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Clara Zetkin 19180900 An die Konferenz über die Stellungnahme unserer Presse zu den Bolschewiki

Clara Zetkin: An die Konferenz über die Stellungnahme unserer Presse zu den Bolschewiki1

[Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL 5. Nach Für die Sowjetmacht. Artikel, Reden und Briefe 1917-1933, S. 75-115]

Werte Genossen!

Da es mir leider unmöglich ist, meinen Wunsch zu verwirklichen und an der Aussprache über die Stellungnahme unserer Presse zu der gewaltigen historischen Tat der Bolschewiki teilzunehmen, gestatten Sie mir einige schriftliche Ausführungen dazu.

Mit Entschiedenheit und Sympathie bin ich für die Bolschewiki eingetreten, je klarer und befestigter in mir die Erkenntnis wurde von dem großen geschichtlichen Wesen und der weitreichenden Bedeutung des kühnen bolschewistischen Unterfangens. Ich erblicke und bewerte in diesem den zur Faust zusammengeballten, den Tat gewordenen Willen, sozialistische Auffassung, sozialistische Grundsätze von den gesellschaftlichen Dingen aus dem luftigen Reich der Ideen in die harte Wirklichkeit zu übertragen, die Entwicklung eines ganzen großen Volkes auf dem kürzesten Wege planmäßig, bewusst in der Richtung zur sozialistischen Ordnung zu orientieren. Das unter den gehäuften, beispiellosen Schwierigkeiten, wie sie in der gegebenen Lage durch die Verschlingung von Weltkrieg und Bürgerkrieg geschaffen werden, und in einer Zeit, wo das Proletariat und seine führende sozialistische Vorhut in den bisher für die Internationale ausschlaggebenden Ländern bewiesen haben, dass der idealgläubige, selbstvertrauende, opferbereite Wille fehlt, Erkenntnis zur Tat zu verdichten.

Der Zwang äußerer Umstände, in erster Linie der Zwang der Zensur, hat verhindert, dass ich vor der breitesten Öffentlichkeit meine Anschauungen darlegen und begründen konnte. Während die Zensur in der „Leipziger Volkszeitung" die Angriffe sozialistischer Kritiker gegen die Bolschewiki zugelassen hatte, hat sie meine Antwort darauf verboten, hat sie ebenso ganze Artikel und einzelne Absätze von Artikeln der „Frauen-Beilage" gestrichen, die eine Stellungnahme zu den Vorgängen in Russland enthielten.

Ich empfinde meine Gebundenheit um so schmerzlicher, je mehr es meines Dafürhaltens Pflicht ist, schärfsten Widerspruch gegen die Kritik zu erheben, die von einigen Genossen an den Bolschewiki geübt wird.

Als „unlogisch denkende Frau" vermag ich nicht, mir die „männliche Logik" des Genossen Breitscheid zu eigen zu machen, nach der in den Anfangsstadien der bolschewistischen Machtergreifung Kritik zulässig und heilsam gewesen sein soll, um erst im Verlaufe der weiteren Entwicklung der Dinge schädlich und verhängnisvoll zu werden.2 In der strittigen Frage handelt es sich nicht am den oder jenen Einzelvorgang, der unangenehm auf die unrevolutionären, sanft evolutionistisch gestimmten Nerven fällt oder der tiefgründigster theoretischer Schulung als ein Fehler erscheint. Das Werk der Bolschewiki muss als Ganzes betrachtet und gewürdigt werden, als die konsequente Auswirkung eines zielsetzenden Willens. Der heutige Stand der revolutionären Dinge in Russland ist die konsequente Fortentwicklung der Novemberrevolution3, ist das Ausleben der Grundsätze, von denen ihre Vorkämpfer und Führer geleitet wurden, der Taktik und Methoden, die sie zur Anwendung brachten. Um diese Grundsätze, um diese Taktik und diese Methoden geht der Streit. Damit aber nicht um russische Dinge allein, sondern um die Sache des internationalen Sozialismus, des Weltproletariats. Soll der heldenhafte Kampf der Bolschewiki zur Verwirklichung des sozialistischen Gesellschaftsideals beispielgebend sein, sollen die von diesen Genossen betätigten Grundsätze und Methoden für die Praxis der sozialistischen Parteien in allen Ländern maßgebend werden, zu einer Revision der dort seither geltenden Grundsätze und Taktik führen? Das ist die Frage, die – gefesselt durch die Zensur – auf dem Grund aller Auseinandersetzungen über die Bolschewiki und ihr Werk liegt. Ein Ringen also um Klarheit, um Selbstverständigung über Wesen und Weg des proletarischen Emanzipationskampfs, ein Ringen, das geradezu Pflicht ist. Das Recht zur Kritik der Bolschewiki ist unbestritten, sehr anfechtbar dagegen dünkt mich die Art, der Inhalt, die Tendenz der geübten Kritik.

Um das Kleine vorauszunehmen: Es berührt – um mich milde auszudrücken – unsympathisch, es fällt unangenehm auf, mit welcher Eilfertigkeit und welchem Eifer scharfe Angriffe gegen die Bolschewiki gerichtet worden sind. Zur Verteidigung sozialistischer Grundsätze, die diese Genossen durch ihr Tun kompromittieren, im Interesse des internationalen Sozialismus, so erklärt man. Sehr schön, aber schade, dass man von Eilfertigkeit und Eifer zur Wahrung sozialistischer Grundsätze auch gar nichts gespürt hat, als die Reichstagsfraktion am 4. August [1914] die sozialistischen Grundsätze schmachvoll verriet. Auch damals ging es um den internationalen Sozialismus, ging es um Sein oder Nichtsein der sozialistischen Internationale. Die Genossen Kautsky, Bernstein, Ströbel haben damals nicht die dringende Pflicht empfunden, „ihr Gewissen zu salvieren", mehr noch, Karl Kautsky veröffentlichte in der „Neuen Zeit" die berüchtigte Theorie der Zweideutigkeit und der Charakterlosigkeit, dass die sozialistischen Grundsätze im Frieden eines seien und die sozialistischen Grundsätze im Kriege ein anderes. Für den Frieden: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Für den Krieg: Proletarier aller Länder, mordet euch! Zur Salvierung seines Gewissens, das jetzt für russische Dinge so empfindlich geworden ist, proklamierte er für die deutschen Dinge die Pflicht des Schweigens und des Sichfügens, als Reichstagsfraktion und Parteivorstand, die sozialistischen Grundsätze feig und frech zugleich mit Füßen tretend, das deutsche Proletariat an den Wagen des Imperialismus spannten. Auch von Genossen Ströbels Sorge um die sozialistischen Grundsätze hat man in dem von ihm mitredigierten „Vorwärts" herzlich wenig gelesen.

Wer mitverantwortlich an der untilgbaren Schmach des 4. August in Deutschland ist, wer damals in der Stunde höchster Gefährdung sozialistischer Grundsätze darauf verzichtet hat, wegweisend vor das Proletariat zu treten, wer damals und in den nächsten schwersten Monaten aus einem Führenden zu einem Irreführenden geworden ist, dem steht es meines Dafürhaltens nicht wohl an, sich zum Richter über die angebliche Preisgabe und Kompromittierung sozialistischer Grundsätze durch die Bolschewiki aufzuwerfen. Das um so weniger, als in dem, was Genosse Ströbel das „totale Debacle" der auswärtigen bolschewistischen Politik nennt,4 ein großer Teil des aktiven Verbrechens der Regierungssozialisten und der passiven Mitschuld der Unabhängigen Sozialdemokraten Deutschlands enthalten ist. Nebenbei: In grundsätzlicher Bewertung des Bolschewismus lässt sich Genosse Ströbel kaum noch mit der stärksten Lupe von den Herren Scheidemann und Stampfer unterscheiden, und man fragt erstaunt: Warum so viel Lärm um nichts? Wozu die Spaltung?

Ich würde diese Dinge – abgesehen von dem zuletzt erwähnten Umstand – als Angelegenheit des persönlichen Geschmacks nicht erwähnt haben, jedoch ihr sachlicher Untergrund drückt nach meiner Empfindung auf die Kritik, die Stellungnahme der Genossen. Er ist gleichsam der nichtangeschlagene, aber mitschwingende Unterton. Ihre Ausführungen tragen weniger den Charakter einer tiefdringenden, objektiven Prüfung und Würdigung der geschichtlichen Umstände, unter denen in Russland die Bolschewiki die Macht eroberten und diese Macht brauchen, eine Prüfung, aus der Theorien, Formeln abgeleitet werden können. Sie sind vielmehr zum großen Teil, ja überwiegend, Auslegung und Unterlegung von Formeln, an denen das geschichtliche Leben gemessen wird und denen es sich anpassen soll. Und zwar stehen Auslegung und Unterlegung durchaus im Banne der Auffassung von Taktik und Methoden des Kampfes um den Sozialismus, wie sie sich in Deutschland in der Ära jener parlamentarischen Betätigung der Sozialdemokratie herausgebildet hatte, die mehr und mehr zum unfruchtbaren Nichts-als-Parlamentarismus, zum parlamentarischen Kretinismus, geworden war und in der Politik des 4. August ihre Krönung fand. Die Auffassung von der Taktik und den Methoden der Arbeit in einer Zeit der Evolution, der Stagnation, angewendet auf den Kampf in einer Zeit der Revolution, des elementaren Ausbruchs und des Miteinander-Messens sozialer Kräfte. Diese Kritik ist beherrscht von dem Glauben, dass „die alte, bewährte, sieggekrönte Taktik der deutschen Sozialdemokratie" für ewige Zeiten und für alle geschichtlichen Umstände die alleinseligmachende Taktik sei. In ihr ergreift der Tod das Leben, und hier liegt der Zusammenhang, der zwischen ihr und dem grundsatzlosen Wanken und Schwanken, dem Herumirren und Herumtasten ihrer Väter beim Kriegsausbruch besteht.

