution, wonach die Oktoberrevolution der Bauernschaft eigentlich nichts gegeben hätte.«

Die Erfindung dieser »Theorie« schreibt Stalin einem der sowjetischen Wirtschaftsstatistiker, dem bekannten früheren Menschewiken Groman zu. Dann fügt er hinzu: »Diese Theorie wurde von der trotzkistisch-sinowjewistischen Opposition aufgegriffen und gegen die Partei ausgenutzt.« Gromans Theorie über die Februar- und die Oktoberrevolution ist uns völlig unbekannt. Doch Groman spielt in diesem Zusammenhang auch gar keine Rolle; er wird nur erwähnt, um Spuren zu verwischen.

Wie konnte die Februarrevolution der Bauernschaft mehr geben als die Oktoberrevolution? Inwiefern war die Februarrevolution der Bauernschaft überhaupt von Nutzen – abgesehen von der formalen und daher absolut unsicheren Beseitigung der Monarchie? Der bürokratische Apparat blieb intakt. Die Bauern erhielten kein Land. Dafür bescherte die Februarrevolution ihnen die Fortführung des Krieges und die Gewissheit einer weiter wachsenden Inflation. Kennt Stalin vielleicht irgendwelche anderen Gaben der Februarrevolution für die Bauern? Uns sind jedenfalls keine bekannt. Gerade weil die Bauern in einem fort betrogen wurden, folgte doch die Oktoberrevolution der Februarrevolution.

Die angebliche Theorie der Opposition über die Vorzüge der Februarrevolution gegenüber dem Oktober verbindet Stalin mit der Theorie über »die sogenannte Schere«. Damit verrät er Grund und Zweck seiner Verleumdung. Stalin polemisiert, wie ich gleich zeigen werde, gegen mich. Er versteckt sich hinter Groman und der anonymen »trotzkistisch-sinowjewistischen Opposition«, um sein Vorhaben leichter durchführen zu können und um seine gröbsten Verdrehungen zu verschleiern.

Das eigentliche Problem ist folgendes. Vor dem 12. Parteitag im Frühjahr 1923 wies ich zum ersten Mal auf das bedrohliche Auseinanderklaffen der Preise für landwirtschaftliche und industrielle Güter hin. In meinem Referat wurde diese Erscheinung zum ersten Mal als »Preis-Schere« bezeichnet. Ich warnte davor, dass sich durch ein weiteres Zurückbleiben der Entwicklung der Industrie die Schere weiter öffnen werde und so die Verbindung des Proletariats mit der Bauernschaft zerrissen werden könnte.

Im Februar 1927, als im Plenum des Zentralkomitees die Preispolitik diskutiert wurde, versuchte ich zum tausendundersten Male zu zeigen, dass allgemeine Phrasen, wie »Das Gesicht dem Dorfe zu« am Wesen des Problems vorbeigehen, und dass im Hinblick auf das Bündnis mit den Bauern die Frage nur durch ein Gleichgewicht zwischen den Preisen für landwirtschaftliche und industrielle Produkte gelöst werden könne. Leider ist es mit dem Bauern so, dass es ihm schwerfällt, langfristig vorauszuplanen. Aber er sieht den Boden unter seinen Füßen ganz genau, er erinnert sich sehr gut an das, was gestern geschah, und er ist in der Lage festzustellen, was ihm sein Warenaustausch mit der Stadt bringt; und das ergibt für ihn jederzeit die Bilanz der Revolution.

Die Enteignung der Großgrundbesitzer und die Senkung der Steuern befreiten die Bauernschaft von der Zahlung von etwa fünf- bis sechshundert Millionen Rubeln. Das ist für die Bauern ein eindeutiger und unbestreitbarer Gewinn, den sie der Oktoberrevolution verdanken – nicht der Februarrevolution.

Diesem ungeheuren Plus steht ein klares Minus gegenüber, das die Bauernschaft ebenfalls der Oktoberrevolution verdankt. Dieses Minus ist die ungeheure Verteuerung der Industrieprodukte im Vergleich zur Vorkriegszeit. Selbstverständlich gäbe es die Preisschere auch, wenn der Kapitalismus in Russland nicht beseitigt worden wäre; das ist eine internationale Erscheinung. Doch erstens weiß das der Bauer nicht, und zweitens hat sich die Schere nirgendwo so weit geöffnet wie in der Sowjetunion. Die großen Verluste der Bauernschaft durch die Preissteigerungen sind vorübergehender Natur; sie sind charakteristisch für die Periode der »ursprünglichen Akkumulation« der Staatsindustrie. Der proletarische Staat nimmt bei den Bauern sozusagen Anleihen auf, um sie später mit Zins und Zinseszins zurückzuzahlen.

Das gehört jedoch alles in die Sphäre der theoretischen Überlegungen und historischer Prognosen. Das Denken der Bauern ist aber empirisch und bezieht sich auf die aktuellen Tatsachen. »Die Oktoberrevolution hat mich von der Zahlung einer halben Milliarde Rubel Grundrente befreit«, denkt der Bauer, »dafür bin ich den Bolschewiki dankbar. Doch die staatliche Industrie verlangt von mir bedeutend höhere Preise als damals die Kapitalisten. Da stimmt irgendetwas mit den Kommunisten nicht.« Mit anderen Worten, der Bauer zieht die Bilanz der Oktoberrevolution, indem er ihre beiden wichtigsten Posten gegeneinander aufrechnet: den agrar-demokratischen (»bolschewistischen«) und den industriell-sozialistischen (»kommunistischen«). Der erste Posten ergibt ein klares und unbestreitbares Plus; der zweite Posten ergibt ein klares Minus, das bis heute bedeutend größer als das Plus ist. Die passive Bilanz der Oktoberrevolution wiederum, die die Quelle aller Misshelligkeiten zwischen den Bauern und der Sowjetmacht ist, steht in engstem Zusammenhang mit der Isolation der Sowjetunion in der Weltwirtschaft.

Fast drei Jahre nach den alten Debatten kam Stalin zu seinem Unglück auf diese Frage zurück. Weil er nur fremde Äcker bestellen kann, gleichzeitig aber auf seine »Selbständigkeit« bedacht sein muss, ist Stalin gezwungen, bei allen seinen Schritten Anleihen bei der gestrigen »trotzkistischen Opposition« zu machen und – die Spuren zu verwischen. Stalin hat seinerzeit das Problem der »Schere« zwischen Stadt und Land überhaupt nicht begriffen. Fünf Jahre lang (1923-1928) sah er die Gefahr darin, dass sich die Industrie zu schnell, statt zu langsam entwickeln könnte. Um das irgendwie zu vertuschen, murmelt er in seiner Rede irgendetwas Unzusammenhängendes über »ein von den bürgerlichen Ökonomen gezüchtetes Vorurteil (!!!) über die sogenannte Schere«. Warum sind das Vorurteile? Und was ist bürgerlich daran? Stalin ist jedoch nicht verpflichtet, auf diese Fragen zu antworten, weil niemand sie ihm zu stellen wagt.

Wenn die Februarrevolution den Bauern das Land gegeben hätte, dann hätte sich die Oktoberrevolution mit ihrer Preisschere keine zwei Jahre halten können. Genauer gesagt: Es hätte keine Oktoberrevolution gegeben, wenn die Februarrevolution die agrarisch-demokratische Hauptaufgabe durch Enteignung des Großgrundbesitzes gelöst hätte.

Wir haben schon darauf hingewiesen, dass die Bauern in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution hartnäckig Kommunisten und Bolschewisten zu unterscheiden suchten. Die letzteren schätzten sie, weil sie die Agrarrevolution mit einer zuvor nicht gekannten Entschlossenheit durchführten. Mit den Kommunisten waren dieselben Bauern aber unzufrieden, weil sie, nachdem sie die Leitung der Fabriken und Betriebe übernommen hatten, die industriellen Produkte teurer verkauften. Die Bauern billigten, mit anderen Worten, ganz entschieden die Agrarrevolution der Bolschewiki, verfolgten aber mit Unruhe, mit Zweifel und manchmal mit offener Feindschaft die ersten Schritte der sozialistischen Revolution. Es dauerte aber nicht lange, bis die Bauern begriffen hatten, dass Bolschewiki und Kommunisten ein und derselben Partei angehörten.

Im Februar 1927 behandelte ich im Plenum des Zentralkomitees diese Frage wie folgt: Die Enteignung der Großgrundbesitzer verschaffte uns bei den Bauern großen Kredit, in politischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht. Aber dieser Kredit gilt nicht ewig und unbegrenzt. Die Frage wird durch das Preisverhältnis entschieden. Nur die Beschleunigung der Industrialisierung einerseits und die Kollektivierung der Landwirtschaft andererseits kann zu einem Preisverhältnis führen, das für das Dorf günstiger ist. Andernfalls werden die Vorteile der Agrarrevolution ausschließlich den Kulaken zugutekommen, während die Schere den armen Bauern am härtesten trifft. Die Differenzierung der mittleren Bauernschaft wird sich beschleunigen. Das kann nur ein Resultat zur Folge haben: den Zusammenbruch der Diktatur des Proletariats.

