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II. Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution im September 1918

Die russische Revolution, das gewaltigste Faktum des Weltkriegs” / Die russische Revolution, die Angelegenheit des Weltproletariats / “Die elementare Pflicht der Sozialisten, die Schätze an Erfahrungen und Lehren der russischen Revolution zu heben” / Der utopische und gegenrevolutionäre Kern der menschewistischen und Kautskyschen Auffassung der russischen Revolution / Das geschichtliche Verdienst der Bolschewiki / Kritik der bolschewistischen Agrarpolitik / Kritik der bolschewistischen Nationalitätenpolitik / Kritik der bolschewistischen Einstellung zur Konstituante / Kritik des Wahlrechts zu den Sowjets / Kritik der bolschewistischen Politik der proletarischen Diktatur in ihrem Verhältnis zu “Terror” und “Demokratie”

Ist denn der Charakter, der Inhalt, sind denn die Werturteile von Rosa Luxemburgs Kritik tatsächlich danach, dass die Bolschewiki vor ihr zittern müssten wie vor der Posaune des jüngsten Gerichts? Durchaus nicht “vernichtend” für die Politik der führenden russischen Revolutionspartei ist nicht, was Rosa Luxemburg selbst geschrieben hat, “vernichtend” soll vielmehr wirken, was Feinde und Gegner an Gift daraus heraus destillieren. Und zwar nicht bloß für die von ihnen herzlich gehassten “Bolschewiki” und die kommunistischen Parteien der Dritten Internationale, sondern letzten Endes auch für die russische Revolution, die proletarische Revolution überhaupt, — die Herren Möchtegern-Nutznießer der Nachlassbroschüre mögen sich dessen bewusst sein oder nicht. Die Proletarier haben deshalb ein zwiefaches Recht darauf, zu hören, was Rosa Luxemburg ihnen sagt.

Ihre Ausführungen beginnen mit dem im Verlauf der Abhandlung immer wieder aufklingenden Leitmotiv: “Die russische Revolution ist das gewaltigste Faktum des Weltkriegs”.1 Es heißt dann weiter — der sonst so zitaten- oder enthüllungsfrohe “Vorwärts” hat, wie andere auch, die folgenden Sätze weislich verschwiegen .—: “Ihr Ausbruch, ihr beispielloser Radikalismus, ihre dauerhafte Wirkung strafen am besten die Phrase Lügen, mit der die offizielle deutsche Sozialdemokratie den Eroberungsfeldzug des deutschen Imperialismus im Anfang diensteifrig ideologisch bemäntelt hat: die Phrase von der Mission der deutschen Bajonette, den russischen Zarismus zu stürzen und seine unterdrückten Völker zu befreien. Der gewaltige Umfang, den die Revolution in Russland angenommen hat, die tiefgehende Wirkung, womit sie alle Klassenwerte erschüttert, sämtliche sozialen und wirtschaftlichen Probleme aufgerollt, sich folgerichtig vom ersten Stadium der bürgerlichen Republik zu immer weiteren Phasen mit der Fatalität der inneren Logik voranbewegt hat — wobei der Sturz des Zarismus nur eine knappe Episode, beinahe eine Lappalie geblieben ist—, all dies zeigt auf flacher Hand, dass die Befreiung Russlands nicht das Werk des Krieges und der militärischen Niederlagen des Zarismus war, nicht das Verdienst “deutscher Bajonette in deutschen Fäusten”, wie die “Neue Zeit” unter der Redaktion Kautskys im Leitartikel versprach, sondern dass sie im eigenen Lande tiefe Wurzeln hatte und innerlich vollkommen reif war. Das Kriegsabenteuer des deutschen Imperialismus unter dem ideologischen Schilde der deutschen Sozialdemokratie hat die Revolution in Russland nicht herbeigeführt, sondern nur für eine Zeitlang anfänglich — nach ihrer ersten steigenden Sturmflut in den Jahren 1911-13 — unterbrochen und dann — nach ihrem Ausbruch — ihr die schwierigsten, abnormsten Bedingungen geschaffen.”2

