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I. Rosa Luxemburgs Lebenswerk

Seine Bedeutung und Geschlossenheit / Seine Schändung durch die reformistischen Gegner auf Grund von Levis »Nachlassbroschüre” / Zur Geschichte der “Nachlassbroschüre”

Weit mehr als Rosa Luxemburgs tragischer Lebensausgang allein ist der Grund dafür, dass die von einer ebenso bestialischen als feigen Offizierskamarilla ermordete für immer “eingeschreint bleiben wird in dem großen Herzen” des befreiungssehnsüchtigen Weltproletariats von heute, der befreiten Menschheit von morgen:

Es ist der Schatz ihres Lebenswerks, den sie an den Befreiungskampf der Ausgebeuteten dahingegeben hat. Ein Schatz von seltenem Reichtum, ein Lebenswerk von seltener Einheitlichkeit, Geschlossenheit und Größe. Ein von revolutionärer Leidenschaft glühendes Herz hieß einen eisernen Willen, reiche Talente zu einer starken Kraft zusammenballen, gerichtet auf das eine titanenhafte Ziel, das der um Erkenntnis ringende junge Marx in faustischem Drang sich gesteckt: die soziale Welt zu verändern.

Im Dienste dieses Ziels war Rosa Luxemburg Zeit ihres Lebens hingebungsvolle Gläubige und seherische, vermittelnde Hohepriesterin, fragende, forschende, kühl abwägende Gelehrte und kühn wagende Kämpferin, die vorwärts stürmte, ungeschreckt durch Hindernisse, der Gefahren spottend. Ihr außergewöhnlich scharfer, starker Geist zergliederte nicht bloß mit unerbittlicher Logik die sozialen Tatsachen und Vorgänge, sondern er erfasste sie auch stets dialektisch, im auf ihrer Entfaltung. Aus einem gründlichen, umfassenden Wissen um die Vergangenheit und Gegenwart der Gesellschaft schöpfend, von den verschiedensten Wissensgebieten angeregt und genährt, kristallisierte er Kenntnisse zu wegweisender Erkenntnis über die Triebkräfte, die Richtung, die Bedingungen des sozialen Vergehens und Werdens unserer Tage. Marxens historischer Materialismus war Rosa Luxemburg dabei nicht etwa die fertige Formel, an der sie das geschichtliche Leben man, wohl aber gab er ihr die sichere Methode, um das geschichtliche Leben zu verstehen in seiner auf- oder abwogenden Veränderlichkeit, seinen strengen Gesetzen, seiner bunten Ausstrahlung voller Sinn und Widersinn.

Im Mittelpunkt ihres Ringens um Durchdringung und Bändigung des riesigen und mit jedem Tag wachsenden Wissensstoffs stand, was Mittelpunkt ihrer glühenden Sehnsucht, ihrer verzehrenden Tätigkeit war: die Revolution. Die Revolution als der höchste Ausdruck gesellschaftlicher Schöpfungskraft, als der stolze, weithin sichtbare Gipfel einer steigenden und verebbenden Welle neuen geschichtlichen Lebens. Die Wahrheitssuchende wollte Wirklichkeitsgestaltende sein. In ihrer Persönlichkeit, in ihrem Leben schlossen sich Unkenntnis, Wille und Handeln zum unzerbrechlichen Ringe.