»In diesem Jahr«, sagte ich, »werden nur Industriewaren im Wert von etwa acht Milliarden Rubel (zu Ladenpreisen) auf den Binnenmarkt kommen… Für etwas weniger als die Hälfte dieser Waren wird das Dorf etwa vier Milliarden Rubel bezahlen. Nehmen wir an, dass der Index für Kleinhandelspreise im Vergleich zu den Vorkriegspreisen um das Doppelte gestiegen ist, wie Mikojan berichtet hat. Dann folgt daraus, dass das Dorf für die Industrieerzeugnisse etwa zwei Milliarden Rubel mehr bezahlt … Für den Bauern sieht die Bilanz dann so aus: ,Die demokratische Agrarrevolution hat mir, von allen anderen Vorteilen einmal abgesehen, fünfhundert Millionen Rubel im Jahr eingebracht (durch Abschaffung der Rentenzahlungen und Steuersenkungen). Die sozialistische Revolution hat diesen Gewinn durch einen Verlust von zwei Milliarden Rubel zunichte gemacht. Die Schlussrechnung weist also ein Defizit von anderthalb Milliarden Rubel auf.'«

Niemand hat mir auf dieser Sitzung auch nur mit einem Wort widersprochen, doch wurde Jakowlew, damals noch mit besonderen statistischen Aufgaben betraut, heute aber Volkskommissar für Landwirtschaft, damit beauftragt, meine Zahlen auf jeden Fall zu widerlegen. Jakowlew gab sich die größtmögliche Mühe. Trotz aller zulässigen und unzulässigen Korrekturen und Einschränkungen musste Jakowlew am folgenden Tag zugeben, dass, im ganzen Gebiet betrachtet, die Bilanz der Oktoberrevolution für das Dorf ein Minus ergebe. Hier seine eigenen Worte:

»Der Gewinn aufgrund des Fortfalls direkter Steuern im Vergleich zur Vorkriegszeit beträgt etwa sechshundertunddreißig Millionen Rubel … Im vergangenen Jahr büßte die Bauernschaft etwa eine Milliarde Rubel ein, weil sie die Industriewaren nicht entsprechend dem Index des bäuerlichen Einkommens, sondern entsprechend dem Einzelhandelsindex dieser Industriewaren kaufte. Per Saldo ergibt das ein Minus von etwa vierhundert Millionen Rubel.«

Es liegt auf der Hand, dass Jakowlews Bericht im Wesentlichen meine Einschätzung bestätigte, dass die demokratische Revolution der Bolschewiki zwar dem Bauern große Vorteile brachte, die sozialistische Revolution für ihn aber bis jetzt einen Verlust bedeutet, der bedeutend größer als der Gewinn ist. Ich hatte das Defizit auf etwa anderthalb Milliarden Rubel geschätzt, Jakowlew kam auf etwas weniger als eine halbe Milliarde. Ich bin auch jetzt noch der Meinung, dass die von mir genannte Zahl, von der ich keineswegs behaupte, sie sei exakt, der Wirklichkeit näher kommt als Jakowlews Zahl. Die Differenz zwischen beiden Zahlen ist zwar beträchtlich, ändert aber nichts an meiner Schlussfolgerung Die ungeheuren Schwierigkeiten bei der Getreidebeschaffung gaben meiner Bilanz eine beunruhigende Bestätigung. Es ist natürlich absurd, dass die oberen Schichten des Dorfes das Getreide aus rein politischen Gründen zurückhalten, d.h., weil die Kulaken dem Sowjetstaat feindlich gesinnt sind. Eines solchen »Idealismus« ist der Kulak nicht fähig. Wenn er sein Getreide nicht zum Kauf angeboten hat, dann deshalb, weil der Verkauf infolge der Preisschere für ihn von Nachteil war. Deshalb gelang es dem Kulaken auch, den Mittelbauern unter seinen Einfluss zu bringen.

Meine Rechnung ist eine vorläufige, sozusagen eine Brutto-Berechnung. Die einzelnen Posten der Bilanz müssen entsprechend den drei Hauptgruppen der Bauernschaft – Kulaken, Mittelbauern und arme Bauern – spezifiziert werden. Aber zu jener Zeit – Anfang 1927 ignorierte oder unterschätzte die offizielle Statistik, von Jakowlew beeinflusst, die soziale Differenzierung des Dorfes, und die Politik Stalins, Rykows und Bucharins protegierte den »starken« Bauern und bekämpfte den »faulen« armen Bauern. Daher lastete das Defizit besonders auf den unteren Schichten der Bauernschaft.

Worin sieht nun aber Stalin den Gegensatz zwischen der Februarrevolution und der Oktoberrevolution, wird der Leser fragen. Das ist eine berechtigte Frage. Stalin, der vollkommen unfähig ist, theoretisch, d.h. abstrakt zu denken, missverstand meine Gegenüberstellung von demokratisch-agrarischer und sozialistisch-industrieller Revolution auf seine Weise: Er entschied sich einfach dafür, die demokratische Revolution mit der Februarrevolution zu identifizieren.

Hier müssen wir etwas verweilen, weil das traditionelle Unverständnis Stalins und seiner Kollegen für das Verhältnis von demokratischer und sozialistischer Revolution, das ihrem gesamten Kampf gegen die Theorie der permanenten Revolution zugrunde liegt, schon zu schrecklichen Katastrophen, besonders in China und Indien, geführt hat und bis zum heutigen Tage schreckliche Fehler nach sich zieht.

Stalin war zur Zeit der Februarrevolution 1917 im Grunde genommen ein linker Demokrat, kein revolutionärer proletarischer Internationalist. Sein gesamtes Verhalten bis zur Ankunft Lenins hat das klar gezeigt. Für Stalin ist und bleibt die Februarrevolution, wie wir sehen, die »demokratische« Revolution par excellence. Er trat für die Unterstützung der ersten Provisorischen Regierung ein, die von dem national-liberalen Großgrundbesitzer Fürst Lwow geführt wurde, und der der national-konservative Fabrikant Gutschkow als Kriegsminister, sowie der national-liberale Miljukow als Außenminister angehörten. Am 29. März 1917 wies Stalin auf einer Parteikonferenz auf die Notwendigkeit hin, die Provisorische Regierung der Bourgeoisie und der Großgrundbesitzer zu unterstützen, und erklärte:

»Die Regierungsgewalt ist zwischen zwei Organen aufgeteilt, von denen keines im Vollbesitz der Macht ist. Die Rollen sind verteilt. Der Sowjet hat faktisch die Initiative zu revolutionären Neuerungen übernommen; der Sowjet ist der revolutionäre Führer des aufständischen Volkes, das Organ, das die Provisorische Regierung kontrolliert. Die Provisorische Regierung hat faktisch die Rolle übernommen, die revolutionären Eroberungen des Volkes zu festigen… In dem Maße, wie die Provisorische Regierung die Errungenschaften der Revolution konsolidiert, sollten wir sie unterstützen.«*

Die durch und durch konterrevolutionäre »Februar«-Regierung der Bourgeoisie und der Grundbesitzer war für Stalin kein Klassenfeind, sondern ein Bundesgenosse, mit dem man sich die Arbeit teilen konnte. Die Arbeiter und Bauern würden »Eroberungen« machen, die Bourgeoisie würde sie »konsolidieren«. Beides zusammen ergäbe die »demokratische Revolution«. Bezüglich der Unterstützung der Bourgeoisie vertrat Stalin damals wie die Menschewiki die Losung des »in dem Maße, wie.. .« Stalin vertrat diese Ansichten noch einen Monat nach der Februarrevolution, als der Charakter der Provisorischen Regierung selbst einem Blinden klar sein musste, wozu es keiner marxistischen Analyse bedurfte, sondern bloß der politischen Erfahrung.

Wie die weitere Entwicklung zeigte, gelang es Lenin 1917 im Grunde nicht, Stalin zu überzeugen, sondern nur, ihn beiseite zu drängen. Die mechanische Trennung von demokratischer und sozialistischer Revolution gab die Basis für Stalins späteren Kampf gegen die Theorie der permanenten Revolution ab. Stalin hat bis heute nicht verstanden, dass die Oktoberrevolution in erster Linie eine demokratische Revolution war und dass gerade darum die Diktatur des Proletariats errichtet werden konnte. Meine Bilanz der demokratischen und sozialistischen Errungenschaften der Oktoberrevolution passte Stalin einfach seiner alten Konzeption an. Danach stellt er die Frage: »Ist es richtig, dass die Bauern von der Oktoberrevolution nichts erhalten haben?« Nachdem er erklärt hat, dass dank der Oktoberrevolution »die Bauern von dem Joch der Gutsbesitzer frei geworden (sind)« (was uns zuvor natürlich vollkommen unbekannt war!), schließt Stalin mit den Worten: »Wie kann man nach alledem behaupten, die Oktoberrevolution hätte dem Bauern nichts gegeben?«

Wie kann man nach alledem behaupten, fragen wir, dass es bei diesem »Theoretiker« auch nur ein Gran theoretischer Aufrichtigkeit gebe? Die oben aufgemachte ungünstige Bilanz der Oktoberrevolution für das Dorf gilt natürlich nur auf Zeit. Die grundlegende Bedeutung der Oktoberrevolution für die Bauernschaft besteht darin, dass sie die Voraussetzungen für die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft geschaffen hat. Doch das ist eine Aufgabe der Zukunft. 1927 war die Kollektivierung noch völlig tabu. Niemand hat damals auch nur im Entferntesten an eine »totale« Kollektivierung gedacht. Stalin bezieht sie jedoch in seine Überlegungen ein. »Heute, nach der verstärkten Entwicklung der kollektivwirtschaftlichen Bewegung« – unser Theoretiker datiert in die Vergangenheit zurück, was erst bevorsteht –, ist »der Bauer … in der Lage …, bei demselben Arbeitsaufwand weit mehr zu produzieren als früher.« Und er wiederholt:

»Wie kann man nach alledem [!] behaupten, die Oktoberrevolution hätte der Bauernschaft keinen Gewinn gebracht? Ist es nicht klar, dass Leute, die solchen Unsinn reden, offenkundig die Partei, die Sowjetmacht, verleumden?«

Wie wir sehen, haben die Hinweise auf »Unsinn« und auf »Verleumdungen« an dieser Stelle durchaus ihren Sinn. Ja, gewisse Personen »verleumden offenkundig« die Chronologie und den gesunden Menschenverstand.

Wie wir sehen, sucht Stalin seinen »Unsinn« plausibler zu machen, indem er die Sache so hinstellt, als habe die Opposition die Februarrevolution nicht nur auf Kosten der Oktoberrevolution verherrlicht, sondern auch geleugnet, dass die Oktoberrevolution die Situation der Bauern in der Zukunft verbessern könne. Für welche Dummköpfe ist das gedacht, wenn man fragen darf? Wir bitten den ehrenwerten Professor Pokrowski um Entschuldigung!