Rosa Luxemburg weist darauf “die doktrinäre Theorie” zurück, “die Kautsky mit der Partei der Regierungssozialdemokraten teilt, wonach Russland als wirtschaftlich zurückgebliebenes, vorwiegend agrarisches Land, für die soziale Revolution und für eine Diktatur des Proletariats noch nicht reif wäre.” Ebenso die davon abgeleiteten Schlussfolgerungen, dass in Russland nur eine bürgerliche Revolution möglich und die Koalition von Sozialdemokratie und Liberalismus geschichtliches Gebot sei. Rosa Luxemburg stellt fest, dass “in dieser grundsätzlichen Auffassung der russischen Revolution, aus der sich die Stellungnahme zu den Detailfragen der Taktik von selbst ergibt”, die “Menschewiki” in Russland, “die deutschen Opportunisten” und “die deutschen Regierungssozialisten” sich einträchtig zusammenfinden: “Wenn die russische Revolution darüber hinausgegangen ist, wenn sie sich die Diktatur des Proletariats zur Aufgabe gestellt hat, so ist das nach jener Doktrin ein einfacher Fehler des radikalen Flügels der russischen Arbeiterbewegung, der Bolschewiki, gewesen und alle Unbilden, die der Revolution in ihrem weiteren Verlauf zugestoßen sind, alle Wirren, denen sie zum Opfer gefallen, stellen sich eben als ein Ergebnis dieses verhängnisvollen Fehlers dar.” 3

Rosa Luxemburg fragt nach dem Ergebnis “dieser Doktrin, die vom Stampferischen “Vorwärts” wie von Kautsky gleichermaßen als Frucht “marxistischen Denkens” empfohlen wird. “Theoretisch ist es nach ihr “die originelle “marxistische" Entdeckung, dass die sozialistische Umwälzung eine nationale, sozusagen häusliche Angelegenheit jedes modernen Staates für sich sei”. Praktisch ist es die Tendenz, “die Verantwortlichkeit des internationalen, in erster Linie des deutschen Proletariats, für die Geschicke der russischen Revolution abzuwälzen, die internationalen Zusammenhänge dieser Revolution zu leugnen. Nicht Russlands Unreife, sondern die Unreife des deutschen Proletariats zur Erfüllung der historischen Aufgaben hat der Verlauf des Krieges und der russischen Revolution erwiesen, und dies mit aller Deutlichkeit hervorzukehren, ist die erste Aufgabe einer kritischen Betrachtung der russischen Revolution. Die Revolution Russlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen abhängig. Dass die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Festigkeit, des kühnen Wurfs ihrer Politik.”4

Im Anschluss an diese Darlegungen unterstreicht Rosa Luxemburg die “elementare Pflicht” der Sozialisten in allen Ländern, “durch eingehende, nachdenkliche Kritik” der russischen Revolution deren “Schätze an Erfahrungen und Lehren zu heben.” “Es wäre in der Tat eine wahnwitzige Vorstellung, dass bei dem ersten welthistorischen Experiment mit der Diktatur der Arbeiterklasse und zwar unter den denkbar schwersten Bedingungen: mitten im Weltbrand und Chaos eines imperialistischen Völkermordens, in der eisernen Schlinge der reaktionärsten Militärmacht Europas, unter völligem Versagen des internationalen Proletariats, dass bei einem Experiment der Arbeiterdiktatur unter so abnormen Bedingungen just alles, was in Russland getan und gelassen wurde, der Gipfel der Vollkommenheit gewesen sei.” Unter den geschichtlich für die russische Revolution gegebenen “so fatalen Bedingungen”, können auch der riesigste Idealismus und die sturmfesteste Energie nicht Demokratie und nicht Sozialismus verwirklichen, “sondern nur ohnmächtige, verzerrte Anläufe zu beiden. Nur an einer solchen bitteren Erkenntnis ist die ganze Größe der eigenen Verantwortung des internationalen Proletariats für die Schicksale der russischen Revolution zu ermessen. Andererseits kommt nur auf diesem Wege die entscheidende Wichtigkeit des geschlossenen internationalen Vorgehens der proletarischen Revolution zur Geltung. … Sich kritisch mit der russischen Revolution in allen historischen Zusammenhängen auseinanderzusetzen, ist die beste Schulung der deutschen wie der internationalen Arbeiter für die Aufgaben, die ihnen aus der gegenwärtigen Situation erwachsen.”5

Die erste Periode der russischen Revolution, von März bis Oktober 1917, ist — wie die große englische und französische Revolution — “der typische Werdegang jeder ersten großen Generalauseinandersetzung der im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft erzeugten revolutionären Kräfte mit den Fesseln der alten Gesellschaft. Ihre Entfaltung bewegt sich naturgemäß auf aufsteigender Linie: von gemäßigten Anfängen zu immer gröberer Radikalisierung der Ziele und parallel damit von der Koalition der Klassen und Parteien zur Alleinherrschaft der radikalen Partei.”6