So konnte in der Vorkriegszeit Rosa Luxemburg unbeirrt durch die revolutionäre Phraseologie der deutschen Sozialdemokratie die Führerin der Opposition gegen die opportunistische Praxis dieser Partei werden, gleichzeitig aber eine der überragenden Gestalten der Zweiten Internationale, ebenso bewehrt, waffentüchtig und überlegen im Kampfe gegen den Reformismus und Revisionismus der Bernstein jeder Spielart und jeder Nationalität, wie gegen alle anarchistischen und anarchistelnden Schrullen und Kindsköpfigkeiten sich revolutionär gebärdender Kleinbürgerei. Das zähe Ringen um die Verwirklichung ihres Jugendtraums, das polnische Proletariat zu wecken und auf dem Boden zielklaren Klassenkampfs in fest gefügter Front mit den Arbeitern Russlands, Deutschlands, aller kapitalistischen Staaten zum revolutionären Sturm wider die bürgerliche Ordnung zu führen, ließ sie früh und klar das Problem der Internationalität des proletarischen Klassenschicksals in seiner ganzen beherrschenden Bedeutung würdigen. Bei der ideologischen und organisatorischen Aufbauarbeit der Sozialdemokratie Polens und Litauens stieß sie auf die verbissene Gegnerschaft des Nationalismus, des Sozialpatriotismus der PPS In glänzenden Waffengängen setzte sie sich mit ihm auseinander, ihn als eine gefährliche Form des Opportunismus enthüllend.

So war Rosa Luxemburg wie kaum jemand berufen und auserwählt, vom ersten Tage des Weltkrieges an dessen imperialistischen Charakter aufzudecken, das schillernde Gespinst von Legenden und Geschichtsklitterungen kritisch zu zersetzen, mit dem die Scheidemänner und David der verschiedensten Nationalitäten, gleichen Verrats ihrer Grundsätze, ihn verhüllten; die Massen Ausgebeuteten aufzufordern, ihre internationale Solidarität in der Revolution zum obersten Gesetz ihres Handelns zu machen. Sie war mehr als der Mittelpunkt der anfangs winzigen, allmählich wachsenden Ideen- oder Kampfesgenossenschaft, die den Weltkrieg als Auftakt der Weltrevolution begriff und unerschrocken daran ging, das Proletariat für sie zu mobilisieren. Sie war ihr heilig glühendes Herz, ihr klar erkennendes Hirn, ihr diamantharter Wille. Ohne Zögern und Zaudern, sonder Wanken und Schwanken wurde bei ihr der Gedanke Tat. Den Blick unverrückt der Weltrevolution zugewandt, bekämpft Rosa Luxemburg in Theorie und Praxis gleich unerbittlich und wuchtig sowohl die offenen Verräter des Proletariats, die im Namen der “Vaterlandsverteidigung” und anderer Lügen die Arbeiter an die Schlachtbank des Imperialismus lieferten, wie die Hehler der Sozialpatrioten, die unter Berufung auf die Parteidisziplin und sonstige “Realitäten” feige den Massenbetrug duldeten und vor dem Kampf flohen.

Und wieder steht Rosa Luxemburg führend mitten im dichtesten Kugelregen, als greifbare Nähe ward, was geschichtliche Perspektive gewesen. Mit der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiter und Bauern in Russland unter der entschlossenen Führung der Bolschewiki, mit der Aufrichtung der Diktatur der Schaffenden in der Räteordnung daselbst glühte die Weltrevolution auf. Es schien, dass ihre Lohe sich reibend rasch über den Erdball wälzen müsste. Flackerten nicht mehr und mehr ihrer Feuerzeichen empor? Der militärische Zusammenbruch der Zentralmächte; die sinnenfällige Zerrüttung der kapitalistischen Wirtschaft in allen Ländern; die Umwälzung in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie; der Umsturz des kaiserlichen deutschen Reiches. Nach der Höhe der ökonomischen Entwicklung Deutschlands, nach der Bedeutung, der politischen Schulung und Organisation und den Leiden seines Proletariats deuchte die Annahme nicht verwegene Phantasterei, dass hier der Umsturz zur ganzen, zur proletarischen Revolution werden, und dass diese die Arbeiter Westeuropas zum Befreiungskampf rufen müsste.