So wird auch ein auffälliger Umstand erklärlich. Die Kritik, die im Namen der sozialistischen Grundsätze und des internationalen Proletariats nicht rasch genug den Mund auftun konnte, als die Bolschewiki im kühnen Ansturm die politische Macht erobert hatten, sie schwieg beharrlich während der ersten beiden Etappen der russischen Revolution. Waren die russischen Sozialisten und Sozialrevolutionäre aller Richtungen, offiziell oder offiziös, aktiv oder passiv, nicht auch an diesen beiden Etappen beteiligt? Forderte das verschiedene grundsätzliche und taktische Verhalten der verschiedenen Fraktionen zur bürgerlichen Demokratie nicht auch zur gründlichen Überprüfung heraus, zur Untersuchung und Wertung der russischen Verhältnisse, der Einflüsse und Einwirkungen des Weltkriegs usw. usw.? Namentlich in der Periode der Regierung Kerenski, in der die Menschewiki und Sozialrevolutionäre der Rechten zusammen mit der bürgerlichen Demokratie in aller Form die Staatsmacht und die Verantwortlichkeit für die Fortentwicklung der Revolution übernommen hatten. Mussten die damaligen Vorgänge, ihre Konsequenzen und Lehren nicht auch von großer Bedeutung für das Proletariat aller Länder sein? Sowohl das Eingehen der rechtsgerichteten Sozialisten und Sozialrevolutionäre in die „eine Demokratie" wie das grundsätzliche Abseitsstehen der Bolschewiki? Damals war Wirklichkeit und Tat jene grundsätzliche Auffassung geworden, die Genosse Martow von der Aufgabe der Sozialisten, des Proletariats in der gegebenen Situation entwickelt hat.5 Eine Auffassung, die mehr oder minder klar und bestimmt auch die der deutschen Kritiker des Bolschewismus zu sein scheint. In weiser, kluger „Selbstbeschränkung" handelten die Sozialisten und Sozialrevolutionäre der Rechten gemäß jener Äußerung von Karl Marx aus dem Jahre 1847, dass, solange die bürgerliche Produktionsweise sich noch nicht ausgelebt habe, die materiellen Voraussetzungen für die Verwirklichung des sozialistischen Programms noch nicht gegeben seien, der politische Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie „nur vorübergehend, nur ein Moment im Dienst der bürgerlichen Revolution selbst sein" wird. Sie stellten sich bewusst in den Dienst der Revolution, die ihrer Überzeugung nach bürgerlich war und bürgerlich bleiben würde.

Und die Folgen? Die Menschewiki und die rechten Sozialrevolutionäre wurden aus Mitarbeitern der bürgerlichen Demokratie mehr und mehr zu deren Gefangenen, aus treibenden zu bremsenden Kräften der Revolution. Diese verlor rasch ihren Inhalt, ihr Leben. Ihre Existenz ward die papierne [Deklamation] schöner Phrasen, denen eine bürgerlich-reaktionäre Praxis zur Seite ging. Die auswärtige Politik der „einen Demokratie" setzte keine Taten hinter die Formel des Friedens ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen mit Wahrung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Sie liquidierte nicht die verhängnisvolle imperialistische Erbschaft des Zarismus, trieb vielmehr im Schlepptau der imperialistischen Bourgeoisie weiter und hielt die Bündnisse der imperialistischen Regierungen für heiliger als die internationale Solidarität der Proletarier, des Volks der Arbeit aller Länder. Diese Politik endete mit dem „totalen Debacle" der verunglückten Sommeroffensive, die den unglückseligen Gewaltfrieden von Brest-Litowsk vorbereitet hat.

Auf dem Felde der Heimatpolitik bot „die reine Demokratie" ebenfalls Phrasen, papierne Entschließungen statt Taten. Die Scheu vor einer Antastung des bürgerlichen Eigentums legte der Reformarbeit zur Erneuerung, zum Wiederaufbau der zerrütteten sozialen Wirtschaft lähmende Fesseln an. Die brennend nötige Durchführung der Agrarreform kam über das Stadium ewiger, verschleppender Vorbereitungen nicht hinaus. Die nicht minder dringlichen sozialen Reformen zugunsten des industriellen Proletariats blieben in den ersten schwächlichen Anfängen stecken. Der Kampf gegen den Hunger und die Auswucherung der breiten Volksmassen ward ohne Energie geführt. Die feierlich beschworenen politischen Grundrechte der Demokratie: Presse-, Vereins- und Versammlungsrecht, verloren ihre Geltung für die murrenden, die rebellischen Arbeiter und Bauern, die sie führenden Sozialisten und Sozialrevolutionäre. Die Gefängnisse waren überfüllt – nicht mit den offenen und heimlichen zaristischen Konterrevolutionären, nein – mit den aufsässigen „landesverräterischen" Bolschewiki und ihren Anhängern. Das Blut streikender Arbeiter rötete das Straßenpflaster vieler Städte. Maschinengewehre sollten die revolutionären Proletarier Petrograds niederzwingen. Tausende und aber Tausende Arbeiter und Bauern im Waffenrock fielen an der Front, nicht als Opfer der deutsch-österreichischen Mordwaffen, sondern als „Meuterer", von „vaterländischen" Kugeln dahin gestreckt. Die Konstituante, das Prunkstück der „einen Demokratie", entschwand in die Ferne.

Im Laufe weniger Monate nahm die Herrschaft der „reinen Demokratie" immer unverfälschter die Züge einer Gewaltherrschaft der Bourgeoisie an, einer Gewaltherrschaft, die ihre Spitze nicht gegen die Vergangenheit kehrte und ihre Wiederkehr in modernisiertem Kostüm unmöglich machte, sondern gegen die Zukunft, gegen das Proletariat, gegen die Weiterentwicklung, das Ausleben der Revolution als proletarischer, als sozialer Revolution. Die Revolution war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Es fehlte ihr der glühende Odem, der stürmische Pulsschlag, der stahlharte Wille, den unter den gegebenen geschichtlichen Umständen nur das größte Ziel, nur der Kampf für die Veränderung der sozialen Welt zu geben vermag. Die „eine Demokratie" hatte im Laufschritt den Weg über die Diktatur der Bourgeoisie bis dicht vor die Einsetzung des Diktators zurückgelegt. Nach kaum vier Monaten ihrer Herrschaft über die Staatsgewalt stand die Frage nicht mehr: Demokratie oder Diktatur, sondern in ihrer einfachsten, greifbaren Nacktheit: Diktatur Kerenskis im bürgerlichen Gehrock oder Diktatur Kornilows in militärischer Uniform. Schon griffen gierende Hände nach dem Strang, um die Sterbeglocke der Revolution zu läuten.

Man sollte meinen, dass diese Entwicklung der Dinge die Sozialisten zu einer ernsten Prüfung, einer gründlichen kritischen Durchleuchtung geradezu herausgefordert hätte. Gewiss: Es kam ihr nicht die weit zielende, gewaltige Tragweite der bolschewistischen Tat zu, durch die Eroberung der politischen Macht sozialistische Ideen in soziale Wirklichkeit zu verwandeln. Jedennoch war sie von überragender Bedeutung. Ein klassisches Beispiel größten Stils von dem Zusammenwirken zwischen Proletariat und Bourgeoisie zum Ziel der Durchführung einer bürgerlichen Revolution, der Verwirklichung der Demokratie und sozialer Reformen im Rahmen der bürgerlichen Ordnung. Ein klassisches Beispiel größten Stils von der Anwendung der Grundsätze, der Taktik und Methoden jener Sozialisten – namentlich der russischen Menschewiki –, nach deren geschichtlicher Auffassung die große revolutionäre Schlacht am Birkenbaum zwischen Proletariat und Bourgeoisie nur unter dieser Bedingung ausgefochten werden darf: dass die materiellen Voraussetzungen dafür gegeben sind in einer so weit vorgeschrittenen Reife der kapitalistischen Produktionsweise, dass für die Mehrzahl in der Gesellschaft die objektive Notwendigkeit zum subjektiven Wollen wird, die politische Macht als Hebel des wirtschaftlichen „Umsturzes" zu gebrauchen.

Die Anwendung dieser Grundsätze, dieser Taktik und Methoden war unter den dafür außerordentlich günstigen Umständen erfolgt, die die russische Revolution geschaffen hatte. Die kritische Untersuchung ihrer geschichtlichen Berechtigung, ihres Einflusses auf die Gestaltung der Dinge in Russland, ihrer weiteren Rückwirkung auf den internationalen Befreiungskampf des Proletariats fiel zusammen mit der Frage, ob die geschichtliche Stunde nicht die Betätigung anderer Grundsätze, einer geänderten Taktik, neuer Kampfesmethoden gefordert hätte. Trotz alledem nicht das sanfteste kritische Säuseln! Prüfung und Kritik sind offenbar in der Meinung unterblieben, dass zur richtigen Bewertung eine sehr genaue Kenntnis aller einschlägigen Vorgänge mit ihrem geschichtlichen Um und Auf nötig sei, ein gründliches und umfassendes Wissen aller in Betracht kommenden Verhältnisse. Warum haben sich unsere Kritiker bei Beurteilung des Bolschewismus nicht an diese Reserve gebunden gefühlt? Warum haben sie ihm nicht Recht sein lassen, was nach ihnen der Praxis des Menschewismus billig war? Warum haben sie bei der Kritik des „Bolschewismus" nicht auf die Praxis zurückgegriffen, obgleich sie nachweisbar ein Moment, ein sehr wichtiges Moment gewesen ist, aus dem die Bolschewiki werbende Kraft gewannen und zur führenden Partei wurden, die die Gefolgschaft breitester Massen erhielt? Davon zu schweigen, dass kein Sturm der Entrüstung über die „Missachtung demokratischer Grundsätze" aufbrauste, als sich unter der Regierung Kerenski der Terror bourgeoiser Klassendiktatur gegen die Bolschewiki kehrte. Das Schweigen sicherlich nicht deshalb, weil die Bolschewiki damals „zufällig nicht in der Regierung waren", um mutatis mutandis ein Wort zu gebrauchen, mit dem Genosse Bernstein zum – Protest wider die Gewaltmaßregeln der Bolschewiki gegen die Menschewiki usw. aufruft.

