Leo Trotzki‎ > ‎Sowjetunion‎ > ‎

Leo Trotzki 19390902 Stalin – Hitlers Quartiermeister

Leo Trotzki: Stalin – Hitlers Quartiermeister

[Nach Schriften 1.2. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur 1936-1940. Hamburg 1988, S. 1256-1264. Dort mit umfangreichen Fußnoten]

Coyoacán, 2. September 1939

Zwanzig Jahre lang waren die Kräfte des deutschen Imperialismus gespannt wie eine Stahlfeder. Als diese Kräfte in Bewegung kamen, verlor man in den Kanzleien der Diplomatie den Kopf. Die auf München folgenden langwierigen und fruchtlosen Verhandlungen zwischen London-Paris und Moskau stellten die zweite Stufe ihrer Verwirrung dar. Der Autor dieser Zeilen hat das Recht, auf die Erklärungen zu verweisen, die er seit 1933 ständig in der Weltpresse abgab, dass das eigentliche Ziel der Außenpolitik Stalins der Abschluss eines Abkommens mit Hitler ist. Aber unsere bescheidene Stimme war zu schwach, um die »Lenker der Geschicke« zu überzeugen. Stalin setzte seinen primitiven Schwank »Der Kampf für die Demokratie« in Szene, und dieser Posse wurde, zumindest teilweise, geglaubt. Beinahe bis zum letzten Tag äußerte Augur, der offiziöse Londoner Korrespondent der New York Times, immer wieder seine feste Zuversicht, dass ein Abkommen mit Moskau vor der Tür stehe. Als peinliches Lehrstück ist es zu verstehen, dass das Stalinsche Parlament den deutsch-sowjetischen Pakt genau an demselben Tag ratifizierte, als Deutschland in Polen einfiel!

Die allgemeine Kriegsursache ist in den unversöhnlichen Widersprüchen des Weltimperialismus zu finden. Der zündende Funke jedoch, der die Kriegshandlungen auslöste, war der Abschluss des deutsch-sowjetischen Pakts. Während der vorangegangenen Monate wiederholten Goebbels, Förster und andere deutsche Politiker hartnäckig, dass der »Führer« den »Tag« der entscheidenden Aktion bald nennen würde. Jetzt ist völlig augenscheinlich, dass der Tag gemeint war, an dem Molotow seine Unterschrift unter den deutsch-sowjetischen Pakt setzte. Niemand kann dies aus der Geschichte tilgen!

Es geht nicht darum, dass der Kreml sich den totalitären Staaten näher fühlt als den demokratischen. Dadurch wird die Wahl des Kurses in der internationalen Politik nicht bestimmt. Trotz all seiner Abneigung gegenüber dem Sowjetregime versuchte der konservative Parlamentarier Chamberlain mit allen Mitteln, ein Bündnis mit Stalin zu erlangen. Zu diesem Bündnis kam es nicht, weil Stalin vor Hitler Angst hat. Und diese Angst entspringt nicht dem Zufall. Die Rote Armee ist enthauptet. Das ist keine Redensart, sondern eine tragische Tatsache. Woroschilow ist eine Attrappe. Seine Autorität wird durch totalitäre Propaganda künstlich geschaffen. Auf schwindelnder Höhe bleibt er, was er immer war – ein beschränkter Hinterwäldler, ohne Weitblick, ohne Kultur, ohne militärische Fähigkeiten und sogar ohne Talent als Administrator. Das ganze Land weiß das. Im »gesäuberten« Kommandeurkader bleibt kein einziger Name, dem die Armee Vertrauen schenken könnte. Der Kreml fürchtet die Armee und fürchtet Hitler. Stalin braucht Frieden – um jeden Preis.