Abermals erlebt Rosa Luxemburg, dass die proletarischen Massen Deutschlands an Reife der Erkenntnis, des Willens, der Opferfreudigkeit der revolutionären Situation nicht gewachsen, nicht ebenbürtig sind. Sie lassen sich aufs Neue von Führern narren, die gewöhnt sind, geschichtlich nur mit den messingnen Spielpfennigen bürgerlicher Reformlerei zu rechnen, und deren Furcht vor der Macht der Bourgeoisie größer ist, als ihr Vertrauen auf die revolutionär zu entfesselnden Kräfte des Proletariats. Die Ebert-Scheidemann verraten offen das Proletariat, das sie von den Kampffeldern der Revolution zurücktreiben in den “Frieden” der kapitalistischen Ausbeutung. Die Haase-Dittmann bauen den Schutzwall solchen schmählichen Tuns, indem sie vor dem Kampf für die Weiterführung der Revolution zurückschrecken. Ein Schwindel hat dabei den andern abgelöst. Statt der “Pflicht zur Landesverteidigung” wird den Massen die Hoffnung auf die “Demokratie” gepredigt. Auf die Demokratie des bürgerlichen Staats, die sich ihnen schon am 6. Dezember 1918 als blutige Klassendiktatur der Bourgeoisie enthüllte, als Wels, der sozialdemokratische Stadtkommandant von Berlin, auf wehrlose demonstrierende Kriegskrüppel und Arbeitslose schießen ließ.

Durch die Revolution aus der Schutzhaft befreit, nimmt Rosa Luxemburg sofort den Kampf gegen Verrat, Unklarheit, Schwäche, Halbheit auf. Sie ringt um die Seelen der Proletarier, um ihr revolutionäres Erwachen und Handeln mit allen Mächten der bürgerlichen Welt, mit allen Einflüssen der sozialdemokratischen Parteien, die revolutionsfeindlich oder revolutionsängstlich sind. Mit geschärftem Blick für die Bedürfnisse und Bedingungen der deutschen Revolution — als des nun wichtigsten weiteren Schrittes der Weltrevolution — verfolgt sie die unrevolutionären und gegenrevolutionären lrrwege und Seitensprünge des Ebert-Haase-”Rats der Volksbeauftragten” und später die brutalen Lakaiendienste, die die von den Unabhängigen gereinigte mehrheitssozialdemokratische Regierung der Bourgeoisie leistet. Schonungslos löst Rosa Luxemburg alle klingenden Schlagworte, alle gleißenden Begriffsfälschungen in ihr Nichts auf, mit denen der revolutionäre Tatwille der Arbeiter entmannt wird. Ihre leidenschaftliche Überzeugung pulsiert in dem fieberhaften Kampf von Tag zu Tag, ihre glänzenden, vielseitigen Talente und ihr gründliches Wissen sind in ihm lebendig. Und wie ihr allzeit die Revolutionen der Vergangenheit Fundgruben der Erkenntnis waren, so wird ihr geschichtliches, politisches Verstehen und Handeln nun angeregt, wegsicher und befeuert durch das Weben und Wirken der proletarischen Revolution in Sowjetrussland.

Auf der Höhe ihres Kampfes für das Weitertreiben der Revolution fällt Rosa Luxemburg, das Opfer monarchistisch-militaristischer Mordbuben und ihrer moralisch, politisch Mitschuldigen: der Ebert-Scheidemann-Regierung. Sie fällt, umlauert und umheult von dem Hass und der Furcht, von den Verleumdungen und Beschimpfungen der um ihre Kassenschränke und Herrschaftsgewalt zitternden Bourgeoisie, aber auch jener Führenden der Arbeiterbewegung, die die Revolution in die Zwangsjacke eines ausschließlich bürgerlich-demokratischen Umsturzes stecken oder aber sie “im Flügelkleide einer Mädchenschule” sehen möchten. Rosa Luxemburgs zarte Körperlichkeit ist aus dem Schlachtgetümmel der aufeinander prallenden Klassen verschwunden, ihr kühner, erkenntnisklarer Geist schreitet den Ausgebeuteten und Enterbten aller Länder solange führend voran, als sie gegen den Kapitalismus kämpfen müssen. Denn die stolze Einheit dessen, was Rosa geschaffen und was sie war, steht vor den Massen, einem gewaltigen Block carrarischen Marmors gleich. Nicht überall geglättet und behauen, mit Kanten, Ecken und Unebenheiten, aber in schimmerndem Weiß weithin leuchtend und mit der Festigkeit des Gefüges der Wetter Unbill trotzend. Dieses unvergängliche Denkmal, das Rosa Luxemburg sich selbst gesetzt, kündet den Massen, wo die rauen, steilen Wege der proletarischen Revolution sich scheiden von den sanften, blumigen Pfaden der bürgerlichen Reform.