Indem die Opposition seit 1923 wiederholt das Problem der ökonomischen Schere zwischen Stadt und Land zur Debatte stellte, verfolgte sie ein bestimmtes, heute von niemandem in Frage gestelltes Ziel: Die Bürokratie zu der Einsicht zu zwingen, dass man die Gefahr einer Auflösung des Bündnisses von Arbeiterklasse und Bauernschaft nicht mit schönen Losungen wie »Das Gesicht dem Dorfe zu« und ähnlichen bekämpfen konnte, sondern nur durch ein rascheres Industrialisierungstempo und eine energische Kollektivierung der Landwirtschaft. Mit anderen Worten: Wir haben das Problem der Schere und das der bäuerlichen Bilanz der Oktoberrevolution nicht aufgeworfen, um die Oktoberrevolution zu »verleumden« (was für eine Terminologie!), sondern um die konservative und selbstzufriedene Bürokratie mit der Peitsche der Opposition dazu zu zwingen, die unerschöpflichen wirtschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen, die die Oktoberrevolution auf dem Lande eröffnet hat.

Im Gegensatz zu dem offiziellen kulakisch-bürokratischen Kurs der Jahre 1923-1928, der in der tagtäglichen gesetzgeberischen und administrativen Tätigkeit, in den neuen Theorien und vor allem in der Verfolgung der Opposition zum Ausdruck kam, trat die Opposition seit 1923 für einen Kurs ein, der auf die beschleunigte Industrialisierung abzielte und, seit 1926, nach den ersten Erfolgen in der Industrie, auf die Mechanisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft.

Erinnern wir uns, dass es in der Plattform der Opposition, die Stalin unter Verschluss hält, aus der er selbst aber Stück um Stück seine Weisheit bezieht, heißt:

»Der zunehmenden Zersplitterung der Landwirtschaft muss ein verstärktes Wachstum der Kollektivwirtschaften entgegengestellt werden. Jahr für Jahr müssen systematisch bedeutende Zuwendungen an die in Kollektiven organisierte Dorfarmut geleistet werden.« (S. 24.) »Für den Aufbau von Kolchosen und Sowchosen müssen weit mehr Mittel aufgebracht werden. Den neu geschaffenen Kolchosen und anderen Kollektivformen müssen weit größere Zugeständnisse gemacht werden. Personen, denen das Wahlrecht entzogen worden ist, können nicht Mitglied einer Kolchose sein. Die gesamte Arbeit der Kooperative muss darauf ausgerichtet sein, kleine Produktionseinheiten zu großen Kollektivwirtschaften zusammenzufassen. Die Landverteilung muss vollständig vom Staat getragen werden, und vor allem müssen die Kollektivwirtschaften und die Gehöfte der Dorfarmut, bei maximaler Berücksichtigung ihrer Interessen, unterstützt werden.« (S. 26.)

Hätte die Bürokratie nicht dem Druck des Kleinbürgertums nachgegeben, sondern seit 1923 das Programm der Opposition verwirklicht, so sähe die Bilanz der Oktoberrevolution für das Proletariat wie für die Bauernschaft sehr viel günstiger aus.

Das Problem der Smytschka ist das Problem der wechselseitigen Beziehungen zwischen Stadt und Land. Es besteht aus zwei Komponenten oder kann, genauer gesagt, unter zwei Aspekten gesehen werden: a) unter dem der Beziehungen zwischen Landwirtschaft und Industrie, b) unter dem der Beziehungen zwischen Proletariat und Bauernschaft. Unter Marktverhältnissen nehmen diese Beziehungen die Form von Tauschbeziehungen an und finden in Preisbewegungen ihren Ausdruck. Das Verhältnis zwischen den Preisen für Getreide, Flachs, Rüben usw. auf der einen und für Kattun, Kerosin, Pflüge usw. auf der anderen Seite ist der entscheidende Indikator für die Einschätzung der wechselseitigen Beziehungen zwischen Stadt und Land, zwischen Arbeitern und Bauern. Das Problem der »Schere« zwischen den Preisen für industrielle und landwirtschaftliche Waren bleibt darum auch heute das wichtigste wirtschaftliche und soziale Problem des ganzen Sowjetsystems. Wie hat sich zwischen den beiden letzten Parteitagen, d.h. in den letzten zweieinhalb Jahren die Preisschere entwickelt? Hat sie sich geschlossen oder noch weiter geöffnet?

In Stalins zehnstündigem Referat vor dem 16. Parteitag werden wir vergeblich eine Antwort auf diese zentrale Frage suchen. Stalin legte dem Kongress zwar Unmengen von amtlichen Daten vor, wodurch das Grundsatzreferat zu so etwas wie einem bürokratischen Nachschlagewerk wurde, aber er versuchte es nicht einmal, marxistische Schlüsse aus den isolierten, unverdauten Daten zu ziehen, die er von den Kommissariaten, Sekretariaten und anderen Kanzleien erhalten hatte.

Schließt sich die Preisschere zwischen den landwirtschaftlichen und den industriellen Produkten? Mit anderen Worten, vermindert sich der noch bestehende Passivsaldo der sozialistischen Revolution für die Bauernschaft? Unter Marktbedingungen – von denen wir uns noch nicht befreit haben und noch lange nicht werden befreien können – ist die Schließung oder weitere Öffnung der Schere von entscheidender Bedeutung für die Beurteilung der bereits erzielten Erfolge und für die Überprüfung der Richtigkeit der Wirtschaftspläne und -methoden. Es ist äußerst beunruhigend, dass Stalin in seiner Rede darüber kein Wort verloren hat. Hätte sich die Schere geschlossen, so hätte es in Mikojans Behörde genug Spezialisten gegeben, die diesen Prozess in Zahlen gefasst und graphisch dargestellt hätten. Stalin hätte dann nur das Diagramm erläutern, d.h. dem Parteitag zeigen müssen, dass sich die Klingen der Schere schließen. Der gesamte wirtschaftliche Teil seiner Rede hätte dann Hand und Fuß gehabt. Aber leider war dem nicht so. Stalin ist dem Problem der Preisschere ausgewichen.

Die binnenwirtschaftliche Preisschere ist natürlich nicht der entscheidende Index. Es gibt noch einen anderen, »wichtigeren« Index: die Schere zwischen den Inlands- und den Weltmarktpreisen. Das ist das Maß für die Arbeitsproduktivität der Sowjetwirtschaft im Vergleich zur Arbeitsproduktivität im Bereich des kapitalistischen Weltmarkts. Die Vergangenheit hat uns auf diesem wie auf anderen Gebieten ein ungeheures Erbe von Rückständigkeit hinterlassen. In der Praxis besteht die Aufgabe in den nächsten Jahren nicht darin, Hals über Kopf die kapitalistischen Länder »einzuholen und zu überholen« – das wird leider noch sehr lange dauern –, sondern darin, die Schere zwischen Inlandspreisen und Weltmarktpreisen planmäßig zu schließen; das ist nur durch systematische Annäherung der Arbeitsproduktivität innerhalb der UdSSR an die Arbeitsproduktivität der führenden kapitalistischen Länder möglich. Dazu braucht man nicht Pläne mit maximalen Planziffern, sondern ökonomisch optimale Wirtschaftspläne. Je öfter die Bürokraten die stolze Losung »Einholen und Überholen« propagieren, desto sturer ignorieren sie genaue Vergleichskoeffizienten zwischen der sozialistischen und der kapitalistischen Industrie, oder, anders ausgedrückt, das Problem der Schere zwischen Inlands- und Weltmarktpreisen. Und auch darüber hat Stalin in seiner Rede kein einziges Wort verloren.

Das Problem der Inlandsschere kann nur durch Liquidierung des Marktes, das Problem der äußeren Schere nur durch Liquidierung des Weltkapitalismus gelöst werden. Wie wir wissen, bereitete sich Stalin zur Zeit seiner Rede vor den marxistischen Agrarwissenschaftlern darauf vor, die NEP »zum Teufel« zu jagen. Doch in den darauffolgenden sechs Monaten hat er seine Meinung geändert. In der für ihn typischen Weise schreibt er in seiner Parteitagsrede seine eigene, nicht realisierte Absicht, die NEP zu liquidieren, den »Trotzkisten« zu. Der Zweck dieses Winkelzugs war so offensichtlich, dass selbst das Parteitags-Protokoll an dieser Stelle keinerlei Applaus verzeichnet.

Stalin geht es mit seiner Einstellung zum Markt und zur NEP, wie es Empiristen immer geht. Den radikalen Sinneswandel, der sich bei ihm aufgrund äußeren Drucks vollzog, verkannte er als grundlegende Veränderung der gesamten Situation. Hat sich die Bürokratie einmal entschieden, dem Markt und den Kulaken einen entscheidenden Kampf zu liefern, statt sich ihnen passiv anzupassen, so behandeln Statistik und Ökonomie Markt und Kulaken sogleich als nicht mehr existent. Meist erwächst aus dem Empirismus der Subjektivismus, und wenn es ein bürokratischer Empirismus ist, dann führt er unweigerlich zu periodischen Zickzackwendungen. Die Kunst der »obersten« Führung besteht in einem solchen Falle darin, den Kurswechsel in eine Reihe von kleineren Schritten aufzulösen und mit deren Ausführung ihre Handlanger zu betrauen. Wenn im Endeffekt dann der »Trotzkismus« für den allgemeinen Kurswechsel verantwortlich gemacht wird, ist das Problem gelöst. In Wirklichkeit verhält es sich aber ganz anders. Trotz des raschen Wandels der »grundlegenden« Auffassungen Stalins über die NEP besteht deren Wesen wie früher in der Bestimmung der wirtschaftlichen Wechselbeziehungen von Stadt und Land durch den Markt. Wird die NEP beibehalten, dann bleibt auch die Preisschere zwischen industriellen und landwirtschaftlichen Preisen der wichtigste Prüfstein der gesamten Wirtschaftspolitik.

Wir haben aber gehört, dass Stalin die Theorie der Preisschere schon ein halbes Jahr vor dem Parteitag als ein »bürgerliches Vorurteil« bezeichnet hat. Das ist der einfachste Ausweg. Sagt man einem Dorf-Quacksalber, dass die Fieberkurve einer der wichtigsten Anhaltspunkte für Gesundheit oder Krankheit eines Organismus ist, so wird er das kaum glauben. Schnappt er aber ein paar kluge Worte auf und lernt, um das Maß voll zu machen, seine Kurpfuscherei als »proletarische Medizin« auszugeben, dann wird er ganz sicher sagen, das Thermometer sei ein bürgerliche Vorurteil. Hat dieser Kurpfuscher aber die Macht inne, dann wird er das Thermometer auf einem Stein, oder schlimmer noch, auf einem Kopf zerschlagen, um einen Skandal zu vermeiden.