Bevor Hohenzollern-Deutschland unter den Schlägen der Kriegskoalition zusammenbrach, versetzte es dem zaristischen Regime einen tödlichen Schlag; überdies setzten die westlichen Alliierten auf die russische liberale Bourgeoisie und unterstützten sogar die geplante Palastrevolution. Die gegenwärtigen Machthaber im Kreml fragen sich besorgt: Könnten sich diese historischen Ereignisse nicht in gewandelter Form wiederholen? Sie zweifeln nicht daran, dass eine Koalition aus Frankreich, Großbritannien, der UdSSR, Polen, Rumänien mit der langfristig sicheren Unterstützung durch die USA am Ende Deutschland mit seinen Bundesgenossen zerschlagen könnte. Doch bevor er zum Hades fährt, könnte Hitler der UdSSR eine solche Niederlage zufügen, dass es die Kreml-Oligarchie den Kopf kostet. Wäre die Sowjet-Oligarchie imstande, sich im militärischen Interesse der UdSSR zu opfern oder wenigstens zu beschränken, würde sie nicht die Armee enthauptet und demoralisiert haben.

Die »prosowjetischen« Einfaltspinsel jeglicher Couleur halten es für selbstverständlich, dass der Kreml Hitler stürzen will. Die Sache liegt anders. Ohne Revolution ist der Sturz Hitlers undenkbar. Eine siegreiche Revolution in Deutschland würde das Selbstgefühl der Volksmassen in der UdSSR gewaltig steigern und das Fortbestehen der Moskauer Tyrannei unmöglich machen. Der Kreml zieht den Status quo vor, mit Hitler als Verbündetem.

Die Berufsapologeten des Kreml, die durch den Pakt überrumpelt worden sind, versuchen es jetzt mit dem Argument, unsere früheren Prognosen hätten auf ein offensives Militärbündnis zwischen Moskau und Berlin abgestellt, während in Wirklichkeit nur ein pazifistischer »Nichtangriffs«-Pakt abgeschlossen worden sei. Klägliche Wortklauberei! Nie haben wir von einem offensiven Militärbündnis im direkten Sinne des Wortes gesprochen. Wir sind im Gegenteil immer von der Tatsache ausgegangen, dass die internationale Politik des Kreml von den Selbsterhaltungsinteressen der neuen Aristokratie bestimmt war, von ihrer Furcht vor der Bevölkerung, von ihrer Unfähigkeit, einen Krieg zu führen. Für die Sowjetbürokratie hat jede internationale Konstellation Wert, so lange sie dadurch von der Notwendigkeit befreit wird, sich auf die Kraft der bewaffneten Arbeiter und Bauern zu stützen. Und dennoch ist der deutsch-sowjetische Pakt ein Militärbündnis im vollen Sinne des Wortes, denn er dient den Zielen eines imperialistischen Angriffskrieges.

Im letzten Krieg wurde Deutschland vor allem wegen des Mangels an Rohstoffen und Lebensmitteln besiegt. In diesem Krieg rechnet Hitler sicher auf die Rohstoffe der UdSSR. Nicht zufällig ist dem Abschluss des politischen Pakts ein Handelsabkommen vorausgegangen. Moskau denkt nicht daran, es aufzukündigen. Im Gegenteil unterstrich Molotow in seiner gestrigen Rede vor dem Obersten Sowjet vor allem die außergewöhnlichen wirtschaftlichen Vorteile der Freundschaft mit Hitler. Der Nichtangriffspakt, d. h. eine passive Haltung angesichts deutscher Aggression, ist somit durch einen Vertrag über wirtschaftliche Zusammenarbeit im Interesse der Aggression abgerundet. Der Pakt sichert Hitler die Möglichkeit, sich Russlands Rohmaterialien genauso zunutze zu machen, wie sich Italien bei seinem Angriff auf Abessinien des russischen Öls bediente. Während die Militärexperten Englands und Frankreichs in Moskau auf der Seekarte der Ostsee die denkbaren militärischen Operationen zwischen der UdSSR und Deutschland studierten, stellten genau zur gleichen Zeit deutsche und sowjetische Experten Überlegungen an, mit welchen Maßnahmen man die Seewege der Ostsee sichern könnte, um die Handelsbeziehungen in Kriegszeiten weiterzuführen.

Die Besetzung Polens wird gemeinsame Grenzen mit der Sowjetunion und eine Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen zur Folge haben. In Mein Kampf erklärt Hitler, ein Bündnis zweier Staaten, das nicht auf Kriegführung abziele, sei »unsinnig und unfruchtbar«. Der deutsch-sowjetische Pakt ist weder unsinnig noch unfruchtbar – er ist ein Militärbündnis mit verteilten Rollen: Hitler führt die militärischen Operationen durch, und Stalin spielt die Rolle seines Quartiermeisters. Und da gibt es immer noch Leute, die ernstlich behaupten, das Ziel des heutigen Kremls sei die Weltrevolution!