Doch was erlebten wir, noch ehe dass sich der Tag zum dritten Male jährte, dass “der genialste Kopf unter Marxens Schülern” zertrümmert wurde? An den reinen Marmorblock von Rosas Lebenswerk treten die Leute des “Vorwärts” heran, und sie schreiben darauf mit Händen, die das Blut des Weltkrieges und deutscher Revolutionskämpfer gerötet hat: “Wie unklug von den Offizieren des Edenhotels, dass sie Rosa Luxemburg mordeten. Hätte sie weiter gelebt, sie wäre die unsere geworden, reif für die Abwürgung der Revolution und für die Stinneskoalition.” Es kommen die Mannen der “Freiheit” und malen auf den Block mit zitternden Fingern in krausen, verschwommenen Zügen: “Wenn Rosa Luxemburg nicht revolutionsberauscht die soziale Welt der Gegenwart verkehrt sah und in ihrem Denken unsicher hin- oder herschwankte, wenn sie auf dem Boden des Marxismus blieb, wie ihn Kautsky und Hilferding für die Theorie auffassen und Haase und Dittmann für die Praxis, so war sie die unsere.”

Man denke! Die Leute des nämlichen “Vorwärts”, der am Tage vor Rosa Luxemburgs Ermordung geradezu zu solcher Schmachtat in den berüchtigten Versen Zicklers aufgereizt hatte, deren dichterische Wertlosigkeit der richtige Rahmen war für die Nichtswürdigkeit der Gesinnung. Die Mannen der nämlichen “Freiheit”, die im November und Dezember 1918, im Januar 1919 die scharfe, aber sachliche Abrechnung Rosa Luxemburgs mit den USP-Schildhaltern der gegenrevolutionären Ebert-Scheidemann-Politik in ohnmächtiger Wut nicht anders zu beantworten wusste, als mit Verdrehungen und Unterstellungen der überzeugenden Gedankengänge, und die noch die Ermordete mit der Verleumdung begeiferte, sie habe ihre Parteigegner mit “vergifteten Waffen” bekämpft. Sie alle hatten auf einmal ihr Herz entdeckt für die “geistig hoch stehende Frau”, für die “Schärfe ihres Geistes”, die “Wissenschaftlichkeit” ihres geschichtlichen Denkens, und sie würdigen “das Vermächtnis”, das sie dem Proletariat gelassen. Sie möchten den aus Nacht und Not empordrängenden Massen einreden — und reden sich vielleicht selbst ehrlich ein —‚ dass Rosa Luxemburg eins war mit ihnen in der Wertung des größten, bedeutsamsten Geschehnisses unserer Zeit: der russischen Revolution, oder genauer gesagt: in der Beurteilung der Bolschewikpartei, dem denkenden Hirn, dem wagemutigen Willen, dem reisig bewehrten Arm der russischen Sowjetrepublik. Muss es noch gesagt werden, dass diese Beurteilung umgemünzt wird zu einer einseitigen, gehässigen Verurteilung der Politik, der Methoden und Mittel des revolutionären Kampfes dieser Partei, unter deren Führung die Revolution in Russland klar und scharf ihr proletarisches Wesen herausgestellt hat? Würgend, bitter steigt es einem im Halse empor. Das Bitterste aber ist, dass für das frivole Spiel der Stampfer und Hilferdinge der Anstoß und der Schein des Rechts gegeben wurde durch das Tun eines Mannes, der in den letzten entscheidungsreichen Jahren einer von Rosa Luxemburgs nahen Kampfesgenossen gewesen ist. Die reformistischen Führer berufen sich auf die Broschüre, die Paul Levi aus dem Nachlass von Rosa Luxemburg veröffentlicht und eingeleitet hat: “Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung.”*