Unsere Kritiker der bolschewistischen Auffassung und Politik haben als Beweis für deren irrtümliches, verhängnisvolles Wesen den demütigenden Frieden von Brest-Litowsk herangezogen und seine vielgestaltigen schlimmen Rückwirkungen auf die Entwicklung Russlands, auf die gesamte internationale Situation. Sie können sich dabei in der Hauptsache mit den Scheidemännern brüderlich in die Arme sinken. Ich setze ihrer Verurteilung das Folgende entgegen. Die Bolschewiki haben den Frieden von Brest-Litowsk schließen und unterzeichnen müssen; allein, gerade sie tragen keine Verantwortung für seinen Charakter, seinen Inhalt, seine Konsequenzen.

Die Bolschewiki fanden sich Auge in Auge mit einer gegebenen und nicht mit einer freigewählten geschichtlichen Situation. Die Desorganisation des Heeres, auf die Spitze getrieben durch das Taumeln von Niederlage zu Niederlage im Weltkrieg, die Zerrüttung der Wirtschaft, der weit fortgeschrittene Auflösungsprozess des Zarismus, insbesondere die von diesem herbeigeführte Korruption und Fäulnis der ganzen Staatsmaschinerie, die aus der Summe namenloser Leiden geborene tiefe, unwiderstehliche Friedenssehnsucht der breitesten Massen des Proletariats und der Bauernschaft: All dieses und noch anderes stellte die Bolschewiki vor den Zwang eines Friedensschlusses. Ihr unerbittlicher Krieg gegen den Krieg, ihr unbeirrbarer Friedenswille waren eine starke Quelle ihrer Kraft unter diesen Massen. Auch abgesehen von dem zwingenden Bedürfnis, alle verfügbaren sozialen Kräfte und Mittel der revolutionären Erneuerung Russlands durch den Sozialismus nutzbar zu machen, mussten sie die imperialistische Hinterlassenschaft des Zarismus liquidieren. Und sie mussten das unter den außerordentlich ungünstigen Bedingungen, die die Regierung Kerenski mit ihrer zwar wortschönen, aber grundsatzlosen, tatfeigen Kriegspolitik dafür geschaffen hatte.

In der Tat: Hätte diese Regierung der „reinen Demokratie" Ernst mit dem demokratischen Frieden gemacht, hätte sie den proklamierten Grundsätzen Taten folgen lassen, so würde sie nicht nur den für Russland erreichbaren günstigsten Frieden durchgesetzt, sondern erheblichen Druck auf die Entente ausgeübt haben, zu einem allgemeinen Frieden zu kommen. Nach den stürmischen Julitagen, nach dem mutigen, erfolgreichen Aufstand des Petrograder Proletariats, war das Russland der Revolution für alle in den Weltkrieg verwickelten Staaten das große unbekannte X, politisch und militärisch. Man erwartete von ihm die Entfesselung gewaltigster Kräfte, die auch die Erneuerung der militärischen Macht in sich begriff. Der kriegerische Glanz der freiheitsbegeisterten Sansculottenheere könnte in Russland neu aufleuchten. Es ist Hanswurstgeheimnis, dass unter dem Einfluss solcher Erwartungen beim Einsetzen der russischen Offensive die sagenhafte Juliresolution der Reichstagsmehrheit6 zusammengeschustert worden ist. Die Regierung Kerenski hat die Gunst der Stunde nicht genutzt, sie hat das unbekannte X, das revolutionäre Russland, das alle Staaten in ihre Rechnung einsetzen mussten, nicht in die Waagschale des Friedens geworfen. In der Offensive enthüllte sie dafür die Ohnmacht des militärischen Russlands, seine Wertlosigkeit als Gegner, seine Schwäche als Bundesgenosse. Nicht Trotzki, Kerenski hat in Wirklichkeit den General Hoffmann ermutigt, die säbelrasselnde Faust als Symbol des Brest-Litowsker Friedens auf den Verhandlungstisch niedersausen zu lassen.

Gewiss: Getreu seinen Grundsätzen hat der Bolschewismus die vorgefundene Desorganisation der Armee bewusst, planmäßig gesteigert. Er ging dabei von der – meiner Überzeugung nach richtigen – Auffassung aus, dass dieses Herrschaftsinstrument der besitzenden Klassen über die Produktionsmittel des Todes und des Lebens sich nicht im Handumdrehen, nur durch die proletarische Besitzergreifung der Staatsgewalt, in ein Werkzeug der Befreiung verwandeln könne.

Er handelte nach der von Marx festgestellten Erfahrung der Pariser Kommunarden, dass das revolutionäre Proletariat sich im Kampfe sein eigenes Heer schaffen müsse. Erst nach der Zertrümmerung des alten Herrschaftsinstruments können die Bolschewiki sich anschicken, ein neues Schwert zur Verteidigung der Revolution gegen innere und äußere Feinde zu schmieden. Es ist ihr geschichtliches Verhängnis, nicht ihr Verschulden, dass die Organisation der Roten Armee unter ungeheuren Schwierigkeiten erfolgt; nach Jahren eines mörderischen, zermürbenden Krieges, mitten im Kampf mit übermächtigen inneren und äußeren Feinden, angesichts der modernen Entwicklung der technischen Kriegsmittel und der Kriegswissenschaft. Jedennoch: Ein Zurückschrecken vor diesen Schwierigkeiten wäre gleichbedeutend gewesen mit dem Verzicht auf die Revolution. Dieser Rubikon musste überschritten werden.

Unbestritten, dass die damit von den Bolschewiki geschaffene Situation in ihrem Schoße die Gefahr trug, zunächst den Imperialismus der Zentralstaaten zu stärken. Dass die Gefahr sich furchtbar austobende Wirklichkeit wurde, ist die große, kaum tilgbare Schuld des internationalen Proletariats, in erster Linie des deutschen und französischen Proletariats, von denen das eine seine halbhundertjährige sozialistische Schulung, das andere die glorreiche Tradition seiner Revolutionen schmählich preisgegeben hat. Ich muss davon absehen, die vielverschlungenen geschichtlichen Gründe dafür auch nur anzudeuten. Es stimmt nicht, was behauptet worden ist, nämlich dass die Bolschewiki in ihrem Dogmenfanatismus nur gegen die Abstraktion eines internationalen Imperialismus gekämpft und damit einem Sieg des deutsch-österreichischen Imperialismus den Weg geebnet, das Tor geöffnet hätten. Sie haben getan, was Pflicht jeder sozialistischen Partei eines Landes ist. Sie haben mit dem furchtbaren Gegner in der sehr konkreten Gestalt ihres eigenen nationalen Imperialismus gerungen, Brust an Brust, auf Tod und Leben. Und sie haben den heimischen Imperialismus in die Knie gezwungen, seine Waffen zerbrochen. Allein, ungeachtet aller revolutionären Energie und Kühnheit, konnten sie nicht das Unmögliche vollbringen, auch noch den Imperialismus in den Zentral- wie in den Ententestaaten zu überwältigen. Das war und ist die Aufgabe der Sozialisten, der Proletarier dieser Länder. Ein Teil der Sozialisten hat diese Aufgabe gewissenlos im Stich gelassen, ein anderer Teil hat sich als ohnmächtig erwiesen, sie erfolgreich durchzuführen, die proletarischen Massen sind fast durchweg Gladiatoren ihres nationalen Imperialismus geblieben. Der deutsch-österreichische Imperialismus konnte in Brest-Litowsk nur triumphieren, weil die Proletarier dieser Länder ihn stützten, statt ihn zu bändigen, und weil die französischen und englischen Proletarier darauf verzichtet hatten, revolutionär kämpfend ihren Imperialismus an den grünen Friedenstisch zu treiben. Dieser Umstand hat dem Brest-Litowsker Frieden das Gesicht und das Leben gegeben. Die Bolschewiki, die Revolution der russischen Proletarier und Bauern müssen für die Tat- und Unterlassungssünden des internationalen Proletariats büßen. Sie haben das Recht, aus Angeklagten zu Anklägern zu werden, aus Angegriffenen zu Angreifern.

Allerdings, unsere gestrengen kritisierenden Doktoren im Marxismus machen es den Bolschewiki zum besonderen Vorwurf, dass sie das revolutionäre Russland nicht reisig bewehrt hinter seinen Friedenswillen gestellt haben, dass ihr „Umsturz", dass namentlich ihre Friedenspolitik von dem Glauben an eine Weltrevolution des Proletariats getragen war, das doch endlich international zu der Erkenntnis erwachen würde, es müsse unter seiner eigenen geschichtlichen Losung in den Kampf ziehen. Sein Schlachtruf könne und dürfe nicht länger bürgerlich-nationalistisch lauten: Imperialismus der Zentralstaaten gegen den Imperialismus der Entente; er sei vielmehr: Hie Sozialismus gegen Imperialismus. Dieser felsenfeste Glaube, der aus der Reife der gesellschaftlichen Dinge auf die Reife der Menschen für die Revolution schloss, war sicherlich ein politischer Rechenfehler. Aber kann der Politiker, insbesondere der revolutionäre Zukunftskämpfer, solch' Berg versetzenden Glaubens etwa weniger entraten als der kühlen Berechnung aller Machtfaktoren, die für und die wider ihn sind? Es gehört zu seinem Wesen, dass auch er am Grabe noch die Hoffnung aufpflanzt.

Die Schlachtfelder des Imperialismus waren ebenso viele blutige Wahrzeichen vom Versagen des internationalen Proletariats, von seinem Verrat an dem Sozialismus und sich selbst. Sie hätten in Verbindung mit dem hartnäckigen Sozialpatriotismus der Mehrheitssozialisten in Deutschland, Frankreich, England, Österreich, in Verbindung mit der Schwäche und Zaghaftigkeit der Minderheiten dort vor der Illusion warnen sollen, dass die Massen revolutionärer seien als die Führer. Aber Hand aufs Herz: Wer von uns hat trotz alledem nicht immer wieder auf den Frieden als Willenstat der Völker, als Frucht der Revolution gehofft? Wenn auch nicht laut und öffentlich, so doch still im Innersten, denn der Glaube an das „Wunder" ist tief in des Menschen Natur eingewurzelt und stirbt erst mit dem Lebenswillen. Außerdem gibt es einen Grad der Überzeugungslosigkeit, der dem Überzeugten, einen Grad der Tatenfurcht, der dem Handelnden unbegreiflich ist.