Schon am Tage nach dem ersten Siege der Revolution — der Aufrichtung der demokratischen Republik — entbrannte “ein innerer Kampf in ihrem Schoße um die beiden Brennpunkte: Frieden und Landfrage.” Denn “die treibende Kraft der Revolution war vom ersten Augenblicke an die Masse des städtischen Proletariats. Seine Forderungen erschöpften sich aber nicht in der politischen Demokratie, sondern richteten sich auf die brennende Frage der internationalen Politik: sofortigen Frieden. Zugleich stützte sich die Revolution auf die Masse des Heeres, das dieselbe Forderung nach sofortigem Frieden erhob, und auf die Masse des Bauerntums, das die Agrarfrage, diesen Drehpunkt der Revolution schon seit 1905, in den Vordergrund schob.” Mit der Friedens- oder Landfrage waren die Schicksale der politischen Demokratie, der Republik selbst verknüpft. Die zuerst überrannten und fortgerissenen bürgerlichen Klassen warfen sich nach rückwärts und suchten im Stillen die Gegenrevolution zu organisieren. Der Kaledinsche Kosakenfeldzug gegen Petersburg war der Ausdruck davon. Nach wenigen Monaten hatte sich die Situation zu dem Entweder — Oder entwickelt: “Sieg der Konterrevolution oder Diktatur des Proletariats”.7
“Die russische Revolution hat hier nur bestätigt die Grundlehre jeder großen Revolution, deren Lebensgesetz lautet: entweder muss sie sehr rasch und entschlossen vorwärts stürmen, mit eiserner
Hand alle Hindernisse niederwerfen und ihre Ziele immer weiter stecken, oder sie wird sehr bald hinter ihren schwächeren Ausgangspunkt zurückgeworfen und von der Konterrevolution erdrückt.” Rosa Luxemburg erhärtet dieses Urteil durch das Beispiel der großen englischen und der großen französischen Revolution. Sie schüttet bleibenden Spott aus über “Kautsky und seine Gesinnungsgenossen, die der russischen Revolution ihren “bürgerlichen Charakter” der ersten Phase bewahrt wissen wollten.” In der gekennzeichneten Situation “kann man das Utopische und im Kern Reaktionäre der Taktik ermessen, von der sich die russischen Sozialisten der Kautskyschen Richtung, die Menschewiki — leiten ließen.… Sie klammerten sich verzweifelt an die Koalition mit den bürgerlichen Liberalen, d. h. an die gewaltsame Verbindung derjenigen Elemente, die durch den natürlichen inneren Gang der revolutionären Entwicklung gespalten, in schärfsten Widerspruch zu einander geraten waren. “In dieser Situation gebührt denn der bolschewistischen Richtung das geschichtliche Verdienst, von Anfang an diejenige Taktik proklamiert und mit eiserner Konsequenz verfolgt zu haben, die dem die Demokratie retten und die Revolution vorwärts treiben konnte. Die ganze Macht ausschließlich in die Hände der Arbeiter- oder Bauernmasse, in die Hände der Sowjets, — dies war in der Tat der einzige Ausweg aus der Schwierigkeit‚ in die die Revolution geraten war, das war der Schwertstreich, womit der gordische Knoten durchhauen, die Revolution aus dem Engpass hinausgeführt und vor ihr das freie Blachfeld einer ungehemmten weiteren Entfaltung geöffnet wurde.

Die Lenin-Partei war somit die einzige in Russland, welche die wahren Interessen der Revolution in jener ersten Periode begriff; sie war ihr vorwärts treibendes Element, also in diesem Sinne die einzige Partei, die wirklich sozialistische Politik trieb. …

Die Lenin-Partei war die einzige, die das Gebot und die Pflicht einer wirklich revolutionären Partei begriff, die durch die Losung: alle Macht in die Hände des Proletariats und des Bauerntums, den Fortgang der Revolution gesichert hat.

Die Bolschewiki haben auch sofort als Zweck dieser Machtergreifung das ganze und weitgehendste revolutionäre Programm aufgestellt: nicht etwa Sicherung der bürgerlichen Demokratie, sondern Diktatur des Proletariats zum Zwecke der Verwirklichung des Sozialismus. Sie haben sich damit das unvergängliche geschichtliche Verdienst erworben, zum ersten Male die Endziele des Sozialismus als unmittelbares Programm der praktischen Politik zu proklamieren.

Was eine Partei in geschichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, revolutionärem Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben die Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleistet. Die ganze revolutionäre Ehre und Aktionsfähigkeit, die der Sozialdemokratie im Westen gebrach, war in den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktoberaufstand war nicht nur eine tatsächliche Rettung für die russische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus.