In tieferem Sinne als von manchem dickleibigen Buch gilt von Rosa Luxemburgs knapper und zum Teil nur skizzierter Arbeit, dass sie ihre Geschichte hat. Ihr grauer Hintergrund ist die Schutzhaft Rosa Luxemburgs in Breslau, mit der Absperrung von dem wild tosenden Strom des Geschehens und den Mitteln und Möglichkeiten, auf breitester, sachlicher Grundlage zur Selbstverständigung darüber zu gelangen. Ihr Herzschlag ist die Sorge um die russische Revolution, über deren Tragweite sich die weitsichtige geschichtliche Denkerin von Anfang an im Klaren war, ist der leidenschaftliche Drang der glutvollen Revolutionärin, mit aufhellender Kritik aktiv einzugreifen. Der Herausgeber hat in seinem “Vorwort” von der Entstehung der Abhandlung erzählt. Rosa Luxemburg schrieb sie nach einem Besuch Paul Levis im September 1918, um diesen davon zu überzeugen, dass — im Gegensatz zu seiner damaligen Meinung — eine kritische Auseinandersetzung des internationalen Kommunismus mit der Politik der Bolschewiki notwendig sei.

Der Herausgeber der Nachlassbroschüre schweigt über anderes, das von dem gleichen Interesse sein dürfte. Nämlich darüber, ob Rosa Luxemburg selbst später die Veröffentlichung ihrer Arbeit gewollt hat. Obgleich sie mir im Sommer 1918 zweimal schrieb, ich möchte bei Franz Mehring auf eine wissenschaftlich-kritische Stellung zur bolschewistischen Politik hinwirken, obgleich sie mir von ihrer eigenen damals beabsichtigten größeren Arbeit darüber Mitteilung machte, hat sie in ihrer weiteren Korrespondenz von dieser Angelegenheit als “erledigt” gesprochen und ist später nie wieder darauf zurückgekommen. Das Warum liegt für jeden auf der Hand, der mit Rosa Luxemburgs Betätigung nach dem Ausbruch der deutschen Revolution vertraut ist. Diese Betätigung ist durch eine Stellungnahme zu den Problemen der Konstituante, Demokratie, Diktatur etc. charakterisiert, die sich in Widerspruch zu der früheren Kritik an der Bolschewikpolitik befindet. Rosa Luxemburg hatte sich zu einer veränderten geschichtlichen Wertung durchgerungen.

Das war der einzige Grund — und meines Dafürhaltens ein zu achtender Grund — weshalb Leo Jogiches sich entschieden gegen die Veröffentlichung der nachgelassenen Kritik erklärt hat. Leo Jogiches war zeitlebens das kritische Gewissen Rosa Luxemburgs, ihr nächststehender und vor allein auch in jeder Hinsicht ihr ebenbürtiger Kampfesgenosse. Er ist die einzige Persönlichkeit, die moralisch und politisch das Recht hatte, gleichsam als Rosas Testamentsvollstrecker zu entscheiden. Und wer des Glücks teilhaftig geworden ist, diesen seltenen Menschen zu kennen, zu kennen in seinem großzügigen, wundervollen Freundschafts- oder Kampfesbund mit Rosa Luxemburg, der weiß genau, dass er in dieser Sache nie eine Meinung geäußert haben würde, wenn er nicht fest überzeugt gewesen wäre, im Sinne und nach dem Willen der Freundin zu handeln. Paul Levi war das alles bekannt; er ist mit nachlässigen Handbewegung über den Willen der beiden großen Toten weggestampft. Das Lob der bürgerlichen und erst recht der sozialdemokratischen “Antibolschewisten” und ihre dreist-demagogische Ausschlachtung der Nachlassbroschüre sagen eindeutig, ob er sich dafür auf das “höhere Recht” der Revolution, des internationalen Proletariats berufen darf.