Die Bolschewiki machten sich also eines verhängnisvollen Rechenfehlers schuldig, das internationale Proletariat bedeckte sich mit nicht zu löschender Schmach. Hätten die Bolschewiki und die von ihnen geführten proletarischen und bäuerlichen Massen diese Schmach teilen sollen, um den Rechenfehler zu vermeiden?

Der Vorwurf ihrer Revolutionsgläubigkeit läuft letzten Endes auf dieses Ansinnen hinaus. Weil in den nichtrussischen Ländern des Weltkriegs die sozialistischen Parteien und proletarischen Massen nicht bereit waren, dem Imperialismus revolutionär handelnd entgegenzutreten, durften die Bolschewiki die Massen des arbeitenden Volkes in Russland nicht zur revolutionären Tat gegen diesen Feind rufen. Sie haben es vorgezogen, kühn zu kämpfen und ehrenvoll der Übermacht zu unterliegen. Dank der Revolution siegreich im Ringen mit dem heimischen Imperialismus, wurden sie von der nichtverbündeten, wohl aber parallel wirkenden Macht des Imperialismus der Zentralmächte und der Entente gezwungen, das revolutionäre Russland unter dem kaudinischen Joch des Brest-Litowsker Friedens hindurchzuführen. Mit banger Unruhe überblickt man die übereinander getürmten Schwierigkeiten, die gehäuften Gefahren, die in der Folge innen und außen für den Bestand, das Ausleben der Revolution geschaffen worden sind. In tiefster Seele aufgewühlt, mit blutendem Herzen, von Empörung geschüttelt, gedenkt man des Schicksals der Revolution in den neugeschaffenen Randstaaten, wo deutsche Proletarier im Bunde mit den Weißgardisten als Landsknechte der besitzenden Klassen die schmachvolle Rolle der weiland Versailler „Ordnungsstifter" übernommen haben. Und während die entsetzliche, furchtbare Tragik dieses Geschehens in Danteschen Höllenwirbeln vorüberbraust, hört man mit schmerzlichem Erstaunen im Reichstag plötzlich Genossen Ledebours Drohung, die Unabhängige Sozialdemokratie werde bei einer etwaigen Mitraillierung der russischen Revolution zu ihrem Schutze das deutsche Proletariat zur eigenen Revolution aufrufen. Künftig, wenn, ja wenn … Diese Drohung klingt melodisch, tatenfroh, allein sie erinnert doch allzu sehr an die auftauenden eingefrorenen Töne aus des seligen Herrn von Münchhausens Posthorn. Sie mahnt unsere Kritiker: Hie Rhodus, hic salta! Auch im eigenen Hause gilt es zu kritisieren, gilt es, für Grundsätze, Taktik und Methoden des Kampfes Lehren zu ziehen. Fanget an! Hier hat man die scharfäugigen Kritiker für bolschewistische Fehler und Schwächen bisher nur als Apologeten dessen kennengelernt, was ist.

Eine andere Gruppe kritischer Angriffe richtet sich gegen die Taktik der splendid isolation, der Preisgabe der Demokratie und ihrer Grundsätze, richtet sich gegen die Methoden der Gewalt, des Terrors der Bolschewiki. Wenden wir uns ihr zu, so blättern wir ein besonders peinliches Kapitel auf aus der ruhmreichen Geschichte der russischen Revolution in ihrer dritten Phase, das Kapitel von dem mörderischen Bruderkrieg, der zwischen den Sozialisten und den Sozialrevolutionären verschiedener Richtung tobt, ein mörderischer Bruderkrieg nicht bloß im figürlichen, sondern im buchstäblichen Sinne des Wortes. Die Attentate der Sozialrevolutionäre gegen Lenin, Urizki und andere führende Bolschewiki bestätigen es furchtbar, wie auch die Bluturteile revolutionärer Tribunale gegen Sozialrevolutionäre. Ein Kapitel, das in milderer Fassung in der Geschichte aller Parteikämpfe wiederkehrt, das in seiner ganzen Härte und Grausamkeit in der Geschichte keiner Revolution fehlt. Es wäre der Größe des historischen Werkes der Bolschewiki, es wäre der Bedeutung und der revolutionären Tugenden der bolschewistischen Führer unwürdig, wollte ich mich mit dem Aussprechen der billigen Weisheit dieser Tatsache bescheiden und verschweigen, dass ich hier auf ihrer Schuldseite manches verzeichnet finde, das mich schmerzt, peinigt, das meines Erachtens hätte vermieden werden können und vermieden werden müssen, manches, was mir unbegreiflich dünkt und das ich missbilligen muss. Jedoch mit subjektiven Gefühlen über Erscheinungen, Maßnahmen, Ereignisse kommt man dem Verständnis des unerbittlichen sozialistischen Bruderkriegs unter der Revolution und um die Revolution nicht näher. Betrachten wir die Situation.

Kein Streit darüber, es ist mehr als bedauerlich, es ist verhängnisvoll, dass sich im Zeichen der Revolution nicht alle sozialistischen und sozialrevolutionären Fraktionen zu einer Macht zusammengefunden haben, dass im Kampf um Grundsätze und Taktik und – seien wir offen – um Macht, Grundsätze durchzusetzen, wertvollste revolutionäre Kräfte zersplittert, gelähmt, ja vernichtet werden. Allein, liegt die Schuld daran wirklich nur an den Bolschewiki, und dürfen wir die Konsequenzen, die diese aus dem gegebenen Stand der Dinge ziehen, schlankweg verurteilen, ohne diesen Stand der Dinge selbst zu prüfen, zu verstehen [zu] suchen? Ich bin außerstande, diese Fragen zu bejahen, wie dies, aus ihrer Stellungnahme zu schließen, die Kritiker des Bolschewismus zu tun scheinen. Es war und ist das Recht, ja die Pflicht der verschiedenen sozialistischen und sozialrevolutionären Parteien, miteinander zu ringen um die geschichtliche Erkenntnis von Ziel, Weg und Tempo der gesellschaftlichen Entwicklung, um die Seelen der Menschen, die deren bewusste, willensstarke Träger sein sollen. In Erfüllung dieser Pflicht haben Menschewiki und Bolschewiki Unvergängliches zur Erweckung, Sammlung und Schulung des industriellen Proletariats geleistet, die Sozialrevolutionäre verschiedener Schattierungen zur Umwandlung der bäuerlichen Massen aus ergebenen Kreuzesträgern in revolutionäre Kämpfer. Der Zusammenbruch des Zarismus, die drängende Notwendigkeit einer radikalen wirtschaftlichen und sozialen Erneuerung Russlands stellte – so könnte man meinen – sie alle vor das Opfer, den Kampf um die Theorie der Revolution hinter die Praxis der Revolution zurücktreten zu lassen. Doch wie? Durfte das sein? War nicht die Theorie die sichere Leiterin für die vollkommenste Praxis der Revolution? So flammte gerade in der Revolution der Bruderkrieg weiter, ja steigerte seine Leidenschaftlichkeit in der glutheißen Atmosphäre, die diese mit der Sprengung der alten sozialen Bindungen, der Entfesselung aller gärenden, brauenden sozialen Kräfte schuf, verschärfte sich, das lockende Ziel vor Augen, taktische Wege zu erproben, Grundsätze schöpferisch werden zu lassen. In den ersten beiden Perioden der Revolution haben die Bolschewiki die harten Konsequenzen davon tragen müssen. Nun hat sich das Blatt gewendet. Die Bolschewiki wurden die führende Macht der Sowjetrepublik, und sie gebrauchen ihre Macht getreu ihrer Überzeugung, nach welchen Grundsätzen und welchen Mitteln die Revolution erhalten und weitergetrieben werden müsse, dem Sozialismus entgegen. Die Menschewiki forderten nach der Novemberrevolution eine Koalitionsregierung, der alle sozialistischen Parteien angehören sollten, mit Ausnahme ausgerechnet der siegreichen Bolschewiki. So besagten Zeitungsnachrichten, die ich nicht auf ihre Richtigkeit kontrollieren konnte. Jedenfalls haben die Menschewiki und rechten Sozialrevolutionäre nach der grundsätzlichen Auffassung gehandelt, von der diese Forderung diktiert worden war.

Überzeugung steht gegen Überzeugung. Die Überzeugung, das Allerheiligste, dem Männer wie Lenin und Trotzki, wie Pawel Axelrod und Martow, Frauen wie Maria Spiridonowa, um nur die zu nennen, ein ganzes Leben hindurch mit Leidenschaft und Selbstverleugnung, mit dem Einsatz ihrer ganzen Persönlichkeit dienen. Es geht hart auf hart. Der Kampf der Überzeugung ist aus einem Ringen der Geister zu einem Ringen um Macht geworden. Um die Macht, die Revolution, wie eine jede der kämpfenden Richtungen sie auffasst und wertet, zu erhalten, zu entwickeln, der Verwirklichung des Sozialismus dienstbar zu machen. Wir alle stehen unter dem schmerzlichen Eindruck, dass die Bolschewiki die anderen sozialistischen und sozialrevolutionären Richtungen mit rücksichtsloser Faust anfassen. Aber können sie anders angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass diese die ungeheuren inneren und äußeren Schwierigkeiten und Gefahren der Stunde steigern, die revolutionären Kräfte zersplittern und – ob sie es wollen oder nicht – der Konterrevolution Wasser auf die Mühle treiben? Vor eine Aufgabe von beispielloser Größe gestellt, von einer Welt von Feinden umlagert, bedarf die junge sozialistische Räterepublik Menschen, Tausender, Hunderttausender, Ungezählter, die zu ihrer Verteidigung das Schwert, die bei dem Neuaufbau der Wirtschaft und Gesellschaft die Kelle führen. Die Bolschewiki finden bei Menschewiki und rechten Sozialrevolutionären statt Mitkämpfern und Mitarbeitern Gegner. Wie verderblich macht sich nicht allein die Sabotage der Intelligenz fühlbar, die ohne die Stellungnahme der nichtbolschewistischen Revolutionäre undenkbar wäre. Gegnerschaft, Feindschaft der nämlichen Richtungen, die sich um der Revolution willen unter Zurückstellung von Grundsätzen und Forderungen mit der bürgerlichen Demokratie zusammengeschlossen hatten und denen nun nach der Linken hin unmöglich zu sein scheint, was ihnen nach der Rechten hin selbstverständlich dünkte. „Wer nicht für mich ist, der ist wider mich!" Wie die Dinge liegen, ist es erklärlich, dass dieses Wort zum Leitmotiv für das Verhalten der Bolschewiki zu den Sozialisten und Sozialrevolutionären der Rechten geworden ist.