Die Partei der Bolschewiki konnte in der Revolution nur dadurch die Führung und die Macht an sich reiben, dass sie den Mut hatte, die vorantreibende Parole auszugeben und alle Konsequenzen daraus zu ziehen. Wie bei den “Gleichmachern” in England und den ‚Jakobinern” in Frankreich sicherte die “Maßlosigkeit” ihrer Forderungen die Errungenschaften der Revolution und trieb diese weiter. “Aber die konkrete Aufgabe, die den Bolschewiki in der russischen Revolution nach der Machtergreifung zugefallen ist, war unvergleichlich schwieriger als die ihrer geschichtlichen Vorgänger.”8

Rosa Luxemburg prüft, wie die bolschewistische Politik die schwierige konkrete Aufgabe zu lösen versucht hat. Zunächst betreffs der Agrarfrage, auf deren überragende Bedeutung und kompliziertes Wesen sie kurz hinweist. “Gewiss war die Losung der unmittelbaren sofortigen Ergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern die kürzeste, einfachste und lapidarste Formel, um zweierlei zu erreichen: den Großgrundbesitz zu zertrümmern und die Bauern sofort an die revolutionäre Regierung zu fesseln. Als politische Maßnahme zur Befestigung der proletarisch-sozialistischen Regierung war dies eine vorzügliche Taktik. Sie hatte aber leider sehr ihre zwei Seiten, und die Kehrseite bestand darin, dass die unmittelbare Landergreifung durch die Bauern mit sozialistischer Wirtschaft meist gar nichts gemein hat.” Dieses scharfe Urteil wird wie folgt begründet. Die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaft setzt in Bezug auf die Agrarverhältnisse zweierlei voraus: “Zunächst die Nationalisierung gerade des Großgrundbesitzes als der technisch fortschrittlichsten Konzentration der agrarischen Produktionsmittel und -methoden, die allein zum Ausgangspunkt der sozialistischen Wirtschaftsweise auf dem Lande dienen kann. Natürlich braucht man dem Kleinbauern seine Parzelle nicht wegzunehmen. Man kann es ihm ruhig anheim stellen, sich durch die Vorteile des gesellschaftlichen Betriebs zuerst für den genossenschaftlichen Zusammenschluss und dann für die Einordnung in den sozialen Gesamtbetrieb freiwillig zu entscheiden. … “Aber jede sozialistische Wirtschaftsreform auf dem Lande muss selbstverständlich mit dem Groß- oder Mittelgrundbesitz anfangen. Sie muss hier das Eigentumsrecht vor allem auf die Nation, oder, was bei sozialistischer Regierung dasselbe ist, wenn man will, auf den Staat übertragen.” Zweite Vorbedingung ist, “dass die Trennung der Landwirtschaft von der Industrie, dieser charakteristische Zug der bürgerlichen Gesellschaft, aufgehoben wird, um einer gegenseitigen Durchdringung und Verschmelzung beider, einer Ausgestaltung sowohl der Agrar- wie der Industrieproduktion nach einheitlichen Gesichtspunkten Platz zu machen. …

Dass die Sowjet-Regierung in Russland diese gewaltigen Reformen nicht durchgeführt hat, — wer kann ihr das zum Vorwurf machen! Es wäre ein übler Spaß, von Lenin und Genossen zu verlangen oder zu erwarten, dass sie in der kurzen Zeit ihrer Herrschaft, mitten im reibenden Strudel der inneren und äußeren Kämpfe, von zahllosen Feinden und Widerständen ringsum bedrängt, eine der schwierigsten, ja wir können ruhig sagen: die schwierigste Aufgabe der sozialistischen Umwälzung lösen oder auch nur in Angriff nehmen sollten!”… Aber: “Eine sozialistische Regierung, die zur Macht gelangt ist, muss aber auf jeden Fall eins tun: Maßnahmen ergreifen, die in der Richtung auf jene grundlegenden Voraussetzungen einer späteren sozialistischen Reform der Agrarverhältnisse liegen, sie muss zum mindesten alles vermeiden, was ihr den Weg zu jenen Maßnahmen verrammelt.”9