Als Tschitscherin Außenminister in Lenins Regierung war, betrachtete die sowjetische Außenpolitik den internationalen Sieg des Sozialismus als eigentliche Aufgabe und versuchte, nebenbei die Widersprüche zwischen den Großmächten für die Verteidigung der Sowjetrepublik auszunutzen. Mit Litwinow wurde das Programm der Weltrevolution durch die Sorge um die Erhaltung des Status quo mit Hilfe eines Systems der »kollektiven Sicherheit« verdrängt. Als sich jedoch der Gedanke der »kollektiven Sicherheit« seiner teilweisen Verwirklichung näherte, wurde der Kreml durch die damit verbundenen militärischen Verbindlichkeiten alarmiert. Litwinow wurde durch Molotow ersetzt, der durch nichts anderes gebunden ist als die nackten Interessen der herrschenden Kaste. Tschitscherins, d. h. im wesentlichen Lenins Politik, wurde schon vor langer Zeit als politische Romantik bezeichnet. Eine gewisse Zeitlang galt Litwinows Politik als die realistische Politik. Die Politik Stalin-Molotows ist eine Politik des unverfälschten Zynismus.

»Aber in der Einheitsfront der friedliebenden Staaten, die sich tatsächlich der Aggression entgegenstellen, gebührt der Sowjetunion kein anderer Platz als einer in den ersten Reihen«, erklärte Molotow vor drei Monaten im Obersten Sowjet. Welch schreckliche Ironie erklingt jetzt aus diesen Worten! Die Sowjetunion hat ihren Platz im hinteren Glied jener Staaten eingenommen, die der Kreml bis gestern als Aggressoren anprangerte.

Die unmittelbaren Vorteile, die der Kreml-Regierung aus ihrem Bündnis mit Hitler erwachsen, sind durchaus real. Die UdSSR hält sich aus dem Krieg heraus. Hitler setzt die Kampagne für eine »Großukraine« von seiner gegenwärtigen Tagesordnung ab. Japan bleibt isoliert. Mit dem Aufschub der Bedrohung durch Krieg an der Westgrenze kann man konsequenterweise gleichzeitig ein Nachlassen des Drucks an der Ostgrenze, vielleicht sogar den Abschluss eines Abkommens mit Japan erwarten. Höchstwahrscheinlich wird Hitler außerdem Moskau, im Austausch für Polen, Handlungsfreiheit gegenüber den baltischen Anrainern geben. So groß indessen die »Vorteile« sein mögen, sie sind bestenfalls episodischer Natur, und ihre einzige Garantie besteht in Ribbentrops Unterschrift unter einem »Fetzen Papier«.

In der Zwischenzeit setzt der Krieg die Fragen von Leben und Tod für Völker, Staaten, Regimes und herrschende Klassen auf die Tagesordnung. Deutschland führt sein Programm, durch Krieg zur Weltherrschaft zu gelangen, in Etappen durch. Mit der Hilfe Englands rüstete es trotz Frankreichs Widerstand auf. Mit der Hilfe Polens isolierte es die Tschechoslowakei. Mit der Hilfe der Sowjetunion möchte es nicht nur Polen versklaven, sondern auch die alten Kolonialreiche zerstören. Wenn es Deutschland gelänge, mit Hilfe des Kremls aus dem jetzigen Krieg als Sieger hervorzugehen, dann würde das für die Sowjetunion eine tödliche Gefahr bedeuten. Erinnern wir uns daran, dass Dimitrow, der Sekretär der Komintern, unmittelbar nach dem Münchner Abkommen – zweifellos auf Stalins Befehl – einen genauen Terminplan der zukünftigen Eroberungsoperationen Hitlers verkündete. Die Besetzung Polens ist diesem Plan zufolge für Herbst 1939 vorgesehen. Dann sind an der Reihe: Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, Frankreich, Belgien... Und im Herbst 1941 schließlich soll Deutschland die Offensive gegen die Sowjetunion eröffnen.