Die starke Faust ist überhaupt ein Kennzeichen der bolschewistischen Aktion. Das ist nicht ideal, aber unvermeidlich, ja notwendig. Es verstößt gegen die Gebote der Demokratie, dient aber den Interessen der Demokratie. Soll Demokratie für alle in Russland kraftstrotzende sozialistische Wirklichkeit werden, so können die Bolschewiki sich nicht dem Zwang entziehen, im Kampfe für dieses Ziel vorübergehend die Rechte einzelner Personen und einzelner gesellschaftlicher Gruppen opfern zu müssen.

So will es die Dialektik des Lebens, der Geschichte. Die Demokratie ist zwieschlächtigen Wesens, sie ist Mittel und Weg, aber auch Ziel der geschichtlichen Entwicklung zugleich. Als Ziel der geschichtlichen Entwicklung kann sie in Widerspruch zu sich selbst als Mittel geschichtlicher Entwicklung geraten. Die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft in Russland trägt die Male solchen Widerspruchs. Verletzung und Hinopferung der demokratischen Grundsätze, wohin man blickt, seitdem die Bolschewiki die Staatsmacht erobert haben, so tönen anklagende Stimmen aus Russland, so tadeln unsere Kritiker des Bolschewismus: Durchbrechung der Demokratie von der Auflösung der Konstituante bis zu den Entrechtungen in der Sowjetverfassung und der Erklärung des Massenterrors. Gewiss, aber könnte ohne solche Durchbrechung die Revolution erhalten, könnte sie weitergeführt werden, den Blick unverrückt auf das Ziel des Sozialismus gerichtet, der allein Demokratie für alle verbürgt? Das ist die entscheidende Frage, und sie wird meines Dafürhaltens durch die Umstände verneint, unter denen die Revolution in Russland sich vollzieht.

Die Auflösung der Konstituante erfolgte meiner Meinung nach nicht einmal unter Umständen, die die Demokratie als Mittel preisgegeben haben, sondern umgekehrt, besser wirksam werden ließen. Gewiss, die Konstituante war auf Grund eines demokratischen Wahlrechts gewählt worden. Ihre Wahl war jedoch erfolgt, ehe die bürgerlichen Losungen, die bürgerlich-sozialistischen Kompromissprogramme ihre Anziehungskraft auf die breitesten Massen des arbeitenden Volkes verloren und sich abgewirtschaftet hatten. Sie lag vor der entscheidenden geschichtlichen Stunde, in der die Novemberrevolution die Zustimmung der organisierten Arbeiter, Bauern und Soldaten zur Sowjetregierung [brachte und] von den Programmen der ersten beiden Revolutionsperioden und der sie tragenden Parteien erklärte: „Gewogen und zu leicht befunden!" Davon zu schweigen, dass während dieser Perioden die wirtschaftliche und soziale Macht der besitzenden Klassen nicht so weit gebrochen oder wenigstens gefesselt war, dass sie ohne jeglichen Einfluss auf den Wahlausfall gewesen wäre. Die Konstituante konnte nicht mehr Anspruch darauf erheben, als unverfälschte Vertreterin der Meinung, des Willens des arbeitenden Volkes zu gelten. Soweit man in Russland von einem Volkswillen sprechen konnte, war er unzweifelhaft in den Entschließungen der Sowjets verkörpert. Sollte die provisorische Sowjetregierung ihre wirkliche Macht vor einem Trugbilde der Demokratie abdanken, sich von der Konstituante fortschicken lassen, wie Hausgesinde, von dem die aus dem Bade heimkehrende Herrschaft findet, dass es ihr über den Kopf gewachsen ist? Sollte sie das Schicksal, das Werk der Revolution bürgerlichen Händen anvertrauen, die darnach fieberten, dieser ungebärdigen, eigenwilligen Person Ketten anzulegen, wenn nicht gar sie zu erwürgen, sozialistischen, sozialrevolutionären Händen, die sich als zu schwach erwiesen, die Revolution zu schützen? Es wäre ein Verbrechen gewesen, gepaart mit Narrheit.

Dazu noch eine Erwägung. Die Revolution war nicht bei dem Maß, bei dem Ziel einer bürgerlichen Revolution stehengeblieben. Sie war darüber hinausgewachsen und enthüllte die Riesengestalt einer proletarischen Revolution, die auf die sozialistische Neuordnung der Gesellschaft abzielt. Durften die Bolschewiki mit dem Parlamentarismus eine Einrichtung übernehmen, deren beschränkter Wert – bei aller Bedeutung – für den proletarischen Emanzipationskampf schon in Zeiten der ruhigen Evolution greifbar vor Augen tritt, eine Einrichtung, die für die Bedürfnisse der bürgerlichen Ordnung zugeschnitten, vor den Aufgaben der Umwälzung dieser Ordnung versagen muss? Gewiss, das Proletariat hat sich des Parlamentarismus bis an die äußerste Grenze der Nutzbarmachung zu bedienen. Allein, auch er gehört zu den Staatseinrichtungen, die ein siegreiches Proletariat nicht einfach übernehmen und seinen eigenen Zwecken unterwerfen kann. Der neue, revolutionäre Wein, den es keltert, lässt sich nicht in alte Schläuche füllen. Auch so betrachtet, rechtfertigt es sich, dass der Bolschewismus die Konstituante durch die Sowjets, das Wirken einer beschließenden, gesetzgebenden Körperschaft durch die Aktion von Organisationen ersetzt hat, die auf breitester demokratischer Basis beruhen, gesetzgebend, verwaltend und ausführend zugleich sind. Ich verweise zu dieser Frage auf meinen Artikel in Nummer 30 der „Frauen-Beilage der Leipziger Volkszeitung".7 Unbestritten: dass die von der Sowjetverfassung geschaffene Demokratie unvollständig, dass sie durchbrochen ist mit den Bestimmungen, die große Gruppen von Personen vom Wahlrecht ausschließen. Allein, man vergisst, dass diese Entrechtungen den Charakter eines Provisoriums tragen, dass sie gleichsam ein Notgesetz sind, das nur für die Zeit Geltung haben soll, in der die Diktatur der Proletarier und Bauern besteht und bestehen muss. Die Verfassung lässt darüber keinen Zweifel. Die Auflösung des alten Russlands, das Werden des neuen ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass die Sowjetregierung mit einem einzigen gewaltigen Griff, mit einem riesigen Federstrich das Privateigentum an den Produktionsmitteln abschaffen könnte. Die Stunde für die Expropriation aller Expropriateure hat in Russland noch nicht geschlagen. Noch eignet Minderheiten wirtschaftliche und soziale Macht, die sie gegen die ungeheure Mehrzahl des arbeitenden Volkes brauchen und missbrauchen können. Soll ihnen zu dieser Macht auch noch das politische Recht werden, ihre eigensüchtigen Ziele gegen die Interessen der Allgemeinheit durchzusetzen? Man klammere sich für die Beantwortung dieser Frage nicht an Worte, nicht an die Form, dass die Massen Recht und Macht haben, das unsoziale Sinnen und Trachten der besitzenden Minderheiten zu durchkreuzen. In der Wirklichkeit werden sich die Dinge anders lesen, solange nicht wirtschaftliche Freiheit und Gleichheit das ganze Volk zu geistiger Freiheit und Reife geführt haben. Wie würde man über den Heerführer lachen, der der feindlichen Armee Kanonen, Munition schickt. Den Bolschewiki aber rechnet man es als Todsünde an, dass sie nicht reaktionäre Minderheiten gegen die Revolution bewaffnen wollen. Und das ausgerechnet in der Zeit, wo Revolution und Konterrevolution auf Tod und Leben miteinander ringen und die Konterrevolution nicht nur von allen reaktionären Kräften Russlands getragen wird, sondern wo die Truppen, das Gold, der Einfluss der Ententeregierungen mit ihr im Bunde sind. Auflösung der Konstituante und Ausnahmerecht für Minderheiten, gewalttätige Maßnahmen wider Gegner sind, wie die Erklärungen des Massenterrors, bittere Früchte der Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Sie sind zu betrachten als Maßregeln der Kriegsnotwendigkeit. À la guerre, comme à la guerre: Im Kriege gilt Kriegsgebrauch. Und die das revolutionäre Russland führenden Bolschewiki stehen in einem Krieg von unvergleichlicher Tragweite. Hier versagen die moralischen, die politischen Maßstäbe des Alltags, hier tauchen die Einzelmaßnahmen und Einzelerscheinungen in der Gewaltigkeit und Riesenhaftigkeit des Ganzen unter. Dieses Ganze ist in seiner überragenden, geschichtlichen Bedeutung anzunehmen oder zu verwerfen. Wer das Ziel will, darf vor dem Weg zum Ziel nicht zurückschrecken. Eine proletarische, auf den Sozialismus gerichtete Revolution kann sich ohne Diktatur nicht durchsetzen, unter den in Russland gegebenen geschichtlichen Bedingungen erst recht nicht. Auch die ungnädigen Richter unserer russischen Freunde lehnen die Diktatur nicht schlankweg, nicht grundsätzlich ab. Aber der Charakter, die Art der Diktatur in Russland dünkt sie verwerflich. Diktatur und Demokratie müssen, wie Karl Kautsky nachweisen will, dort Hand in Hand gehen. Die Diktatur dürfe keine demokratischen Grundsätze preisgeben, sondern müsse sie verwirklichen. Die Diktatur selbst müsse Auswirkung der Demokratie sein. Sie müsse als Mehrheitswillen Mehrheitsinteressen dienen. Hört man die Kritiker, so ist jetzt in Russland weder die eine noch die andere Voraussetzung gegeben. Die kleine bolschewistische Minderheit zwinge mittels brutaler Gewaltmaßregeln der ungeheuren Mehrheit des russischen Volkes ihre Politik auf, die die Revolution nicht sichert, sondern gefährdet, die den Sozialismus nicht näher führt, ihn vielmehr kompromittiert. Dies der Kern der kritischen Angriffe, die über den Bolschewismus hinaus zielen und die Theorie der Diktatur klären, revidieren wollen. Mit logischen Kettenschlüssen, die den Begriff der Diktatur fest umreißen sollen, im Gegensatz zu der bisher davon geltenden Auffassung, die als „blanquistisch" oder „jakobinisch" abgelehnt wird. Natürlich unter reichlichem Aufwand von Berufungen auf Marx und Engels und Marx-Engels-Zitate.