Rosa Luxemburg ist der Überzeugung, dass die Agrarparole der Bolschewiki “geradezu nach der entgegengesetzten Richtung wirken musste.” Sie führte “zur plötzlichen chaotischen Überführung des Großgrundbesitzes in bäuerlichen Grundbesitz. Was geschaffen wurde, ist nicht gesellschaftliches Eigentum, sondern neues Privateigentum, Zerschlagung. … des relativ fortgeschrittenen Großbetriebs in primitiven Kleinbetrieb, der technisch mit den Mitteln aus der Zeit der Pharaonen arbeitet.” Durch die willkürliche Art der Aufteilung wurden die Eigentumsunterschiede und die Klassengegensätze auf dem Lande nicht beseitigt, sondern nur verschärft. “Diese Machtverschiebung hat aber zu Ungunsten der proletarischen und sozialistischen Interessen stattgefunden. Früher stand einer sozialistischen Reform auf dem Lande allenfalls der Widerstand einer kleinen Kaste adeliger und kapitalistischer Großgrundbesitzer, sowie eine kleine Minderheit der reichen Dorfbourgeoisie entgegen, deren Expropriation durch eine revolutionäre Volksmasse ein Kinderspiel ist. Jetzt, nach der “Besitzergreifung”, steht als Feind jeder sozialistischen Vergesellschaftung der Landwirtschaft eine enorm angewachsene und starke Masse des besitzenden Bauerntums entgegen, das sein neu erworbenes Eigentum gegen alle sozialistischen Attentate mit Zähnen und mit Nägeln verteidigen wird. Jetzt ist die Frage der künftigen Sozialisierung der Landwirtschaft, also der Produktion überhaupt in Russland, zur Gegensatz- oder Kampffrage zwischen dem städtischen Proletariat und der Bauernmasse geworden.” Der französische Parzellenbauer, den die Revolution geschaffen, wurde zu deren tapferstem Verteidiger. “Indes der russische Bauer hat, nachdem er vom Lande auf eigene Faust Besitz ergriffen, nicht im Traume daran gedacht, Russland und die Revolution, der er das Land verdankte, zu verteidigen. Er verbiss sich in seinen neuen Besitz und überließ die Revolution ihren Feinden, den Staat dem Zerfall, die städtische Bevölkerung dem Hunger.”10

Rosa Luxemburg ist weiter der Meinung, die Bolschewiki hätten einen Teil der Schuld daran, dass die objektiven Schwierigkeiten der Lage sich verschärften, dass die militärische Niederlage zum Zusammenbruch und Zerfall Russlands wurde. Dies aber “durch eine Parole, die sie in den Vordergrund ihrer Politik geschoben haben: das so genannte Selbstbestimmungsrecht der Nationen oder was unter dieser Phrase in Wirklichkeit steckte: der staatliche Zerfall Russlands”. Die Parole “war ein besonderer Schlachtruf” der Bolschewiki gegen den Imperialismus der Miljukow- oder Kerenski-Regierung; “sie bildete die Achse ihrer inneren Politik nach dem Oktoberumschwung und sie bildete die ganze Plattform der Bolschewiki in Brest-Litowsk, ihre einzige Waffe, die sie der Machtstellung des deutschen Imperialismus entgegenzustellen hatten.”11

Die “Hartnäckigkeit und starre Konsequenz”, mit der Lenin und Genossen diese Parole festhielten — so führt Rosa Luxemburg aus, steht “sowohl in krassem Widerspruch zu ihrem sonstigen ausgesprochenen Zentralismus der Politik wie auch der Haltung, die sie den sonstigen demokratischen Grundsätzen gegenüber eingenommen haben. … Der Widerspruch, der hier klafft, ist um so unverständlicher, als es sich bei den demokratischen Formen des politischen Lebens in jedem Lande, wie wir das noch weiter sehen werden, tatsächlich um höchst wertvolle, ja unentbehrliche Grundlagen der sozialistischen Politik handelt, während das famose
“Selbstbestimmungsrecht der Nationen” nichts als hohle, kleinbürgerliche Phraseologie und Humbug ist. In der Tat, was soll dieses Recht bedeuten? Es gehört zum ABC der sozialistischen Politik, dass sie wie jede Art Unterdrückung so auch die einer Nation durch die andere bekämpft.”
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Eine Art Opportunitätspolitik” nimmt Rosa Luxemburg als Grund dafür an, dass die Bolschewiki “eine hohle Phrase geradezu zu ihrem Steckenpferd machten Sie rechneten offenbar darauf, dass es kein sicheres Mittel gäbe, die vielen fremden Nationalitäten im Schoße des russischen Reiches an die Sache der Revolution, an die Sache des sozialistischen Proletariats zu fesseln, als wenn man ihnen im Namen der Revolution und des Sozialismus die äußerste unbeschränkteste Freiheit gewährte, über ihre Schicksale zu verfügen.”13 Das ukrainische Zwischenspiel bei den Brest-Litowsker Friedensverhandlungen und das Verhalten Finnlands hätte die Bolschewiki bald darüber belehren müssen, dass ihre Rechnung nicht stimmte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen der verschiedenen, dem alten Russland einverleibten Nationen und Völkerschaften mussten das Schlagwort vom “nationalen Selbstbestimmungsrecht” aus als Werkzeug ihrer gegenrevolutionären Klassenpolitik. Das aber sowohl gegen Sowjetrussland, wie gegen die eigenen proletarischen Massen. Die “nationalistische Phrase verwandelte sich in der rauen Wirklichkeit der Klassengesellschaft in ein Mittel der bürgerlichen Klassenherrschaft”. Sie trug in den von Russland losgerissenen Ländern Verwirrung und Lähmung in das Proletariat, das bis dahin in geschlossener Front mit den russischen Arbeitern gekämpft hatte.

