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Clara Zetkin 19110102 Ein proletarisches Muster der Bürgertugend

Clara Zetkin: Ein proletarisches Muster der Bürgertugend

[Nach „Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“, 21. Jahrgang Nr. 7, 2. Januar 1911, S. 99 f.]

An anderer Stelle finden unsere Leserinnen einen kurzen Bericht über die Vorgänge, die in Frankreich der bürgerlichen Klassenjustiz den Vorwand zu einem empörenden Bluturteil geliefert haben, das kaum seinesgleichen findet. Dieses Urteil enthüllt die wohlüberlegte Infamie, die kalte Grausamkeit, deren die ausbeutenden und herrschenden Klassen in dem Kampfe für ihren Profit und ihre Macht fähig sind. Es hat aber auch den Anlass gegeben zur Bekundung höchster Bürgertugend auf Seiten des Proletariats. Die Witwe des im Streik erschlagenen Streikbrechers Dongé hat ihre Stimme zum Protest gegen die Verurteilung des Gewerkschaftssekretärs Durand erhoben, den die bürgerlichen Gerichte mittels Fälschungen der Tatsachen und unter Missachtung aller Rechtsgarantien zum Mörder gestempelt haben. Diese schlichte Proletarierin richtete an den Verteidiger des zum Tode verurteilten Streiführers folgendes Schreiben, das den Wert eines geschichtlichen Dokuments zur Beurteilung der Auffassung, der sittlichen Ideale beanspruchen darf, die in der kämpfenden Arbeiterklasse lebendig sind:

Nach Beendigung der Assisenverhandlung fühle ich mich gedrängt, mich denen anzuschließen, die gegen das Urteil protestieren. Ich habe während der Verhandlung mich als Privatbeteiligte darauf beschränkt, das Recht meiner Kinder, der Opfer des an meinem unglücklichen Mann begangenen Totschlages, zu verteidigen und es mir versagt, auch nur die geringste Beschuldigung gegen jemanden zu erheben. Aber ich möchte keinen Anteil an der Verurteilung Durands zum Tode haben, die umso unbegreiflicher ist, als er wohl gleich anderen, die straflos geblieben sind, unbedachte Worte geäußert, aber doch nicht selbst Gewalt geübt hat. Ich bin selbst Arbeiterin und wünsche das Gnadengesuch für Durand zu unterzeichnen. Es wäre mir ein Trost in meinem Unglück, zu hoffen, dass alle Welt verstehen wird, dass ich, indem ich für meine Töchterchen vor Gericht pflichtgemäß Ersatzansprüche stellte, doch auch die Pflicht empfand, nicht zu vergessen, dass ich selbst der Welt der Arbeiter angehöre, die so mühselig um ein Stückchen Brot mehr und um etwas harte Behandlung weniger ringen."

In ihrer Eigenschaft als internationale Sekretärin der sozialistischen Frauen hat Genossin Zetkin Frau Dongé nachstehendes Schreiben gesandt:

Werte Bürgerin Dongé!

Der Brief, in welchem Sie gegen die Verurteilung Durands protestieren, hat ein lautes Echo in der kämpfenden Arbeiterklasse aller Länder gefunden. Ganz besonders sind es überall die proletarischen Frauen, soweit sie durch den Sozialismus zum Klassenbewusstsein erweckt sind, welche die Gesinnung würdigen, die ihn diktiert hat.

In Ihren persönlichen Gefühlen aufs Tiefste getroffen, als Weib und Mutter verwundet, haben Sie sich doch in Ihrem Urteil nicht beirren lassen. Sie weisen die Gemeinschaft mit der verächtlichen Komödie der bürgerlichen Klassenjustiz zurück, die unter der augenblicklichen Leitung des verräterischen Strebers Briand und entsprechend seiner Weisung ihre volle Schärfe gegen die organisierten Arbeiter kehrt und nicht davor zurückscheut, sich mit dem Blute eines Unschuldigen beflecken zu wollen. Etwa um den Tod eines Proletariers zu sühnen? Mitnichten, lediglich um Rache dafür zu nehmen, dass eine kleine kapitalistische Clique für die Höhe ihres Profits gezittert hat, und um ein Exempel zu statuieren, das im Interesse der gesamten ausbeutenden Minorität die für Brot und Freiheit kämpfenden Sklaven des Kapitals schrecken soll.

Der größte persönliche Schmerz hat Sie nicht einen Augenblick blind für diese Zusammenhänge, nicht blind dafür gemacht, dass der wahre Schuldige an den tragischen Ereignissen, die sich anlässlich des Streiks in Havre abgespielt haben, die kapitalistische Ordnung ist, die nicht bloß das Unternehmertum in erbarmungsloser Profitlüsternheit gegen das Proletariat hetzt, sondern auch im Proletariat selbst im Ringen ums Brot nur zu oft noch die Solidarität nicht emporkeimen lässt, die alle Ausgebeuteten miteinander verbindet, so dass der Bruder dem Bruder entgegentritt. So ist Ihnen aus der Klarheit und Stärke Ihres Klassenempfindens als Proletarierin die moralische Kraft erwachsen, selbstverleugnend alle persönlichen Gefühle zum Schweigen zu bringen und aus Ihrer großen Trauer heraus die Stimme edler, ungetrübter Menschlichkeit und Protest gegen das feierllch beschlossene Verbrechen des Justizmordes zu erheben. Sie haben damit gezeigt, welcher Abgrund des Empfindens und der Auffassung die Welt der kämpfenden, die hehrsten menschlichen Ideale erstrebenden Proletarier und der skrupellosen, blutdürstigen Welt der ausbeutenden Kapitalisten und ihrer politischen Herrschaftsinstrumente im Staate scheidet. Sie haben durch Ihr Beispiel bekundet, welche moralische Erhebung, welches Heldentum der Menschlichkeit an dem Stamme des proletarischen Klassenbewusstseins erblühen.

Ich weiß mich in Übereinstimmung mit den sozialistischen Frauen der 16 verschiedenen Nationalitäten, die durch das Internationale Frauensekretariat verbunden sind, wenn ich Ihnen die aufrichtigste und wärmste Sympathie dafür ausspreche. Wir alle, die wir als Kämpferinnen gegen die knechtende Macht des Kapitals in Reih’ und Glied der proletarischen Emanzipationsarmee stehen, danken Ihnen für den Beweis hoher Bürgertugend. Er ehrt die Klasse, welche heute die Vorkämpferin der Menschheitsbefreiung und Menschheitserhebung ist, die Klasse, mit der wir uns eins fühlen; er ehrt unser Geschlecht, das wir zur bewussten Aktion für dieses gewaltige Ziel rufen. Wir grüßen in Ihnen die Bürgerin, die Fleisch vom Fleisch und Bein vom Bein der glorreichen Frauen der Kommune ist, die für die Freiheit gelitten und gekämpft haben und für sie als Heldinnen zu sterben verstanden. Wir solidarisieren uns vollständig mit Ihrem Protest und erheben wie Sie mit den klassenbewussten Arbeitern aller Länder unsere Stimme dagegen, dass die kapitalistische Klassenjustiz der dritten Republik, die mir dem Blute der heldenhaften Kommunekämpfer gekittet worden ist, die gewohnheitsmäßigen Niedermetzelungen von Streikenden und Demonstranten durch den kaltblütigen Justizmord eines Vorkämpfers der organisierten Arbeiter vervollständigt und übertrumpft.

Es lebe die internationale Solidarität des kämpfenden Proletariats! Es lebe der internationale Sozialismus!

Klara Zetkin,

internationale Sekretärin der sozialistischen Frauen

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