Die Lektüre der betreffenden Darlegungen hat mich in meiner allgemeinen Auffassung der Frage und ihrer Anwendung auf den besonderen Fall der russischen Revolution und der Rolle der Bolschewiki in ihr als völlig unbußfertige Sünderin gelassen. Auch nicht der wirklich wertvolle, anregende Beitrag darunter – Genossen Martows Artikel über Marx und das Problem der Diktatur des Proletariats8 – hat meine Würdigung des Bolschewismus zu erschüttern vermocht. In der Tat! Was besagt es zu der Streitfrage unserer Tage, wenn Marx unter den historischen Erfahrungen seines Lebens seine Auffassung von der Diktatur des Proletariats geändert, wenn er seine ursprünglich mehr „jakobinische" Vorstellung davon zu einer mehr „evolutionistisch-parlamentarischen" gewandelt hätte? Um das Ding auf die kürzeste, sicher nicht vollkommene Formel zu bringen. Trotz der gründlichen Beschlagenheit des Genossen Martow in Marxens Theorie und seinem spürenden Scharfsinn in ihrer Anwendung könnte man immerhin darüber streiten, ob der von ihm als ausschlaggebend zitierte Satz gerade so aufgefasst werden muss, wie er ihn auffasst und der Praxis der Diktatur der Bolschewiki entgegenstellt. Jedoch nehmen wir an, der Gehalt von Marxens Satz decke sich vollkommen mit der Nutzanwendung auf die russischen Dinge. Es bleibt dann und vor allem eine schlichte Tatsache bestehen, dass die geschichtliche Entwicklung nicht stillgestanden ist, seit Marx seinen Satz geschrieben hat.

Sie hat in der kapitalistischen Wirtschaft nicht bloß Wachstum, Ausdehnung, sondern gewaltige Neuerscheinungen gezeitigt: die Ringe, Trusts, Syndikate; die Ablösung der Textilindustrie als führender Industrie durch die Schwerindustrie; die Umwälzung durch die Elektrotechnik; die Verfilzung von Industrie-, Handels- und Bankkapital im Finanzkapital und dessen Weltherrschaft usw. In der inneren und äußeren Politik der Staaten die Auswirkung des fortgeschrittenen, reiferen Kapitalismus. Ungeachtet milderer Formen, Verschärfung des Klassenkampfs zwischen Proletariat und Bourgeoisie, bei den ringenden Klassen ein Wechsel und Durcheinander von Drängen nach weittragenden Auseinandersetzungen und Furcht vor ihnen, von großen Anläufen und kleinen Taten; steigende Neigung der herrschenden Klassen, die fliehende politische Vergangenheit festzuhalten; der Verfall des bürgerlichen Parlamentarismus und seine immer sichtbarer werdende Unfähigkeit, dem proletarischen Befreiungskampf zu großen Entscheidungen zu dienen, vor allem aber der gewalttätige Imperialismus mit seiner unersättlichen Sucht nach Weltmacht und Weltherrschaft, mit seinen Riesenrüstungen, seinen Kolonialunternehmungen und Kriegen, seiner auf die Spitze getriebenen Politik der Ausbeutung und Unterdrückung nach innen und außen. Wer wagt zu behaupten, dass angesichts der Entwicklung der letzten Jahrzehnte der durch und durch revolutionäre Denker Marx seine Auffassung von der Diktatur des Proletariats nicht an dem eindringlichen Anschauungsunterricht der Tatsachen orientiert und – Genossen Martows Annahme als richtig vorausgesetzt – revidiert hätte? Wohl war die Theorie für ihn Höheres als Mittel zum Zweck, die Welt zu erklären; [war] ein Mittel, die Welt zu verändern. Allein, gerade deshalb hat er seine Theorien nie als ewige Wahrheiten betrachtet, vor denen die Wirklichkeit sich beugen müsste. Die Wirklichkeit blieb ihm stets der gewissenhaft zu durchleuchtende Forschungsstoff, aus dem er Theorien gewann und nach dem er nötigenfalls „umlernte". Ich bin überzeugt, dass Marxens heutige Vorstellung von der Diktatur des Proletariats herzlich wenig Ähnlichkeit aufweisen würde mit dem sanftmütigen Ideal, ganz auf Harmonie und Zusammenwirken aller „Gutgesinnten" gestimmt, das uns aus den Ausführungen der Bolschewiki-Kritiker hold verschämt entgegen lächelt. Ich bin überzeugt, Marx, dieser schwertscharfe revolutionäre Geist, dieses glühende revolutionäre Herz, dieser stahlharte revolutionäre Wille, Marx, der zeitlebens ein revolutionärer Kämpfer, ein Mann der Tat war: Er wäre heute schwerlich unter diesen Kritikern zu finden.

Diktatur des Proletariats und das Ideal voller Demokratie lassen sich in der Wirklichkeit nicht durch ein verbindendes „und" vereinigen, wie auf dem Papier. Das historische Wesen der Diktatur ist Herrschaft, starke, zwingende Herrschaft, die ohne Verletzung der Gebote idealer Demokratie, die ohne Verletzung des Rechts, der Interessen von Minderheiten so unmöglich ist wie die Quadratur des Zirkels. Herrschaft hat Beherrschung zur Voraussetzung. Die Diktatur des Proletariats hat ihre geschichtliche Rechtfertigung darin, dass sie im Interesse der ungeheuren Mehrzahl des Volkes ausgeübt wird und nur Übergangsmaßregel zu dem Zweck ist, sich selbst aufzuheben und unmöglich zu machen, das Ideal der Demokratie zu verwirklichen: ein freies Volk auf freiem Grund bei freier Arbeit. Unsere Antibolschewiki versagen der jetzigen Diktatur in Russland diese Rechtfertigungsgründe. Ihrer Ansicht nach ist diese nur das Werk einer unbedeutenden Minderheit, die dogmatisch verbohrt und fanatisch im Interesse einer engherzigen Parteiauffassung und Parteipolitik die ungeheure Mehrzahl des russischen Volkes mit brutaler Gewalt den bolschewistischen Gegenwarts- und Zukunftsrezepten unterwerfen will. Woher kommt den Genossen die sichere Wissenschaft, dass die Bolschewiki mit ihrer Politik tatsächlich nur eine unbedeutende Minderheit der russischen Arbeiter und Bauern vertreten? Meines Erachtens dürfen wir uns durch die Zahl, den lauten Ton, die Leidenschaftlichkeit der Wehklagen und Anklagen gegen die „bolschewistische Gewaltherrschaft" nicht über den Umfang und die Bedeutung ernster Feindschaft gegen die Politik der Sowjetregierung täuschen lassen. Es ist eine alte, sehr erklärliche Erfahrung, dass in Parteikämpfen unterlegene Minderheiten sich heftig gebärden. Sie haben das natürliche Bedürfnis, sich und der Welt zu beweisen, dass sie trotz der Niederlage eine Macht und im Recht sind.

Wer wird leugnen, dass weite Kreise der Arbeiter, der Bauernschaft, dass namentlich die weitaus meisten Zugehörigen der Intelligenz die Auffassung und Politik der Bolschewiki nicht billigen? Jedoch scheint ein sehr großer Teil, wenn nicht die Mehrheit der politisch denkenden und handelnden Proletarier und Bauern hinter diesen und den mit ihnen gehenden linken Sozialrevolutionären zu stehen. Dafür spricht der Umstand, dass die angeblich unbedeutende Minderheit sich trotz der ihr zum Vorwurf gemachten Fehler, Irrtümer, Gewalttaten, Prinzipienverletzungen usw. usw. länger an der Macht gehalten hat als die provisorischen Regierungen der beiden ersten Revolutionsphasen zusammen. Und das unter Verhältnissen von kaum je dagewesener Schwierigkeit, der furchtbaren Belastungsprobe des Brest-Litowsker Friedens unterworfen, das Hungergespenst zur Seite. Der Gebrauch der Macht allein kann nicht – wie die Antibolschewiki behaupten – die Dauer der Sowjetregierung erklären, die für eine Revolutionszeit ungewöhnlich lang ist, die unter den gegebenen Umständen erst recht durch ihren Bestand auffällt. Keine noch so gewalttätige Minderheit könnte in der vorliegenden Situation so lange auf Bajonetten sitzen. Die Dauer der Sowjetherrschaft, deren Sturz schon nach wenigen Wochen als todsicher prophezeit wurde, lässt darauf schließen, dass breite Massen des russischen Volkes diese Herrschaft stützen. Die Bolschewiki und die mit ihnen zusammenwirkenden linken Sozialrevolutionäre bilden die festen, leitenden Kader der russischen Revolutionsarmee, Kader, die durch ihre Aktionsfähigkeit, durch ihre Losung und ihren Willen zur Tat Massen anziehen und festhalten. Dass die Gegner der Sowjetregierung nach Zahl und Bedeutung nicht unterschätzt werden dürfen, wird durch die Notwendigkeit der Diktatur bestätigt. Macht soll Macht niederzwingen. Möge die Diktatur der Proletarier und Bauern lange genug standhalten, um sich selbst aufzuheben und ihren Zweck zu erfüllen, ihr Ziel zu erreichen! Denn während der Weg der Regierungen in den beiden ersten Revolutionsperioden von dem schönen Ideal der Demokratie zu der harten, grausamen Wirklichkeit der Diktatur ging, soll derjenige der Sowjetherrschaft von der harten, grausamen Wirklichkeit der Diktatur zu dem schönen und verwirklichten Ideal der Demokratie führen.