Wie kommt es, dass in allen diesen Ländern plötzlich die Konterrevolution triumphiert? Die nationalistische Bewegung hat eben das Proletariat dadurch, dass sie es von Russland losgerissen hat, gelähmt und der nationalen Bourgeoisie in den Randländern ausgeliefert. … Freilich, ohne die Hilfe des deutschen Imperialismus, ohne “die deutschen Gewehrkolben in deutschen Fäusten”, wie die “Neue Zeit” Kautskys schrieb, wären die Lubinskis und die anderen Schufterles der Ukraine, sowie die Erichs und Mannerheims in Finnland und die baltischen Barone mit den sozialistischen Proletariermassen ihrer Länder nimmermehr fertig geworden.

Aber die Bolschewiki haben die Ideologie geliefert, die diesen Feldzug der Konterrevolution maskiert hatte.” Aufgabe der Bolschewiki wäre es gewesen, “die kompakteste Zusammenfassung der revolutionären Kräfte auf dem ganzen Gebiet des Reiches anzustreben, seine Integrität als Revolutionsgebiet mit Zähnen und Nägeln zu verteidigen, die Zusammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit der Proletarier aller Nationen im Bereich der russischen Revolution als oberstes Gebot der Politik allen nationalistischen Sonderbestrebungen entgegenzustellen… Wir haben allen Grund, uns die Politik der Bolschewiki in dieser Hinsicht sehr gründlich anzusehen. Das “Selbstbestimmungsrecht der Nationen”, verkoppelt mit dem Völkerbund und der Abrüstung von Wilsons Gnaden, bildet den Schlachtruf, unter dem sich die bevorstehende Auseinandersetzung des internationalen Sozialismus mit der bürgerlichen Welt abspielen wird.”14

Rosa Luxemburg deutet in einigen Worten darauf hin, dass aus der gekennzeichneten bolschewistischen Politik, die sie für fehlerhaft hält, die Diktatur Deutschlands folgte, “von Brest-Litowsk bis zum Zusatzvertrag, der Terror und die Unterdrückung der Demokratie.” Sie will das an “einigen Beispielen prüfen”: an der Stellung der Bolschewiki zur Konstituante, zum allgemeinen Wahlrecht, zur Demokratie überhaupt, an der Art der Diktatur, der Art und dem Umfang des Terrors.

Nach ihrer Auffassung bedeutet die Auflösung der Konstituante im November 1917 “eine Wendung” in der bolschewistischen Taktik. Die Partei hatte vor ihrem Siege die Konstituante stürmisch gefordert und die Kerenski-Regierung aufs heftigste bekämpft, weil sie die Einberufung der verfassungsgebenden Versammlung verschleppte. Trotzki hatte die Machtergreifung der Sowjets als “die Rettung der Konstituante” erklärt, als den zu ihr führenden “Eingang”. Der erste Schritt nach dem Siege der Sowjets war die Auseinandertreibung der Konstituante. Er wurde damit gerechtfertigt, dass diese lange vor dem entscheidenden Wendepunkt gewählt worden sei und in ihrer Zusammensetzung das Bild der überholten Vergangenheit und nicht der neuen Sachlage widerspiegelte.

Rosa Luxemburg findet “ganz ausgezeichnet und überzeugend”, was Trotzki in diesem Sinne, gestützt auf unbestreitbare Tatsachen, in seinem Schriftchen “Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag” sagt. Die “verjährte, also totgeborene Konstituierende Versammlung” musste kassiert werden. Die Bolschewiki “wollten und durften die Geschicke der Revolution nicht einer Versammlung anvertrauen, die das gestrige, Kerenskische Russland, die Periode der Schwankungen und der Koalition spiegelte. Wohlan, es blieb nur übrig, sofort an ihrer Stelle eine aus dem erneuerten, weitergegangenen Russland hervorgegangene Versammlung einzuberufen.” Man schloss aber “aus der speziellen Unzulänglichkeit der im Oktober zusammengetretenen konstituierenden Versammlung auf die Überflüssigkeit jeder konstituierenden Versammlung”. Ja man ging weiter. Die spezielle Unzulänglichkeit verallgemeinerte man “zu der Untauglichkeit jeder aus den allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Volksvertretung während der Revolution überhaupt”.15