1925 hieß es, die soziale Differenzierung des Sowjetdorfes sei eine Erfindung von Panikmachern. Jakowlew wurde in das Statistische Zentralamt beordert und konfiszierte dort alle marxistischen Thermometer, um sie zu zerschlagen. Unglücklicherweise hat es mit den Temperaturschwankungen kein Ende, wenn es keine Thermometer mehr gibt. Und die Manifestationen der verborgenen organischen Prozesse überraschen dann Ärzte wie Patienten. Genau das geschah während des Getreidestreiks der Kulaken, die sich unerwartet als die entscheidende Kraft des Dorfes entpuppten und Stalin am 15. Februar 1928 (vgl. die Prawda von diesem Tage) zu einer Wendung um 180 Grad zwangen.

Das Preisthermometer ist von nicht geringerer Bedeutung als das Thermometer für die soziale Differenzierung der Bauernschaft. Nach dem Zwölften Parteitag, währenddessen der Begriff »Schere« zum ersten Mal benutzt und erklärt wurde, verstand jedermann dessen Bedeutung. In drei folgenden Jahren wurde in den Plenarsitzungen des Zentralkomitees, bei Konferenzen und Kongressen ständig mit der Preisschere als der wichtigsten Größe zur Bestimmung der Wirtschaftstemperatur des Landes operiert. Nach und nach aber wurde es stiller um die »Schere«, bis Stalin sie gegen Ende des Jahres 1929 als … »ein bürgerliches Vorurteil« bezeichnete. Weil das Thermometer rechtzeitig zerschlagen worden war, brauchte Stalin dem Sechzehnten Parteitag die Temperaturkurve der Wirtschaft nicht vorzustellen.

Die marxistische Theorie ist eine geistige Waffe, die dazu dient zu erklären, was war, was wird und was kommt, und zu bestimmen, was zu tun ist. Stalins Theorie steht im Dienst der Bürokratie. Ihre Funktion ist es, Zickzack-Wendungen im Nachhinein zu rechtfertigen, die Fehler von gestern zu verschleiern und damit die von morgen vorzubereiten. Der zentrale Punkt in Stalins Rede ist das Schweigen über die Preisschere. Das klingt paradox, weil das Verschweigen ja keinen Platz braucht. Doch es ist so: Im Zentrum seiner Rede hat Stalin vorsätzlich eine Lücke gelassen.

II. Die Grundrente – Stalin vertieft Marx und Engels

Zu Beginn seines Kampfes gegen den »Generalsekretär« sagte Bucharin, es sei Stalins Hauptambition, als »Theoretiker« anerkannt zu werden. Bucharin kennt Stalin und das ABC des Kommunismus gut genug, um die ganze Tragikomik dieses Anspruchs zu sehen. Vor der Konferenz der marxistischen Agrarwissenschaftler trat Stalin nun in der Rolle des Theoretikers auf. Dabei kam unter anderem die Grundrente zu Schaden.

Vor nicht allzu langer Zeit (1925) hatte Stalin vor, den bäuerlichen Parzellenbesitz juristisch für Jahrzehnte festzuschreiben – was faktisch und rechtlich auf die Abschaffung der Nationalisierung des Bodens hinausgelaufen wäre. Der georgische Volkskommissar für Landwirtschaft bereitete damals, natürlich mit Wissen Stalins, einen Gesetzesentwurf vor, der direkt die Beseitigung der Verstaatlichung des Bodens vorsah. Das russische Kommissariat für Landwirtschaft arbeitete im gleichen Sinne. Die Opposition schlug Alarm. In ihrer Plattform hieß es: »Die Partei muss mit größter Entschiedenheit allen Tendenzen entgegentreten, die darauf abzielen, die Nationalisierung des Bodens, einen der Grundpfeiler der Diktatur des Proletariats, zu beseitigen oder zu untergraben.« Ähnlich wie Stalin schon 1922 seine Attacke auf das Außenhandelsmonopol aufgeben musste, so musste er auch 1926 seinen Angriff auf die Boden-Verstaatlichung zurücknehmen, indem er behauptete, er sei »missverstanden worden«.

Nach der Proklamation der Linkswendung avancierte Stalin nicht nur zum Verteidiger der Nationalisierung des Grundeigentums, sondern beschuldigte auch plötzlich die Opposition, die Bedeutung dieser Errungenschaft nicht zu begreifen. Seine bisher ablehnende Haltung gegenüber der Nationalisierung schlug nun in deren Fetischisierung um. Marx' Theorie der Grundrente erlangte eine neue administrative Funktion: Sie soll nun Stalins totale Kollektivierung rechtfertigen.

Werfen wir also einen Blick auf die Theorie. Marx unterscheidet in seiner Fragment gebliebenen Analyse der Grundrente zwischen der absoluten Grundrente und der Differentialrente. Da je nach Bodenqualität ein und dasselbe Quantum menschlicher Arbeit verschiedene Erträge erbringt, eignet sich der Eigentümer des fruchtbaren Bodens natürlich den Mehrertrag an. Das ist die Differentialrente. Aber auch das unfruchtbarste Stück Land wird nicht kostenlos verpachtet, so lange eine Nachfrage danach besteht. Mit anderen Worten: Das Privateigentum an Boden bringt auf jeden Fall eine bestimmte Minimum-Grundrente ein, unabhängig von der Qualität des Bodens. Das ist die sogenannte absolute Rente. Die wirkliche Grundrente ist demnach theoretisch die Summe der absoluten und der Differentialrente.

Entsprechend dieser Theorie führte die Abschaffung des privaten Grundeigentums zur Beseitigung der absoluten Grundrente. Es bleibt nur jene Rente übrig, die von der Bodenqualität abhängt, oder, genauer gesagt, vom Aufwand an menschlicher Arbeit für Böden von unterschiedlicher Qualität. Man braucht nicht eigens hervorzuheben, dass die Differentialrente keine unveränderliche Eigenschaft des Bodens ist, sondern sich mit den jeweiligen Bearbeitungsmethoden ändert. Diese kurze Erinnerung genügt, um zu zeigen, wie kläglich Stalins Ausflug in die Theorie der Nationalisierung des Bodens ausgefallen ist.

Er beginnt, indem er Engels korrigiert und vertieft. Das versucht er nicht zum ersten Mal. Schon 1926 hat Stalin uns erklärt, dass Engels wie Marx das Grundgesetz der ungleichmäßigen Entwicklung des Kapitalismus noch nicht kannten, und daher die Theorie des Sozialismus in einem Lande ablehnten, die, im Gegensatz zu ihnen, von G. Vollmar, Stalins theoretischem Vorläufer, verteidigt wurde.

An das Problem der Bodenverstaatlichung, oder, genauer gesagt, an das unzureichende Verständnis des alten Engels für dieses Problem, scheint Stalin auf den ersten Blick etwas vorsichtiger heranzugehen. Im Grunde genommen aber verfährt er so oberflächlich wie eh und je. Er zitiert aus Engels' Arbeit über die Bauernfrage die berühmte Formulierung, dass wir auf keinen Fall gegen den Willen des Kleinbauern vorgehen dürfen, sondern ihm in jeder Weise helfen müssen, um ihm den Übergang zur Genossenschaft zu erleichtern«, d.h. zur kollektiven Landwirtschaft. »Wir werden alles nur irgend Zulässige tun,… »um ihm… eine verlängerte Bedenkzeit auf seiner Parzelle zu ermöglichen.« Diese ausgezeichneten Worte, die jedem Marxisten, der lesen und schreiben kann, bekannt sind, bringen die Beziehungen der Diktatur des Proletariats zur Bauernschaft auf eine klare und einfache Formel.

Stalin, der die totale Kollektivierung rechtfertigen muss, betont die außerordentliche, »auf den ersten Blick übertrieben scheinende Vorsicht von Engels« hinsichtlich des Übergangs der kleinen Bauern zur sozialistischen Landwirtschaft. Was hat Engels zu dieser »übertriebenen« Vorsicht veranlasst? Stalin antwortet darauf:

»Offensichtlich ging er von dem Bestehen des Privateigentums an Grund und Boden aus, von der Tatsache, dass der Bauer ,seine Parzelle' besitzt, von der er sich nur schwer trennen kann … So ist die Bauernschaft in den kapitalistischen Ländern, wo das Privateigentum an Grund und Boden besteht. Es ist begreiflich, dass hier [?] große Vorsicht nötig ist. Kann man sagen, dass wir in der UdSSR in der gleichen Lage sind? Nein, das kann man nicht sagen. Man kann das nicht, weil wir kein Privateigentum an Grund und Boden haben, das den Bauern an seine individuelle Wirtschaft fesselt.«

So sehen Stalins Überlegungen aus. Kann man sagen, dass diese Überlegungen auch nur ein Gran Vernunft enthalten? Nein. Engels musste anscheinend »vorsichtig« sein, weil in den bürgerlichen Ländern privates Grundeigentum existiert. Stalin hat das nicht nötig, weil wir bei uns in der UdSSR den Boden nationalisiert haben. Aber gab es im bürgerlichen Russland neben der archaischen Form des Gemeineigentums (der Obschtschina) kein Privateigentum an Grund und Boden? Die Nationalisierung des Bodens fiel nicht vom Himmel; wir haben sie nach der Machteroberung durchgeführt. Und Engels spricht über die Politik der proletarischen Partei nach der Machteroberung. Welchen Sinn hat dann aber Stalins herablassende Erklärung der Engelsschen Vorsicht: der alte Mann war nun einmal dazu gezwungen, in bürgerlichen Ländern tätig zu werden, wo privates Grundeigentum existiert, während wir auf die Idee gekommen sind, das Privateigentum abzuschaffen? Engels empfiehlt aber gerade für die Zeit nach der Machteroberung des Proletariats Vorsicht, also nach Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln.