Diese Enthüllungen beruhen zweifellos auf Informationen, die die sowjetische Aufklärung beschaffte. Man darf diesen Plan natürlich nicht wörtlich nehmen – der Gang der Ereignisse führt bei allen derartigen Vorhaben zu Abänderungen. Immerhin wird der erste Punkt des Plans – Besetzung Polens im Herbst 1939 gerade durchgeführt. Sehr wahrscheinlich entspricht auch die kurze im Plan vorgesehene Spanne von zwei Jahren zwischen der Zerschlagung Polens und der Offensive gegen die Sowjetunion ungefähr der Wirklichkeit. Im Kreml verstehen sie das ganz gewiss. Nicht umsonst haben sie viele Male verkündet: »Der Friede ist unteilbar«. Wenn Stalin dessen ungeachtet Hitlers Quartiermeister spielt, so besagt das, dass die herrschende Kaste nicht mehr imstande ist, über den Tag hinaus zu denken. Ihr Rezept ist das aller dem Untergang geweihter Regimes: »Nach uns die Sintflut.«

Es wäre ein vergebliches Unterfangen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt den Verlauf des Krieges und das Schicksal seiner diversen Teilnehmer voraussagen zu wollen einschließlich derjenigen, die noch die Illusion hegen, sie könnten der Weltkatastrophe entgehen. Kein Mensch vermag die gigantische Arena und das unendlich verwickelte Gewirr materieller und moralischer Kräfte vollständig zu überblicken. Nur der Krieg selbst wird den Ausgang des Krieges entscheiden. Einer der Hauptunterschiede zwischen dem gegenwärtigen und dem letzten Krieg ist das Radio. Erst jetzt habe ich mir darüber Rechenschaft gegeben, da ich hier in Coyoacán, einem Vorort der mexikanischen Hauptstadt, die Reden im Berliner Reichstag und die – bisher sparsamen – Nachrichten aus London, Paris und New York empfange. Dank dem Radio werden die Leute in viel geringerem Maße als im letzten Krieg von der totalitären Information ihrer eigenen Regierung abhängig sein, und sie werden viel schneller von den Stimmungen in anderen Ländern angesteckt werden. Auf diesem Gebiet hat der Kreml bereits eine große Niederlage erlitten. Die Komintern, das wichtigste Instrument des Kremls zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in anderen Ländern ist in Wirklichkeit das erste Opfer des deutsch-sowjetischen Pakts. Das Schicksal Polens ist noch nicht entschieden. Aber die Komintern ist bereits eine Leiche. Auf der einen Seite wird sie von den Patrioten, auf der anderen von den Internationalisten aufgegeben. Morgen werden wir zweifellos im Radio die Stimmen der kommunistischen Führer von gestern vernehmen, wie sie im Interesse ihrer diversen Regierungen, in allen Sprachen der zivilisierten Welt, auch auf russisch, den Verrat des Kreml offenbaren werden.

Die Zersetzung der Komintern versetzt im Bewusstsein der breiten Massen in der Sowjetunion selbst der Autorität der herrschenden Kaste sicherlich einen nicht wieder gutzumachenden Schlag. Auf diese Weise wird die Politik des Zynismus, die zur Stärkung der Position der stalinistischen Oligarchie beitragen sollte, in Wirklichkeit die Stunde ihres Untergangs schneller herbeiführen.

Der Krieg wird vieles und viele ins Wanken bringen. List und Tücke, Fälschungen und Verrat werden nichts nützen, um diesem strengen Gericht zu entgehen. Jedoch würde mein Artikel gänzlich missverstanden werden, wenn er zu der Schlussfolgerung führte, dass alles, was die Oktoberrevolution an Neuem für das Leben der Menschheit geschaffen hat, beiseite gefegt würde. Ich bin zutiefst vom Gegenteil überzeugt. Die neue Wirtschaftsform wird, wenn sie von den unerträglichen Fesseln der Bürokratie befreit ist, nicht nur diese Feuerprobe bestehen, sondern auch als Grundlage einer neuen Kultur dienen, von der wir hoffen, dass sie dem Krieg auf immer ein Ende setzen wird.

Kommentare