Rosa Luxemburg wendet sich gegen Trotzkis Ansicht, “der schwerfällige Mechanismus der demokratischen Institutionen” komme nicht der Erfahrung und Reife nach, die die Massen aus dem unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt gewinnen. Sie könnten das umso weniger tun, “je größer das Land und je unvollkommener sein technischer Apparat ist”. Sie findet, “dass in dieser Einschätzung der Vertretungsinstitutionen eine etwas schematische, steife Auffassung zum Ausdruck kommt, der die historische Erfahrung gerade aller revolutionären Epochen nachdrücklichst widerspricht. … Jeder lebendige geistige Zusammenhang zwischen den einmal Gewählten und der Wählerschaft, jede dauernde Wechselwirkung zwischen beiden wird hier geleugnet. Wie sehr widerspricht dem alle geschichtliche Erfahrung! Diese zeigt uns umgekehrt, dass das lebendige Fluidum der Volksstimmung beständig die Vertretungskörperschaften umspült, in sie eindringt, sie lenkt”. Rosa Luxemburg beruft sich auf die Wandlungen des “langen Parlaments” in England, der Generalstaaten in Frankreich, auf die Tatsache, dass “in jedem bürgerlichen Parlament zu Zeiten … die verschiedenen Scheidemännchen auf einmal in ihrer Brust revolutionäre Töne finden, — wenn es in den Fabriken, Werkstätten und auf den Straßen rumort. Und diese ständige, lebendige Einwirkung der Stimmung und der politischen Reife der Massen auf die gewählten Körperschaften sollte gerade in einer Revolution vor dem starren Schema der Parteischilder und der Wahllisten versagen? Gerade umgekehrt! Gerade die Revolution schafft durch ihre Gluthitze jene dünne, vibrierende, empfängliche politische Luft, in der die Wellen der Volksstimmung, der Pulsschlag des Volkslebens augenblicklich in wunderbarer Weise auf die Vertretungskörperschaften einwirken. … Der “schwerfällige Mechanismus der demokratischen Institutionen” hat einen kräftigen Konrektor — eben in der lebendigen Bewegung der Masse, in ihrem unausgesetzten Druck. Und je demokratischer die Institution, je lebendiger und kräftiger der Pulsschlag des politischen Lebens der Masse ist, um so unmittelbaren und genauer ist die Wirkung.” Jede demokratische Institution hat ihre Schranken und Mängel, jedoch das bolschewistische Heilmittel, “die Beseitigung der Demokratie überhaupt, ist “noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: es verschüttet nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden können: das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen.”16

Das von der Sowjetregierung ausgearbeitete Wahlrecht wird von Rosa Luxemburg charakterisiert als “ein sehr merkwürdiges Produkt der bolschewistischen Diktatur-Theorie”. Nach ihrer Meinung ist es “nicht ganz klar, welche praktische Bedeutung ihm beizumessen ist. Es steht im Widerspruch zur grundsätzlichen Ablehnung von Volksvertretungen aus allgemeinen Wahlen. “Es ist uns auch nicht bekannt, dass dieses Wahlrecht irgendwie im Leben eingeführt worden wäre. … Wahrscheinlicher ist die Annahme, dass es nur ein theoretisches Produkt, sozusagen vom grünen Tisch her geblieben ist. Jedes Wahlrecht, wie überhaupt jedes politische Recht, ist nicht nach irgendwelchen praktischen Schemen der Gerechtigkeit und ähnlicher, bürgerlichdemokratischer Phraseologie zu messen, sondern an den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen, auf die es zugeschnitten ist. Das von der Sowjetregierung ausgearbeitete Wahlrecht ist eben auf die Übergangsperiode von der bürgerlich-kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsform berechnet, auf die Periode der proletarischen Diktatur.”17 Seine Grundlage ist die Arbeit, es steht nur denen zu, die von eigener Arbeit leben.