Indem Stalin die sowjetische Bauernpolitik Engels' Ratschlägen gegenüberstellt, verwirrt er die Frage in der lächerlichsten Weise. Engels versprach, dem Kleinbauern auf seinem Stückchen Land Bedenkzeit für den Entschluss zum Eintritt in die Genossenschaft zu lassen. In dieser Phase der Umorientierung soll der Arbeiterstaat, nach Engels, den Kleinbauern vor dem Wucherer, Getreideaufkäufer usw. schützen, d.h. die Ausbeutungstendenzen des Kulaken einschränken. Trotz aller Schwankungen hat die Sowjetpolitik gegenüber der großen, nicht ausbeutenden Masse der Bauernschaft diese doppelte Aufgabe erfüllt. Trotz allem statistischen Geprahle befindet sich die Kollektivierungsbewegung erst jetzt, im dreizehnten Jahr nach der Machteroberung, in ihrem Anfangsstadium. Die proletarische Diktatur gab der großen Mehrheit der Bauern also zwölf Jahre Zeit zum Nachdenken. Engels dachte kaum an einen so langen Zeitraum, und in den fortgeschrittenen, hochentwickelten Ländern des Westens wird es dem Proletariat unvergleichlich leichter fallen, den Bauern die Vorteile der kollektiven Landwirtschaft praktisch vor Augen zu führen. Wenn sich bei uns erst zwölf Jahre nach der Machteroberung des Proletariats eine breite, aber noch sehr primitive und unsichere Kollektivierungsbewegung entwickelt, so liegt das – trotz der Verstaatlichung des Bodens – an unserer Armut und Rückständigkeit. Das hat Engels wohl nicht beschäftigt, und das Proletariat des Westens wird nach der Machteroberung wohl kaum mit einer solchen Situation konfrontiert sein. Die Gegenüberstellung Russlands und des Westens, Stalins und Engels', schmeckt nach Idealisierung nationaler Rückständigkeit.

Doch Stalin gibt sich damit nicht zufrieden; die ökonomische Absurdität ergänzt er durch eine theoretische.

»Das ist«, erklärt er seinen unglücklichen Zuhörern, »einer der Gründe dafür, dass es bei uns, wo der Boden nationalisiert ist, den Großbetrieben im Dorfe, den Kollektivwirtschaften im Dorfe so leicht (!!) gelingt, ihre Überlegenheit gegenüber der kleinen Bauernwirtschaft zu demonstrieren. Darin liegt die große revolutionäre Bedeutung der Agrargesetze der Sowjetmacht, die die absolute Rente aufgehoben … und die Nationalisierung des Bodens verankert haben.«

Und er fragt selbstzufrieden und vorwurfsvoll:

»Warum wird aber dieses neue (?!) Argument von unseren Agrarwissenschaftlern in ihrem Kampf gegen alle wie immer gearteten bürgerlichen Theorien nicht genügend ausgewertet?«

Hier bezieht Stalin sich auf den dritten Band des Kapital und auf Marx' Theorie der Grundrente – den marxistischen Agronomen wird empfohlen, sich keine Blicke zuzuwerfen, sich nicht verwirrt zu räuspern und sich vor allem nicht an den Kopf zu fassen. Oh weh! Zu welchen Höhen hat dieser Theoretiker sich aufgeschwungen, ehe er… mit seinem neuen Argument auf die Nase fällt.

Stalin zufolge ist die Bauernschaft des Westens nur durch die »absolute Rente« an den Boden gefesselt. Da wir dies Ungeheuer »aufgehoben« haben, ist auch die versklavende »Macht der Erde« verschwunden, die Gleb Uspenski in Russland und Balzac und Zola in Frankreich so eindrucksvoll beschrieben haben.

Zunächst einmal müssen wir festhalten, dass die absolute Rente bei uns noch nicht beseitigt, sondern nur verstaatlicht ist. Das ist längst nicht ein und dasselbe. Newmark schätzte das Volksvermögen Russlands, einschließlich vor allem des gesamten Bodens, d.h. der kapitalisierten Rente des ganzen Landes, im Jahre 1914 auf etwa 140 Milliarden Goldrubel. Wenn wir heute das spezifische Gewicht des gesamten Volksvermögens der Sowjetunion im Verhältnis zum Reichtum der gesamten Menschheit bestimmen wollen, dann müssen wir natürlich auch die kapitalisierte Rente, die absolute wie die Differentialrente, einbeziehen.

Alle ökonomischen Größen, auch die absolute Rente, beziehen sich auf menschliche Arbeit. Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen wird die Grundrente durch die Produktmenge bestimmt, die der Grundeigentümer mittels der eingesetzten Arbeitskraft erzeugen kann. In der UdSSR ist der Staat der Grundeigentümer. Damit steht ihm auch die Grundrente zu. Erst nach der Sozialisierung des gesamten Bodens auf unserem Planeten kann man von der wirklichen Beseitigung der absoluten Rente sprechen, d.h. erst nach dem Sieg der Weltrevolution. Auch wenn es Stalin kränkt: Im nationalen Rahmen kann man weder den Sozialismus aufbauen, noch die absolute Rente beseitigen.

Diese interessante theoretische Frage hat auch praktische Bedeutung. Die Grundrente findet auf dem Weltmarkt in den Preisen für landwirtschaftliche Produkte ihren Ausdruck. In dem Maße, in dem die Sowjetregierung solche Produkte exportiert – und im Zuge der Intensivierung der Landwirtschaft wird der Agrarexport mächtig zunehmen –, tritt der Sowjetstaat, bewaffnet mit dem Außenhandelsmonopol, auf dem Weltmarkt als Eigentümer des Bodens auf, dessen Produkte er exportiert; über den Preis dieser landwirtschaftlichen Produkte realisiert der Sowjetstaat die in seinen Händen konzentrierte Grundrente. Wenn unsere landwirtschaftliche Technik und unser Außenhandel denen der kapitalistischen Länder nicht unterlegen, sondern gleich wären, dann würde bei uns in der UdSSR die absolute Rente ihre klarste und konzentrierteste Form annehmen. Wenn zukünftig ein solches Entwicklungsniveau erreicht wird, wird eben das von größter Bedeutung für die Planung von Landwirtschaft und Export sein. Wenn Stalin jetzt damit prahlt, wir hätten die absolute Rente schon »beseitigt«, statt sie auf dem Weltmarkt zu realisieren, so gibt ihm die gegenwärtige Schwäche unseres Agrarexports und die irrationale Organisation unseres Außenhandels, die nicht nur die absolute Rente, sondern noch vieles andere spurlos verschwinden lässt, Gelegenheit dazu. Dieser Aspekt der Frage, der keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der Kollektivierung der Landwirtschaft hat, bietet ein weiteres Beispiel jener Idealisierung der wirtschaftlichen Isolation und Rückständigkeit, die zu den Hauptmerkmalen unseres national-sozialistischen Philosophen gehört.

Kehren wir zur Frage der Kollektivierung zurück. Stalin zufolge ist der Kleinbauer im Westen durch die absolute Grundrente an seine Parzelle gekettet. Über dieses »neue Argument« werden alle Hühner der Bauern lachen. Die absolute Rente ist eine rein kapitalistische Kategorie. Die kleinen Bauernhöfe können an der absoluten Rente nur zeitweilig, unter außergewöhnlich günstigen Marktbedingungen teilhaben, etwa zu Kriegsbeginn. Die ökonomische Diktatur des Finanzkapitals über das Dorf realisiert sich auf dem Markt im ungleichen Tausch. Nirgendwo entgeht die Bauernschaft dem Regime der »Schere«. Die überwältigende Mehrheit der kleinen Bauern holt aus den Getreidepreisen und allgemein aus den Preisen für landwirtschaftliche Produkte nicht einmal ihren Arbeitslohn, geschweige denn die Rente heraus.

Wenn aber die absolute Rente, die Stalin so triumphal »aufgehoben« hat, dem Kleinbauern absolut nichts bedeutet, so hat die Differentialrente, die Stalin so großzügig verschonte, gerade für den Bauern im Westen große Bedeutung. Der Pächter hängt um so mehr an seiner Parzelle, je mehr Arbeit und Finanzmittel er und sein Vater zur Ertragssteigerung eingesetzt haben. Das gilt übrigens nicht nur für den Westen, sondern auch für den Osten, zum Beispiel für die Gebiete Chinas, in denen intensiver Ackerbau betrieben wird. So lassen sich bestimmte Elemente des kleinbürgerlichen Konservatismus nicht von der abstrakten Kategorie der absoluten Rente ableiten, sondern von den materiellen Bedingungen des Ackerbaus, der auf parzelliertem Land intensiver betrieben wird. Wenn sich die russischen Bauern verhältnismäßig leicht von ihrem Stück Land trennen, dann keineswegs deshalb, weil Stalins »neues Argument« sie von der absoluten Rente befreite, sondern aus dem gleichen Grund, weshalb es bei uns auch schon vor der Oktoberrevolution zu periodischen Umverteilungen des Bodens kam. Unsere Narodniki idealisierten diese Neuverteilungen als solche. Sie waren aber nur aufgrund des extensiven Charakters der Landwirtschaft, der Dreifelderwirtschaft und der erbärmlichen Bodenbearbeitung möglich, das heißt wiederum wegen der von Stalin idealisierten Rückständigkeit.

Wird das siegreiche Proletariat im Westen es schwerer als wir haben, den bäuerlichen Konservatismus zu überwinden, der aus dem intensiveren Ackerbau einer parzellierten Landwirtschaft erwächst? Keineswegs, denn ein proletarischer Staat im Westen wird dem Bauern dank dem unvergleichlich viel höheren Entwicklungsniveau von Industrie und Kultur beim Übergang zur kollektiven Bodenbearbeitung viel leichter einen realen, spürbaren Ausgleich für den Verlust der »Differentialrente« seiner Parzelle bieten können. Zwölf Jahre nach der Machteroberung wird die Kollektivierung der Landwirtschaft in Deutschland, England oder Amerika zweifellos unvergleichlich viel höher entwickelt und stabiler sein als heute bei uns. Ist es nicht sonderbar, dass Stalin sein »neues Argument« für eine totale Kollektivierung erst zwölf Jahre nach der Nationalisierung entdeckt hat? Warum setzte er in den Jahren 1923-1928 so sehr auf den einzelnen, starken Warenproduzenten und nicht auf die Kollektive, obwohl der Boden längst verstaatlicht war? Es ist klar: Die Nationalisierung des Bodens ist eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für eine sozialistische Landwirtschaft. Unter einem borniert-ökonomischen Gesichtspunkt, also so, wie Stalin das Problem sieht, ist die Nationalisierung des Bodens lediglich ein Faktor von drittrangiger Bedeutung, weil die Kosten der Ausrüstung, die für eine rationelle, groß dimensionierte Landwirtschaft notwendig sind, ein Vielfaches der absoluten Rente ausmachen.