Paul Levi behauptet schlankweg: “Von gewisser Seite war der Broschüre der Flammentod zugedacht”. Dieses Märlein für artige Kinder, die das Gruseln lernen sollen, machte selbstredend die Runde durch die Blätter, in deren Redaktionen von einem “vernichtenden Schlag” gegen die “dogmatisch starren und verbrecherischen” Bolschewiki geträumt wurde. Die geängstigte Phantasie dort sah sicherlich neben dem brennenden Scheiterhaufen “ketzerischer” Schriften Sinowjew als roten Großinquisitor und Bela Kun nebst Radek als seine schleppenden und schürenden Henkersknechte. Mögen sich die Gemüter der Sanften und Wahrheitsdürstenden beruhigen. Der Flammentod-Legende liegt nichts als dieses zu Grunde: Leo Jogiches — wie erstaunt würde er sein, dass er als “gewisse Seite” heraufbeschworen worden ist! — hatte mich damit beauftragt, in Rosas Schreibtisch sowie in einigen Kisten nach Manuskripten, Briefen etc. zu suchen. Die Ausbeute war gering. Die Noskiden hatten in der Wohnung der “hetzenden Bolschewistin” nach der vandalischen Manier gehaust, die diesen Schützern der Ordnung und des Eigentums Selbstverständlichkeit war. Ich trug gewissenhaft jedes aufgestöberte Blättchen wie ein Heiligtum zu Leo, und wir prüften und besprachen die Funde. Darunter waren einige Seiten mit Stichworten, Hinweisen, abgerissenen Sätzen zu einer Kritik Rosas an der bolschewistischen Politik in der Agrar- oder Nationalitätenfrage. Leo reichte mir diese Blättchen mit der Bemerkung zurück: “Verbrennen Sie das. Es ist zu fragmentarisch, und Rosa hat über diese und andere Fragen der bolschewistischen Taktik ausführlicher geschrieben. Aber auch das soll nicht veröffentlicht werden.”

Ich muss Leo daraufhin wohl fragend und erstaunt angeblickt haben, denn er fuhr fort: “Meinen Sie nicht, aus Rücksicht auf unsere russischen Freunde. Die können noch andere Kritik vertragen. Nein, nein! Wegen Rosas. Sie hat ihre anfängliche Beurteilung der bolschewistischen Methoden und Taktik in wichtigen Punkten wesentlich modifiziert. Was sie darüber in der Schutzhaft zu Breslau geschrieben, ist ein erster, tastender und noch unfertiger Versuch, die russische Revolution wissenschaftlich-kritisch zu bewältigen. Rosa fehlte es in Breslau an genügend dokumentiertem Material. Sie konnte auch keine lebendige Fühlung mit Führern der russischen Revolution haben, die die Dinge aus eigener Anschauung kannten. Als sie nach Berlin kam und den Kampf für die deutsche Revolution aufnahm, ging sie mit Feuereifer daran, sich über die revolutionäre Entwicklung in Russland gründlich zu orientieren. Die deutsche Revolution selbst zwang dazu. Sie stellte vor die Massen die Frage der Diktatur, Demokratie, des Rätesystems etc. Rosa dachte nicht mehr daran, mit ihrer alten Kritik an die Öffentlichkeit zu kommen. Sie hatte die Absicht, eine neue größere Abhandlung über die russische Revolution zu schreiben.”