Der Streit um die berechtigte oder nichtberechtigte Diktatur des Proletariats in Russland führt in logischer Weiterung dazu, dass die Frage nach der historischen Berechtigung der Novemberrevolution selbst gestellt und von unseren Kritikern der Bolschewiki verneint wird. Die Auffassung, dass Proletariat und Bauernschaft nicht die politische Macht ergreifen und behalten durften, liegt offen oder verhüllt hinter all den Bedenken, Sorgen, Ängsten und Zweifeln, die diese Genossen betreffend das Lebensrecht und die Lebensfähigkeit des vollzogenen „Umsturzes" zum Ausdruck gebracht haben. Nach ihren Darlegungen fehlt es in Russland an den objektiven und subjektiven Voraussetzungen einer proletarischen Revolution, deren Ziel der Sozialismus ist. Weder die gesellschaftlichen Dinge noch die Menschen seien reif dafür. Die Revolution durfte nicht über die Grenzen hinauswachsen, die ihr die „reine Demokratie" gesteckt hatte, sie musste innerhalb dieser Grenzen erstarken. Sie durfte nicht einen rein proletarischen Charakter annehmen, sie musste nach Wesen und Ziel bürgerlich bleiben mit proletarischem Einschlag und die volle politische bürgerliche Demokratie zum Siege tragen. Als eine treibende Kraft der Revolution musste das Proletariat sich in weiser Selbstbescheidung damit begnügen, mit der verwirklichten bürgerlichen Freiheit unerlässliche günstige Vorbedingungen für seinen Klassenkampf, für das Ringen um den Sozialismus zu schaffen. Die Novemberrevolution war ein Fehler, ein Irrtum, ein Abweg, zu dem die Geschichte von den übel beratenen Bolschewiki gedrängt worden ist und von dem es schleunigste, gründliche Abkehr gilt. Der Sieg des Proletariats kann nur ein vorübergehender sein, der den Gegenwarts- und Zukunftsinteressen der Klasse um so besser dient, je reiner seine Ausnutzung von kompromittierenden sozialistischen Experimenten gehalten wird. Ich vermisse in den einschlägigen Darlegungen einen festen, eindeutigen Grenzpunkt, wo die Revolution in Russland aufhörte, berechtigt, erlaubt, ja Pflicht zu sein, wo sie anfing, ein Missverständnis zu werden. Welches ist das Kriterium für die Reife der Dinge und Menschen zur Revolution? Ich finde es nicht in den statistischen Angaben über die wirtschaftliche Struktur und Entwicklung Russlands und die Zahl seiner Analphabeten, bei aller Anerkennung, wie wichtig das Wissen, und zwar gründliches Wissen, über die gesellschaftlichen Zustände zur Beurteilung von Revolutionsmöglichkeiten und Revolutionsaussichten ist. So unbestritten es ist, dass in den sozialen Verhältnissen bestimmte materielle Voraussetzungen für eine Revolution vorhanden sein müssen, so schwer ist es, die reifenden revolutionären Rückwirkungen auf die Menschen mit Sicherheit genau vorauszubestimmen. Mit der subjektiven Revolutionskraft der Menschen kommt ein schwer zu berechnender Faktor in das Exempel. Welche Revolution ist pünktlich eingetreten, als der Zeiger der Weltenuhr auf „reif" stand? Alle Revolutionen sind entweder zu spät oder zu früh gekommen und haben in ihrem weiteren Verlauf Versäumtes nachgeholt, Verfrühtes beiseite geschoben. Die kritischen Text- und Geschichtsauslegungen darüber, dass die Novemberrevolution zu Unrecht „gemacht" worden ist, dass sie besser vermieden worden wäre, künden nicht bloß einen Mangel an revolutionärem Empfinden, sondern auch mangelnden Sinn für das geschichtliche Wesen, den lebendigen Pulsschlag der Revolution.

Die Geschichte hat meiner Meinung nach das theoretische Frage-und-Antwort-Spiel nach der Berechtigung zur Machtergreifung durch die russischen Proletarier und Bauern entschieden. Die Riesengestalt der Novemberrevolution steht vor uns, ihr heißer Odem weht dem internationalen Proletariat zu: „Ich bin, ich werde sein! Folgt!" Die Novemberrevolution hat sich durch ihre arbeitende, kämpfende Existenz selbst legitimiert. Sie ist nicht in Verkennung ihrer Voraussetzung, ihrer Existenzmöglichkeit „gemacht" worden, sie ist herangewachsen als die konsequente Weiterentwicklung der Märzrevolution. Meines Dafürhaltens war es ausgeschlossen, dass die russische Revolution als rein proletarische Revolution mit sozialistischen Zielen und der Diktatur der arbeitenden Massen beginnen konnte. Sie musste in ihren ersten beiden Perioden ein bürgerlich-proletarisches Gesicht zeigen und die bürgerlich-demokratischen Ziele, die sozialen Reformforderungen voranstellen, die sich mit der kapitalistischen Ordnung vertragen. Die Sozialisten und Sozialrevolutionäre der Rechten haben damals in Übereinstimmung mit der Losung des Kommunistischen Manifestes gehandelt, dass die Sozialisten mit der Bourgeoisie gemeinsam vorgehen, wenn diese revolutionär kämpft. Ihre Aktion hat sich äußerlich gesteigert, entsprechend der Entfaltung der Revolution und des Hervortretens ihres proletarischen Wesenselements. Sie ist von der bloßen Kontrolle der bürgerlichen Demokratie bei Ausübung der Staatsgewalt zur Teilung der Staatsgewalt mit der bürgerlichen Demokratie fortgeschritten. Allein, sie hat damit nach und nach an innerer Kraft, an sozialistischem Gehalt verloren. Statt die bürgerliche Demokratie mit sozialistischem Leben zu erfüllen, wurde sie in die Schranken der bürgerlichen Herrschaft gebannt. Und die Sozialisten und Sozialrevolutionäre der Rechten sind im Widerspruch zu Marxens Auffassung bei der Demokratie geblieben, als diese aufhörte, revolutionär zu sein, als sie reaktionär wurde. Die Sozialisten und die Sozialrevolutionäre der Rechten haben durch ihre Rolle in der Revolution klargestellt, was die bürgerliche Demokratie kann und was sie nicht kann. Sie haben die bürgerliche Demokratie Russlands vorwärts getrieben bis an die Grenze, wo sie unter der Einwirkung des Klassengegensatzes und des Klassenkampfs zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden nicht mehr weiter konnte. Sie haben damit vor den Augen der breitesten Massen das Unvermögen der bürgerlichen Demokratie enthüllt, den über die moderne bürgerliche Ordnung hinausgehenden Interessen und Forderungen des Volkes der Arbeit gerecht zu werden und eine radikale Erneuerung Russlands in sozialistischer Richtung in Angriff zu nehmen. Ihr Zusammenwirken mit der bürgerlichen Demokratie hat die Notwendigkeit der Besitzergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat und die Bauernschaft in helles Licht gerückt. Die Menschewiki und rechten Sozialrevolutionäre haben damit sehr im Gegensatz zu ihrer Überzeugung und Absicht, aber in Übereinstimmung mit der geschichtlichen Dialektik, im Bewusstsein großer proletarischer und bäuerlicher Massen die Voraussetzung für deren Anschluss an die Bolschewiki geschaffen. In der Gluthitze der Revolution hat sich binnen weniger Monate in den politischen Dingen und im Bewusstsein der Massen ein Reifeprozess vollzogen, der in einer Evolutionsperiode viele Jahre in Anspruch nimmt und häufig genug Strecken der Stagnation aufweist. Ich bedaure, dass die Menschewiki und rechten Sozialrevolutionäre als Gefangene ihres Schemas von der Berechtigung und Nichtberechtigung einer proletarischen Revolution aus Mitarbeitern der bürgerlichen Demokratie zu deren Gefangenen geworden sind. Ich bedaure namentlich auf das Tiefste ihre Blindheit für die offensichtliche Tatsache, dass die Revolution über rein bürgerliche Ziele hinaustrieb, hinaustreiben musste. Indem sie an einer Aufgabe festhielten, die sie selbst bereits unbewusst und gegen ihren Willen gelöst hatten, indem sie davor zurückwichen, sich mit den Bolschewiki als die eine wirklich revolutionäre Demokratie zusammenzuschließen, schalteten sie sich selbst für die nächste Zeit als treibende Elemente der Revolution aus und ließen den Bolschewiki allein deren Führung zufallen. Geradezu unfassbar ist es mir, dass sie nun die Tatsache gewordene Revolution der Proletarier und Bauern bekämpfen, statt sie zu schützen.