Es erübrigt sich zu sagen, dass die Nationalisierung des Bodens eine äußerst wichtige, unerlässliche politische und rechtliche Voraussetzung für die sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft ist. Aber die unmittelbare wirtschaftliche Bedeutung der Nationalisierung zu einem gegebenen Zeitpunkt wird durch das Zusammenwirken der materiellen Produktionsfaktoren bestimmt. Das wird am Problem der bäuerlichen Bilanz der Oktoberrevolution ganz deutlich. Der Staat als Grundeigentümer hat in seiner Hand den Anspruch auf die Grundrente konzentriert. Realisiert er die Grundrente auf dem heutigen Markt über die Preise für Getreide, Holz usw.? Leider noch nicht. Treibt er sie vom Bauern ein? Diese Frage kann bei der Vielfalt der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Staat und den Bauern nicht so ohne weiteres beantwortet werden. Man kann sagen – und das ist kein Paradox –, dass die Grundrente in der Preis-»Schere« zwischen den industriellen und landwirtschaftlichen Gütern steckt. Angesichts der Konzentration von Boden, Industrie und Transport in den Händen des Staates hat die Frage der Bodenrente für den Bauern sozusagen eine eher buchhalterische als wirtschaftliche Bedeutung. Aber der Bauer kümmert sich nicht viel um die Buchhaltung. Seine Beziehungen zur Stadt und zum Staat bilanziert er nur im Groben.

Richtiger wäre es, dies Problem von einer anderen Seite anzugehen. Durch die Nationalisierung des Bodens, der Fabriken und Betriebe, durch Annullierung der Auslandsschulden und Einführung der Planwirtschaft war der Arbeiterstaat in der Lage, in kurzer Zeit hohe industrielle Wachstumsraten zu erreichen. Das ist zweifellos die wichtigste Voraussetzung für die Kollektivierung, keine rechtliche, sondern eine materiell-produktive Voraussetzung, die sich in einer bestimmten Zahl von Pflügen, Garbenbindern, Mähdreschern, Traktoren, Zuchtstationen, Agronomen usw. niederschlägt. Von diesen realen Größen sollte der Kollektivierungsplan ausgehen. Dann wird er auch verwirklicht. Man kann nicht immer wieder die Nationalisierung selbst den Früchten der Nationalisierung zuschlagen, als sei das ein unerschöpflicher Reservefonds, aus dem die Kosten aller Exzesse der »totalen« bürokratischen Abenteuer bestritten werden können. Das wäre so, als deponierte man sein Kapital auf der Bank und wollte gleichzeitig über das Kapital und die Zinsen verfügen.

Das ist unsere allgemeine Schlussfolgerung Die besondere, individuelle aber lässt sich einfacher mit den Worten des russischen Liedes formulieren:

»Jerema, Jerema,

wärst' daheim geblieben…«,

statt auf theoretische Abenteuer auszugehen.

III. Die Marxschen Formeln und der Mut der Ignoranz

Zwischen dem ersten und dem dritten Band des »Kapital« gibt es noch den zweiten. Unser Theoretiker erachtet es als seine Pflicht, auch dem zweiten Band administrative Gewalt anzutun. Stalin muss die gegenwärtige forcierte Kollektivierungspolitik hastig gegen Kritik verteidigen. Da er die notwendigen Beweise nicht in den materiellen Bedingungen der Wirtschaft findet, sucht er sie in autoritativen Büchern, und erwischt fatalerweise jedes Mal die falsche Seite.

Die gesamte kapitalistische Erfahrung bezeugt die Vorteile der Wirtschaftsführung in großem Stil im Vergleich zur klein dimensionierten, und das gilt auch für die Landwirtschaft. Die möglichen Vorteile einer großräumigen kollektiven Landwirtschaft gegenüber der parzellierten sind schon vor Marx von den utopischen Sozialisten erkannt worden, und ihre Argumente gelten im Wesentlichen auch heute noch. Auf diesem Gebiet waren die Utopisten große Realisten. Ihr Utopismus begann erst bei der Frage nach dem geschichtlichen Weg zur Kollektivierung. Hier zeigte Marx' Theorie des Klassenkampfes in Verbindung mit seiner Kritik der kapitalistischen Ökonomie den richtigen Weg.

Das Kapital enthält zugleich eine Analyse und eine Synthese des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses. Im zweiten Band wird die innere Mechanik des Wachstums der kapitalistischen Wirtschaft untersucht. Die algebraischen Formeln dieses Bandes zeigen, wie sich aus ein und demselben schöpferischen Protoplasma – der abstrakten menschlichen Arbeit – die Produktionsmittel in Form des konstanten Kapitals, der Arbeitslohn in Gestalt von variablem Kapital und der Mehrwert auskristallisieren, der dann zur Quelle von zusätzlichem konstanten und variablen Kapital wird. Dies ermöglicht dann wiederum die Produktion eines noch größeren Mehrwerts. So sieht die Spirale der erweiterten Reproduktion in allgemeinster und abstraktester Form aus.

Um zu zeigen, wie die verschiedenen materiellen Elemente des Wirtschaftsprozesses, die Waren, in dem ungeplanten Gesamtprozess zueinander finden, oder, genauer gesagt, wie sich das richtige Verhältnis von konstantem und variablem Kapital in den verschiedenen Industriezweigen bei allgemeinem Wachstum der Produktion herstellt, zergliedert Marx den Prozess der erweiterten Reproduktion in zwei voneinander abhängende Teile: diejenigen Betriebe, die Produktionsmittel produzieren, und die Betriebe, die Konsumgüter produzieren. Die Betriebe der ersten Abteilung müssen die Versorgung mit Maschinen, Rohstoffen und Hilfsmaterialien sowohl für sich als auch für alle Betriebe der zweiten Abteilung sicherstellen. Die Betriebe der zweiten Abteilung wiederum müssen sowohl ihren eigenen Bedarf als auch den Bedarf der Betriebe der ersten Abteilung an Konsumgütern decken. Marx analysiert den allgemeinen Mechanismus, mit Hilfe dessen jenes Verhältnis sich durchsetzt, das die Grundlage des dynamischen Gleichgewichts der kapitalistischen Wirtschaft bildet.**

Das Problem der Landwirtschaft und ihrer Beziehungen zur Industrie liegt demnach auf einer ganz anderen Ebene. Stalin hat offenbar einfach die Produktion von Konsumgütern mit der Landwirtschaft verwechselt. Bei Marx gehören die kapitalistischen Landwirtschaftsbetriebe (und nur die kapitalistischen), die Rohstoffe erzeugen, automatisch zur Abteilung I, während die Betriebe, die Konsumgüter produzieren, zur Abteilung II gehören. In beiden Fällen werden sie gemeinsam mit den Industrieunternehmen gruppiert. Besonderheiten der landwirtschaftlichen Produktion, die sie zur Industrie insgesamt in Widerspruch bringen, werden erst im dritten Band untersucht.

Die erweiterte Reproduktion vollzieht sich in Wirklichkeit nicht nur mit Hilfe des Mehrwerts, der von den Arbeitern in der Industrie und in der kapitalistischen Landwirtschaft produziert wird, sondern auch mit Hilfe neuer, externer Ressourcen: denen des vorkapitalistischen Dorfes, der unterentwickelten Länder, der Kolonien usw. Die Aneignung von Mehrwert aus dem Dorf und aus den Kolonien wiederum vollzieht sich durch ungleichen Tausch, erpresste Abgaben (hauptsächlich Steuern) oder schließlich über Kredite (Spareinlagen, Anleihen usw.). Historisch verbinden sich alle diese Ausbeutungsformen in verschiedener Proportion und spielen eine ebenso große Rolle wie die Mehrwertextraktion in »reiner« Form; die Intensivierung der kapitalistischen Ausbeutung geht mit ihrer Expansion Hand in Hand. Aber mit Hilfe der Marxschen Formeln, die uns hier interessieren, wird der konkrete Wirtschaftsprozess sorgsam seziert; die kapitalistische Reproduktion wird von allen vorkapitalistischen Elementen und von den Übergangsformen getrennt, die diesen Prozess begleiten, die ihn speisen und auf deren Kosten er sich ausdehnt. Mit den Marxschen Formeln wird ein chemisch reiner Kapitalismus konstruiert, der so niemals existiert hat und auch heute nirgendwo existiert. Aber gerade deshalb machen diese Formeln die Haupttendenzen eines jeden Kapitalismus kenntlich, doch eben die des Kapitalismus und nur des Kapitalismus.

Jeder, der mit dem Kapital vertraut ist, weiß, dass weder der erste, noch der zweite, noch der dritte Band eine Antwort auf die Frage geben kann, wann und in welchem Tempo die proletarische Diktatur die Kollektivierung der Landwirtschaft durchführen kann. Alle diese Fragen und viele andere sind nie in Büchern beantwortet worden und können aufgrund ihres Charakters auch nicht in Büchern beantwortet werden.*** Im Grunde genommen unterscheidet sich Stalin in nichts von einem Kaufmann, der sich von Marx' einfachster Formel G-W-G (Geld-Ware-Geld) Aufschluss darüber erhoffte, was und wann er kaufen und verkaufen soll, um den größten Gewinn zu erzielen. Stalin verwechselt einfach theoretische Verallgemeinerungen mit praktischen Rezepten, ganz davon zu schweigen, dass sich Marx' theoretische Verallgemeinerungen auf ein völlig anderes Problem beziehen.