Leo sprach dann sehr eingehend mit mir über Rosas Nachlass, im Besonderen über ihren literarischen Nachlass, der dem internationalen Proletariat zu erb und eigen gehöre. Er und ich seien die “natürlichen” Verwalter und Testamentsvollstrecker, und wir würden selbstverständlich Adolf Warski und Julius Marchlewski-Karski zur Regelung und Herausgabe heranziehen. Ich konnte es nicht über mich gewinnen, die Blätter zu verbrennen, die Rosas klare, charaktervolle Schriftzüge trugen. Auch meinte ich, die Notizen könnten später einmal von Interesse und Wert sein. Nie ist mir bekannt geworden, dass irgendwer Rosas Kritik “dem Flammentod zugedacht” habe. Wie wäre das auch möglich gewesen! Das Manuskript dazu befand sich bei Paul Levi, bzw. in Händen, die ihm so willig und sicher gehorchen wie seine eigenen.

Die Presse der sozialdemokratischen Koalitionspolitiker und Opportunisten in Deutschland tat, als ob die Welt die Kenntnis “der wahren Meinung Rosa Luxemburgs über die Bolschewisten” als Offenbarung erst Paul Levi verdanke. In Wirklichkeit war es längst bekannt, dass Rosa einzelnen Auffassungen und Maßnahmen der bolschewistischen Politik anfänglich kritisch und ablehnend gegenüberstand. In der Broschüre: “Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches” schrieb Karl Radek voriges Jahr: “Abgeschnitten von der Welt, angewiesen auf sehr spärliche Informationen über die Lage in Russland, war sie voller Angst um die Geschicke der russischen Revolution. Sie fürchtete, dass es dem deutschen Imperialismus gelingen werde, die russische Revolution zu erdrosseln, und von diesem Standpunkt aus stand sie der Taktik der Bolschewiki in der Friedensfrage kritisch gegenüber. Aber während die Kautsky, die sich jetzt unter die Fittiche der Luxemburgischen Kritik des Bolschewismus verschanzen wollen, nicht den Finger rührten, um die deutsche Arbeiterklasse zum wirklichen revolutionären Kampf zu bewegen, dessen Fehlen die gefährliche Situation schuf, in der sich die russische Revolution außenpolitisch befand, endete die Luxemburgische Kritik immer in dem Appell an die deutschen Arbeiter, die sie verantwortlich machte für all die Gefahren, in denen sich die russische Revolution befand. Und deshalb wussten wir immer, wenn wir die Artikel Rosa Luxemburgs im “Spartakus” lasen, dass wir, trotz ihrer Kritik an uns, mit ihr in der Tat einig waren; denn sie suchte in Deutschland die Pflicht zu erfüllen, die wir in Russland erfüllten. Als die November-Revolution ihr die Tore des Gefängnisses öffnete, waren die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und uns zu Ende, wodurch am besten bewiesen war, dass sie nicht prinzipieller Natur waren.”

Als Radek dieses feststellte, kannte er nicht bloß seine Kautskyschen Pappenheimer, die sich unter “die Fittiche der Luxemburgischen Kritik” flüchten möchten, sondern er hatte auch Paul Levi vorausgeahnt, der diesem erhabenen Beispiel “echter Marxisten” gefolgt ist. Wem Radeks Zeugnis in der Sache nicht vollgültig genug ist, der mag darüber in der “Freiheit” nachlesen. Am 20. Januar 1919, fünf Tage nach Rosa Luxemburgs Ermordung, schrieb dort Luise Kautsky in einem “Erinnerungsblatt” — ich kann leider nur sinngetreu zitieren, nicht wörtlich: “Als ich im März 1918 mit Rosa sprach, stand sie dem Bolschewismus noch sehr kritisch gegenüber.” Man sieht: auch in dieser Beziehung gehört das Klappern zum Handwerk.

* Verlag Gesellschaft und Erziehung, Berlin

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