Ob auch die Bolschewiki richtig handelten, dass sie in den ersten beiden Perioden der Revolution sich abseits von der Staatsgewalt gehalten haben? Meiner Ansicht nach ja. Ohne Verantwortlichkeit für den Gebrauch der Staatsmacht konnten sie die unerbittlichen Gegner der Staatsmacht des Augenblicks bleiben, die schärfsten Kritiker ihrer Anwendung; indem sie darauf verzichteten, das kleine Regierungskonsortium bei seiner „positiven Arbeit" voranzutreiben, trieben sie die Massen als Kritisierende, Fordernde, Kämpfende voran. So wurde ihre Negation positiv, von höchster geschichtlicher Fruchtbarkeit, und der Bankrott der „einen Demokratie" kompromittierte sie nicht. Erst nachdem sich in den ersten beiden Etappen der Revolution die „eine Demokratie" abgewirtschaftet hatte, konnten die bolschewistischen Losungen von so breiten arbeitenden Massen verstanden werden, dass sie sich siegreich durchsetzten. Die Bolschewiki haben die Novemberrevolution nicht „gemacht". In der gegebenen geschichtlichen Situation war sie die folgerichtige, unvermeidliche Fortentwicklung der beiden ersten Phasen der russischen Revolution. Nach dem Versagen der „einen Demokratie", durch den Frieden die imperialistische Erbschaft des Zarismus abzuschütteln und ihr eigenes Programm zu verwirklichen, geschweige denn ohne heilige Scheu vor dem Besitz eine weittragende soziale Erneuerung Russlands durchzuführen, stieg die proletarisch-bäuerliche Revolution unaufhaltsam empor. Einem Gewitter gleich wäre sie elementar losgebrochen auch ohne die Bolschewiki und auch gegen sie, wenn sie sich ihr, gleich den Bruderparteien der Rechten, widersetzt hätten. Die Revolution wäre über sie „zur Tagesordnung übergegangen". Sie bedurfte nur des Zusammenballens der revolutionären Kräfte, ihrer unbeirrten Orientierung auf proletarisch-sozialistische Ziele. Die große geschichtliche Stunde hat in den Bolschewiki ein großes Geschlecht gefunden. Mit klarem, scharfem Blick haben sie die Situation erkannt, in der sie entweder die Führung der Revolution übernehmen oder kampflos als revolutionäre Partei abdanken mussten. Es ist ihr unsterbliches Verdienst, dass sie inmitten einer Welt von Schwierigkeiten, hochragender, starrender als eisbedeckte Bergesgipfel, die Kühnheit gehabt haben, mit der Eroberung der Staatsgewalt die Führung der Revolution zu übernehmen. Sie haben diese damit gerettet. Schon heute tritt die geschichtliche Größe und Bedeutung ihres Werkes sichtbar hervor. Dieses Werk kann nicht aus der Geschichte der Entwicklung Russlands gestrichen werden. Der Bolschewismus hat die Staatsmaschinerie des alten Russlands so gründlich zerschlagen, dass sie nicht wieder zusammengeflickt werden kann. Er hat aufbauend die Richtlinien einer gesellschaftlichen Erneuerung durch den Sozialismus so scharf gezogen, dass sie sich nicht verwischen lassen. Auch wenn das prophezeite Unheil Wahrheit werden, wenn die gierige Meute der Konterrevolution das edle Wild zur Strecke bringen würde, kurze Zeit schon nach dem Umsturz der Sowjetherrschaft müsste ihr Werk wieder leuchtend hervortreten. Zerrissene Entschließungen, zertrümmerte sozialistische Einrichtungen können es nicht vernichten. Es wird in seinen Hauptzügen im Bewusstsein proletarischer und bäuerlicher Massen weiterleben, und eines Tages wieder, in revolutionären Kämpfen reisig verkörpert, in die Geschichte treten.

Nach meinem Empfinden zielen auch die kritischen Auseinandersetzungen über die historische Berechtigung der Novemberrevolution über die Bolschewiki und ihr Werk hinaus. Ihr Ziel ist die Abwehr des Drängens nach einer neuen Taktik, nach neuen Methoden des proletarischen Emanzipationskampfs, nach einer Taktik und nach Methoden, wie der fortgeschrittene geschichtliche Entwicklungsprozess sie verlangt, der aus der Periode der Evolution in die der Revolution eingetreten ist. Ihr Kern ist die Herausarbeitung eines neuen Begriffs der Revolution. Man bedarf seiner, um die alte Taktik und die alten Kampfesmethoden als alleinseligmachend festzuhalten. Die antibolschewistischen Kritiker sprechen es nicht klipp und klar aus, aber es ist in ihren Ausführungen mit Händen zu greifen, dass nach ihrer Auffassung auch der Begriff der Revolution sich von einem „jakobinisch-blanquistischen" zu einem „evolutionistisch-parlamentarischen" wandeln muss. Gewiss, die Genossen geben die Revolution nicht preis, aber was sie wollen, ist – es klingt lächerlich, bringt aber die Sache am drastischsten zum Ausdruck – die Revolution ohne Revolution. Eine Revolution, die den Bildern gleicht, in denen Walter von der Vogelweide die Kaiserin Irene geschaut: „Rose ohne Dornen, Taube sonder Gallen." Eine wohlvorbereitete, wohldisziplinierte friedliche Revolution durch parlamentarischen Mehrheitsbeschluss und nach dem Taktstock mustergültiger Organisationen. Eine Revolution, „die alle sozial gesunden Elemente der Gesellschaft" freudig mitmachen, während über den Wolken Marx und Bismarck, Bebel und Freiherr v. Stumm, Stolypin und Plechanow einander in die fleischlosen, seligen Geisterarme sinken. Es geht unsern Kritikern mit dem Begriff der Revolution wie mit dem der Diktatur des Proletariats. Das Revolutionsvokabularium des Marxismus wird in kirchlicher Treue festgehalten, aber der Gehalt, der Sinn der Worte hat sich verflüchtigt, ist anders geworden.

Lassalle hatte die Revolution in zweifacher Gestalt geschaut, mit wild wehendem Lockenhaar, eherne Sandalen an den Füßen, oder aber in den Segnungen des Friedens. Unsere kritischen Genossen erblicken sie nur noch als holde Schäferin, die wie Schillers Mädchen in der Fremde jedem eine Gabe, dem Blumen, diesem Früchte austeilt und jeden beglückt nach Hause gehen lässt. Diese mildverklärte Auffassung von der Revolution scheint mir ungeschichtlich, und sie wird durch die Beschwörung von Marx und Engels nicht richtiger. Den beigebrachten Zitaten aus den Werken unserer Meister könnte man ebenso viele andere entgegenstellen, die eine gegenteilige Vorstellung von der Berechtigung und dem Wesen der Revolution zum Ausdruck bringen. Marx und Engels würden die letzten gewesen sein, den Bolschewismus in Theorie und Praxis an der ideellen Widerspiegelung der Geschichte in ihren Schriften zu messen, statt an der Wirklichkeit der Geschichte selbst. Das wissenschaftliche Ketzergericht, das im Namen des Marxismus über den Bolschewismus gehalten wird, hat bisher die Ablehnung einer neuen Taktik und neuer Kampfesmethoden des proletarischen Emanzipationskampfs nicht gerechtfertigt. Das Gebot dieser geschichtlichen Stunde ist nicht Auslegung und Umdeutung aller grundsätzlichen Begriffe, sondern Selbstverständigung über die neuen Wege, die vom internationalen Proletariat beschritten werden müssen. Hoffentlich werden die proletarischen Massen lieber dort stehen, wo man sozialistisch handelnd fehlt, als da, wo das sozialistische Handeln fehlt. Ich komme zur praktischen Nutzanwendung meiner Ausführungen auf den vorliegenden Fall. Ich bin grundsätzlich gegen eine Einschränkung der Kritik an dem Bolschewismus. Ich befinde mich im schärfsten Gegensatz zu der Art, dem Inhalt der Kritik, wie sie vom Genossen Kautsky und anderen geübt worden ist. Ich werde mich durch keine Konferenzbeschlüsse binden lassen, meiner eigenen Wertung des bolschewistischen Werkes Ausdruck zu geben.

Mit Parteigruß

[Clara Zetkin]

1 Der Brief richtet sich nicht – wie lange Zeit angenommen – an eine Konferenz des Reichsausschusses und der Frauenvertreter der USPD, sondern an eine von der USPD-Leitung einberufene Konferenz in der ersten Septemberhälfte 1918. Der Brief ist nicht vor dem 9. August geschrieben. Clara Zetkin veröffentlichte am 20. September 1918 in der „Frauen-Beilage der Leipziger Volkszeitung" unter dem Titel „Durch Diktatur zur Demokratie" den Hauptteil des Briefes, in dem sie sich mit den antibolschewistischen Thesen Karl Kautskys auseinandersetzt. Dieser hatte sie in seinem Artikel „Demokratie durch Diktatur" (Sozialistische Auslandspolitik. Korrespondenz, Berlin, Nr. 34 vom 22. August 1918) wegen ihrer Veröffentlichung vom 9. August 1918 angegriffen. – Der ganze Brief wurde 1927 zum ersten Mal in dem Sammelband „Alles für die Revolution" – jedoch mit Abweichungen vom Original – publiziert. Die Auszüge unter verschiedenen Titeln in den Ausgewählten Reden und Schriften Clara Zetkins (Bd. II, S. 8-40) und in dem Auswahlband: Zur Theorie und Taktik der kommunistischen Bewegung (Leipzig 1974, S. 42-50) basieren auf der Veröffentlichung von 1927.

2 Siehe Rudolf Breitscheid: Gefühl oder Erkenntnis? In: Sozialistische Auslandspolitik, Nr. 30 vom 25. Juli 1918.

3Nach dem westlichen Kalender war die Oktoberrevolution im November. Deshalb nennt Clara Zetkin die Oktoberrevolution oft Novemberrevolution.

4 Siehe Heinrich Ströbel: Gefühl oder Erkenntnis? Eine Entgegnung. In: Sozialistische Auslandspolitik, Nr. 32 vom 8. August 1918.

5 Siehe L. Martow: Marx und das Problem der Diktatur des Proletariats. In: Sozialistische Auslandspolitik, Nr. 29 und 30 vom 18. und 25. Juli 1918.

6 Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die Fortschrittspartei und das Zentrum hatten am 12. Juli 1917 im Reichstag eine Resolution angenommen, in der verklausuliert die Bereitschaft zu einem Verständigungsfrieden ausgesprochen wurde.

7 Gemeint ist der Artikel vom 9. August 1918 „Frauenrecht in der neuen russischen Konstitution"

8 Siehe Sozialistische Auslandspolitik, Nr. 29 und 30 vom 18. und 25. Juli 1918.

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