Aber warum bringt Stalin dann die Formeln der erweiterten Reproduktion ins Spiel, von denen er offensichtlich nichts versteht? Stalins eigene Erklärung dafür ist so unnachahmlich, dass wir sie wörtlich zitieren müssen:

»In der Tat, die marxistische Theorie der Reproduktion lehrt, dass die moderne [?] Gesellschaft sich nicht entwickeln kann, ohne jahraus, jahrein zu akkumulieren, Akkumulation aber ist unmöglich, ohne dass jahraus, jahrein eine erweiterte Reproduktion stattfindet. Das ist klar und verständlich.«

Klarer kann man das nicht sagen. Nur lehrt das nicht die marxistische Theorie; das ist vielmehr Gemeingut der bürgerlichen Politischen Ökonomie, deren Quintessenz. »Akkumulation« als Voraussetzung der Entwicklung der »modernen Gesellschaft« – das ist genau die große Idee, die die Vulgärökonomie von allen schon in der klassischen Politischen Ökonomie enthaltenen Elementen der Arbeitswertlehre gereinigt hat. Die Theorie, die Stalin »aus der Schatzkammer des Marxismus hervorzuholen« vorschlägt, ist ein Allgemeinplatz, der nicht nur Adam Smith mit Bastiat verbindet, sondern auch den letzteren mit dem amerikanischen Präsidenten Hoover. Den Terminus »moderne Gesellschaft« – nicht kapitalistische, sondern »moderne« – gebraucht Stalin, um die Marxschen Formeln auch auf die »moderne« sozialistische Gesellschaft anwenden zu können. »Das ist klar und verständlich.« Und Stalin fährt fort:

»Unsere zentralisierte sozialistische Großindustrie entwickelt sich gemäß der marxistischen Theorie der erweiterten Reproduktion [!], denn [!!] sie nimmt alljährlich an Umfang zu, akkumuliert und schreitet mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts.«

Die Industrie entwickelt sich gemäß der marxistischen Theorie – unsterbliche Formel! –, gerade so, wie der Hafer gemäß Hegels Dialektik wächst. Für den Bürokraten ist die Theorie eine Verwaltungsformel. Aber das ist nicht der Kern der Sache. »Die marxistische Theorie der Reproduktion« bezieht sich auf die kapitalistische Produktionsweise. Stalin spricht aber von der Sowjetindustrie, die er ohne jede Einschränkung als sozialistisch bezeichnet. Stalin sagt also, dass sich die »sozialistische Industrie« nach der Theorie der kapitalistischen Reproduktion entwickelt. Wir sehen, wie unvorsichtig Stalin in die »Schatzkammer des Marxismus« hinein langt. Wenn die Reproduktionstheorie, die auf den Gesetzen der anarchischen Produktion beruht, zwei Wirtschaftsprozesse, einen anarchischen und einen geplanten, umfassen soll, dann wird doch die Bedeutung der sozialistischen Planwirtschaft auf Null reduziert. Doch das ist erst der Anfang; es kommt noch besser.

Die schönste Perle, die Stalin der Schatzkammer entnommen hat, ist das von uns hervorgehobene Wörtchen »denn«: Die sozialistische Industrie entwickelt sich gemäß der Theorie der kapitalistischen Industrie, »denn sie nimmt alljährlich an Umfang zu, akkumuliert und schreitet mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts.« Arme Theorie! Unselige Schatzkammer! Unglücklicher Marx! Heißt das etwa, die marxistische Theorie sei eigens geschaffen worden, um die Notwendigkeit jährlicher Riesenfortschritte zu begründen? Wie steht es dann mit jenen Perioden, in denen die kapitalistische Industrie sich im »Schneckentempo« entwickelt? Für diese Fälle gilt die Marxsche Theorie offenbar nicht. Aber die gesamte kapitalistische Produktion entwickelt sich in Aufschwungs- und Krisenzyklen, das heißt, sie schreitet nicht nur mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts, sondern sie stagniert auch und geht zurück. Es sieht also so aus, als werde das Marxsche Schema der kapitalistischen Entwicklung, zu deren Erklärung es entwickelt wurde, nicht gerecht, entspreche aber voll und ganz der sich mit Riesenschritten entwickelnden sozialistischen Industrie. Ist das nicht seltsam? Jedenfalls schreitet Stalin, nachdem er Engels' Ratschläge für die Nationalisierung des Bodens beiseite gefegt und nebenbei noch Marx grundsätzlich korrigiert hat, vorwärts… mit Siebenmeilenstiefeln, und zerstampft dabei die Formeln des Kapitals wie Nussschalen.

Der verblüffte Leser wird fragen, was Stalin mit all dem bezwecke. Ach! Wir können nicht mehrere Stufen auf einmal nehmen, besonders wenn wir mit unserem Theoretiker kaum Schritt halten können. Etwas Geduld, und alles wird sich aufklären.

Unmittelbar nach der eben zitierten Passage fährt Stalin fort:

»Aber unsere Großindustrie umfasst nicht die gesamte Volkswirtschaft. Im Gegenteil, in unserer Volkswirtschaft überwiegt noch immer die kleine Bauernschaft. Kann man sagen, dass sich unsere kleinbäuerliche Wirtschaft nach dem Prinzip [!] der erweiterten Reproduktion entwickelt? Nein, das kann man nicht sagen. Unsere kleinbäuerliche Wirtschaft [ist] in ihrer Masse… nur selten imstande, selbst die einfache Reproduktion zu bewerkstelligen. Kann man unsere sozialisierte Industrie in einem beschleunigten Tempo weiterentwickeln angesichts einer solchen landwirtschaftlichen Basis, wie sie die kleinbäuerliche Wirtschaft bildet…? Nein, das kann man nicht.«

Daraus folgt: Die totale Kollektivierung ist notwendig.

Diese Passage ist noch besser als die zuvor zitierte. Die einschläfernde Banalität der Darstellung wird immer wieder durch das Feuerwerk einer waghalsigen Ignoranz unterbrochen. Entwickelt sich die bäuerliche, das heißt die einfache Warenwirtschaft nach den Gesetzen der kapitalistischen Wirtschaft? Nein, antwortet unser Theoretiker grimmig. Es ist klar: das Dorf lebt nicht nach Marx. Das muss korrigiert werden. Stalin versucht in seiner Rede, die kleinbürgerlichen Theorien über die Stabilität der bäuerlichen Wirtschaft zu widerlegen. Da er sich aber inzwischen im Netz der marxistischen Formeln verheddert hat, gibt er eben jenen Theorien nur eine allgemeinere Form. In Wirklichkeit umfasst die Theorie der erweiterten Reproduktion, Marx zufolge, die kapitalistische Wirtschaft als Ganzes – nicht nur die Industrie, sondern auch die Landwirtschaft – nur eben in ihrer reinen Form, das heißt ohne vorkapitalistische Relikte. Und Stalin, der aus irgendeinem Grund weder das Handwerk, noch die Hausindustrie berücksichtigt, stellt die Frage: »Kann man sagen, dass sich unsere kleinbäuerliche Wirtschaft nach dem Prinzip [!] der erweiterten Reproduktion entwickelt? Nein«, antwortetet, »das kann man nicht sagen«. Stalin wiederholt also, mit anderen Worten und in allgemeinster Form, die Behauptung der bürgerlichen Ökonomen, dass sich die Landwirtschaft nicht gemäß dem »Prinzip« der Marxschen Theorie der kapitalistischen Produktion entwickelt. Wäre es nicht besser, nach all dem zu schweigen? Die marxistischen Agrarwissenschaftler haben geschwiegen, als sie diese schamlose Verhöhnung der Marxschen Lehre mit anhören mussten. Dabei hätte der sanfteste Kommentar folgendermaßen lauten müssen: Verlasse sofort das Rednerpult und erdreiste dich nicht, von Dingen zu reden, von denen du nichts verstehst!

Wir aber werden dem Beispiel der marxistischen Agrarwissenschaftler nicht folgen; wir werden nicht schweigen. Ignoranz, die über Macht verfügt, ist so gefährlich wie ein Wahnsinniger mit einem Rasiermesser.

Die Formeln in Marx' zweitem Band sind keine Leit-»Prinzipien« für den sozialistischen Aufbau, sondern objektive Verallgemeinerungen der kapitalistischen Entwicklung. Diese Formeln, die von den Besonderheiten der Landwirtschaft abstrahieren, widersprechen deren Entwicklung keineswegs, sondern beziehen sie als kapitalistische Landwirtschaft ein.

Das einzige, was man im Rahmen der Formeln des zweiten Bandes über die Landwirtschaft sagen kann, ist, dass sie zur Sicherung der erweiterten Reproduktion ein zureichendes Quantum landwirtschaftlicher Rohstoffe und Konsumgüter voraussetzen. Wie aber soll das Verhältnis von Industrie und Landwirtschaft aussehen? Wie in England oder wie in Amerika? Beide Typen passen nämlich in den Rahmen der Marxschen Formeln. England importiert Konsumgüter und Rohstoffe, Amerika hingegen exportiert sie. Da gibt es keinen Widerspruch zu den Formeln der erweiterten Reproduktion, denn die sind überhaupt nicht an einen nationalen Rahmen gebunden und weder einem nationalen Kapitalismus noch gar dem Sozialismus in einem Lande angepasst

Wenn die Menschen in Zukunft synthetische Nahrung und synthetische Rohstoffe herstellen würden, so würde die Landwirtschaft vollkommen überflüssig und durch neuartige chemische Industriezweige ersetzt. Würden dann die Formeln der erweiterten Reproduktion ihre Geltung verlieren? Sie würden in dem Maße ihre volle Geltung behalten, in dem kapitalistische Produktions- und Verteilungsformen bestehen blieben.

Die Landwirtschaft des bürgerlichen Russland, in dem die Bauern die Mehrheit bildeten, deckte nicht nur den Bedarf der expandierenden Industrie, sondern ermöglichte auch bedeutende Exporte. Ihre Entwicklung führte zu einer Stärkung der Kulaken-Oberschicht und zu einer Schwächung der bäuerlichen Unterschicht, die mehr und mehr proletarisiert wurde. Trotz aller ihrer Besonderheiten entwickelte sich die Landwirtschaft also auf kapitalistischen Grundlagen nach eben jenen Formeln, mit denen Marx die kapitalistische Wirtschaft als ganze – und nur diese –charakterisiert hat.

Stalin möchte gern den Schluss ziehen, dass man »den sozialistischen Aufbau [nicht] auf zwei verschiedenen Grundlagen basieren [kann]: auf der… vereinigten sozialistischen Großindustrie und auf der… völlig zersplitterten und äußerst rückständigen bäuerlichen kleinen Warenwirtschaft«. In Wirklichkeit beweist er genau das Gegenteil. Wenn die Formeln der erweiterten Reproduktion gleichermaßen für die kapitalistische wie für die sozialistische Wirtschaft gelten – also für die »moderne Gesellschaft« überhaupt–, dann ist es vollkommen unverständlich, warum man die Wirtschaft nicht auf der Basis des gleichen Gegensatzes von Stadt und Land weiterentwickeln kann, auf der doch der Kapitalismus eine so viel höhere Stufe erreicht hat. In Amerika entwickeln sich die gigantischen Trusts auch heute noch Seite an Seite mit den landwirtschaftlichen Farmen. Diese Farmwirtschaft schuf die Basis für die amerikanische Industrie. Nebenbei gesagt, haben sich unsere Bürokraten mit Stalin an der Spitze noch bis gestern offen an dem Modell der amerikanischen Landwirtschaft orientiert: unten der reiche Farmer, oben die zentralisierte Industrie.

Das ideale Austausch-Gleichgewicht ist die Voraussetzung der abstrakten Formeln des zweiten Bandes. Aber die Planwirtschaft der Übergangsperiode zerstört, obwohl sie sich auf das Wertgesetz stützt, diese Gleichgewichtsbedingung auf Schritt und Tritt; sie etabliert zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen, vor allem zwischen Industrie und Landwirtschaft, den ungleichen Tausch. Der entscheidende Hebel der zwangsweisen Akkumulation und planmäßigen Umverteilung ist der Staatshaushalt. Je mehr die Wirtschaft sich entwickelt, desto mehr wird er an Bedeutung zunehmen. Die Kreditfinanzierung reguliert die Verbindungen zwischen dem Staatshaushalt als dem Instrument der zwangsweisen Akkumulation und den Marktprozessen, soweit sie noch wirksam sind. Weder die Finanzierung aus Haushaltsmitteln, noch die geplante oder halb geplante Kreditfinanzierung, die in der UdSSR die erweiterte Reproduktion sicherstellen, kann man mit Hilfe der Formeln des zweiten Bandes erklären. Die Bedeutung dieser Formeln liegt nämlich darin, dass sie von Budgets, Plänen, Zöllen, überhaupt von allen Formen planmäßiger Staatsintervention absehen und die durch das Wertgesetz bewirkte Gesetzmäßigkeit im blinden Kräftespiel des Markts kenntlich machen. Würde der sowjetische Binnenmarkt »befreit« und das Außenhandelsmonopol beseitigt, so würde der Austausch zwischen Stadt und Land viel ausgeglichener werden; gleichzeitig käme es zu einer Akkumulation auf dem Dorf – natürlich in den Händen der Kulaken. Sehr bald würde sich zeigen, dass die Marxschen Formeln auch für die Landwirtschaft gelten. Auf diesem Wege würde sich Russland in kürzester Zeit in eine Kolonie verwandeln, die der industriellen Entwicklung anderer Länder dienen würde.

Um die totale Kollektivierung zu rechtfertigen, operierte die Stalin-Schule (auch das gibt es) mit dem primitiven Vergleich der Entwicklungsraten von Industrie und Landwirtschaft. Wie gewöhnlich machte Molotow das besonders grobschlächtig. Im Februar 1929 erklärte er vor der Moskauer Bezirkskonferenz der Partei: »Die Landwirtschaft ist in den letzten Jahren deutlich hinter dem Entwicklungstempo der Industrie zurückgeblieben… In den letzten drei Jahren nahm der Wert der Industrieproduktion um mehr als 50 Prozent zu, während der Wert der Agrarproduktion nur um etwa 7 Prozent wuchs.«

Die Gegenüberstellung dieser beiden Entwicklungsraten zeugt von ökonomischem Analphabetismus. Was als Landwirtschaft bezeichnet wird, schließt im Grunde genommen alle Wirtschaftszweige ein. Die Entwicklung der Industrie hat immer und in allen Ländern das spezifische Gewicht der Landwirtschaft reduziert. Man braucht nur daran zu erinnern, dass die metallurgische Produktion wertmäßig in den Vereinigten Staaten fast der Produktion der Landwirtschaft gleichkommt, während sie in der UdSSR nur ein Achtzehntel der landwirtschaftlichen Produktion ausmacht. Das zeigt, dass unsere Industrie trotz des gewaltigen Aufschwungs der letzten Jahre den Kinderschuhen noch nicht entwachsen ist. Um den Gegensatz von Stadt und Land zu überwinden, den die bürgerliche Entwicklung schuf, muss sich die sowjetische Industrie im Vergleich zum Dorf zunächst noch sehr viel rascher entwickeln, als das bei der Industrie im bürgerlichen Russland jemals der Fall war.

Der gegenwärtige Bruch zwischen der Landwirtschaft und der Staatsindustrie ist nicht durch eine zu schnelle Entwicklung der Industrie entstanden – die Führungsrolle der Industrie ist ein welthistorisches Faktum und eine notwendige Bedingung des Fortschritts –, sondern durch die zu langsame Entwicklung unserer Industrie; sie ist nicht weit genug entwickelt, um die Landwirtschaft auf das erforderliche Niveau heben zu können. Unser Ziel ist natürlich die Überwindung der Widersprüche zwischen Stadt und Land, aber Mittel und Wege dazu haben nichts mit der Angleichung der Entwicklungsraten von Industrie und Landwirtschaft zu tun. Die Mechanisierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung vieler ihrer Zweige wird zur Folge haben, dass das spezifische Gewicht der eigentlichen Landwirtschaft abnimmt. Das Mechanisierungstempo hängt von der Produktivkraft unserer Industrie ab. Entscheidend für die Kollektivierung ist nicht, ob die metallurgische Industrie in den letzten Jahren ihren Ausstoß um einige Prozent erhöht hat, sondern dass unsere Pro-Kopf-Produktion an Metall immer noch unbedeutend ist. Die Zunahme der Kollektivierung wäre nur dann gleichbedeutend mit einem Wachstum der Landwirtschaft, wenn die Kollektivierung auf einer technischen Revolution der landwirtschaftlichen Produktion beruhte. Doch das Tempo einer solchen technischen Umwälzung hängt vom gegenwärtigen spezifischen Gewicht der Industrie ab. Das Tempo der Kollektivierung muss mit den materiellen Ressourcen der Industrie in Einklang gebracht werden, nicht mit abstrakten statistischen Angaben über ihr Entwicklungstempo.

Im Interesse theoretischer Klarheit muss noch hinzugefügt werden, dass die Beseitigung der Widersprüche zwischen Stadt und Land, das heißt die Hebung der landwirtschaftlichen Produktion auf wissenschaftlich-industrielles Niveau, nicht den Triumph der Marxschen Formeln in der Landwirtschaft bedeuten würde, wie Stalin sich das einbildet, sondern, im Gegenteil, das Ende ihrer Geltung auch im industriellen Bereich. Denn die erweiterte sozialistische Reproduktion vollzieht sich nicht nach den Formeln des Kapital, dessen Triebfeder die Jagd nach Profit ist. Aber für Stalin und Molotow ist das alles wohl zu kompliziert.

Zum Schluss sei noch einmal wiederholt, dass die Kollektivierung ein praktisches Unternehmen ist, um den Kapitalismus zu überwinden, nicht ein theoretisches, das seiner Expansion dient. Deshalb helfen die Marxschen Formeln hier überhaupt nicht weiter. Die praktischen Möglichkeiten der Kollektivierung hängen von den produktiv-technischen Ressourcen ab, die für eine agrarische Großproduktion zur Verfügung stehen, und von dem Grad, in dem die Bauern bereit sind, von der individuellen zur kollektiven Landwirtschaft überzugehen. Letzten Endes hängt diese subjektive Bereitschaft von demselben materiell-produktiven Faktor ab: Der Sozialismus ist für den Bauern nur attraktiv wegen der Vorteile einer hoch technisierten Kollektivwirtschaft. Stalin will dem Bauern anstelle eines Traktors die Formeln aus dem zweiten Band anbieten. Aber der Bauer ist ehrlich; er mag nicht über etwas streiten, wovon er nichts versteht.

* Wir zitieren Stalins Rede nach dem offiziellen Protokoll, das von der Partei bis heute geheimgehalten wird.

** Die Formeln des zweiten Bandes berücksichtigen nicht die Industrie- und Handelskrisen, die Bestandteil des kapitalistischen Gleichgewichtsmechanismus sind. Diese Formeln sollen zeigen, wie das erforderliche Gleichgewicht mit, ohne und trotz Krisen erreicht wird.

*** In den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution mussten wir uns mehr als einmal gegen naive Versuche wenden, bei Marx Antworten auf Fragen zu finden, die er nicht einmal hatte stellen können. Lenin hat mich darin immer unterstützt. Ich führe zwei Beispiele an, die zufällig mitstenographiert worden sind:

»Wir zweifelten nicht daran«, erklärte Lenin, »dass wir, nach einem Ausspruch des Gen. Trotzki, experimentieren müssen, einen Versuch machen müssen. Wir machten uns an ein Werk, an das bisher noch niemand in der Welt in diesem Ausmaß gegangen ist.« (18. März1919) Und einige Monate später sagte er: »Gen. Trotzki hatte völlig recht, als er sagte, das stehe nicht in Büchern, die wir als Leitfaden benutzen könnten, es ergebe sich auch in gar keiner Weise aus der sozialistischen Weltanschauung, es beruhe auf niemandes Erfahrung, sondern müsse durch unsere eigene Erfahrung bestimmt werden.« (8. Dezember 1919)

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