Ein solches Wahlrecht hat nach Rosa Luxemburg “nur in einer Gesellschaft Sinn, die wirtschaftlich in der Lage ist, allen, die arbeiten wollen, ein auskömmliches, kulturwürdiges Leben von eigener Arbeit zu ermöglichen”. Ihr scheint, dass diese Voraussetzung für das heutige Russland nicht zutrifft. Bei der gegebenen Situation “liegt es auf der Hand, dass ungezählte Existenzen ganz plötzlich entwurzelt, aus ihrer Bahn herausgeschleudert werden, ohne jede objektive Möglichkeit, in dem wirtschaftlichen Mechanismus irgend eine Verwendung für ihre Arbeitskraft zu finden. Das bezieht sich nicht bloß auf die Kapitalisten- oder Grundbesitzerklasse, sondern auch auf die breite Schicht des kleinen Mittelstandes und auf die Arbeiterklasse selbst”. Ein massenhaftes Abfluten von städtischen Proletariern aufs platte Land findet statt. Wachsende Schichten müssen als Rotgardisten vom Staat aus öffentlichen Mitteln erhalten werden. Andererseits war die Sowjetregierung gezwungen, nationale Industriebetriebe den früheren Eigentümern sozusagen “in Pacht” zu geben, mit den bürgerlichen Konsumgenossenschaften zu paktieren, bürgerliche Fachleute heranzuziehen etc. Rosa Luxemburg kommt zu dem Schluss: “Unter solchen Umständen ist ein politisches Wahlrecht, das den allgemeinen Arbeitszwang zur wirtschaftlichen Voraussetzung hat, eine ganz unbegreifliche Maßregel. … In Wirklichkeit macht es rechtlos breite und wachsende Schichten des Kleinbürgentums und des Proletariats, für die der wirtschaftliche Organismus keinerlei Mittel zur Ausübung des Arbeitszwanges vorsieht. Das ist eine Ungereimtheit, die das Wahlrecht als ein utopisches, von der sozialen Wirklichkeit losgelöstes Phantasieprodukt qualifiziert. Und gerade deshalb ist es kein ernsthaftes Werkzeug der proletarischen Diktatur. Ein Anachronismus, eine Vorwegnahme der rechtlichen Lage, die auf einer schon fertigen sozialistischen Wirtschaftsbasis am Platze ist, nicht in der Übergangsperiode der proletarischen Diktatur.”18

Als Mittel der proletarischen Diktatur fasst auch Rosa Luxemburg unter bestimmten Umständen die politische Entrechtung ins Auge. Sie schreibt: “Als der ganze Mittelstand, die bürgerliche und kleinbürgerliche Intelligenz nach der Oktoberrevolution die Sowjetregierung monatelang boykottierten, den Eisenbahn-, Post- oder Telegraphenverkehr, den Schulbetrieb, den Verwaltungsapparat lahm legten und sich auf diese Weise gegen die Arbeiterregierung auflehnten, dass waren selbstverständlich alle Maßregeln des Druckes gegen sie: durch Entziehung politischer Rechte, wirtschaftlicher Existenzmittel etc. geboten, um den Widerstand mit eiserner Faust zu brechen. Da kam eben die sozialistische Diktatur zum Ausdruck, die vor keinem Machtaufgebot zurückschrecken darf, um bestimmte Maßnahmen im Interesse des Ganzen zu erzwingen oder zu verhindern. Hingegen ein Wahlrecht, das eine allgemeine Entrechtung ganz breiter Schichten der Gesellschaft ausspricht, das sie politisch außerhalb des Rahmens der Gesellschaft stellt, während es für sie wirtschaftlich innerhalb ihres Rahmens selbst keinen Platz zu schaffen imstande ist, eine Entrechtung nicht als konkrete Maßnahme zu einem konkreten Zweck, sondern als allgemeine Regel von dauernder Wirkung, das ist nicht eine Notwendigkeit der Diktatur, sondern eine lebensunfähige Improvisation. Sowohl Sowjets als Rückgrat wie Konstituante und allgemeines Wahlrecht.”19

In Betracht dürfte ferner nach Rosa Luxemburgs Meinung nicht kommen “die Abschaffung der wichtigsten Garantien eines gesunden öffentlichen Lebens, der politischen Aktivität der arbeitenden Massen: der Pressefreiheit, des Vereins- oder Versammlungsrechts, die für alle Gegner der Sowjetregierung vogelfrei geworden sind. … Es ist eine offenkundige, unbestreitbare Tatsache, dass ohne freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- oder Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen völlig undenkbar ist”.20

Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung, die ohne politische Freiheit nie möglich ist. Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei — mögen sie noch so zahlreich sein — ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der “Gerechtigkeit”, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt, und seine Wirkung versagt, wenn die “Freiheit” zum Privilegium wird. Weit entfernt, eine Summe fertiger Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden hätte, ist die praktische Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Systems, eine Sache, die völlig im Nebel der Zukunft liegt. Was wir in unserem Programm besitzen, sind nur wenige grobe Wegweiser, die die Richtung anzeigen, in der die Maßnahmen gesucht werden müssen, dazu vorwiegend negativen Charakters. Wir wissen so ungefähr, was wir zu allererst zu beseitigen haben, um der sozialistischen Wirtschaft die Bahn frei zu machen, welcher Art hingegen die tausend konkreten, praktischen, großen und kleinen Maßnahmen sind, um die sozialistischen Grundsätze in die Wirtschaft, in das Recht, in alle gesellschaftlichen Beziehungen einzuführen, darüber gibt kein sozialistisches Parteiprogramm und kein sozialistisches Lehrbuch Aufschluss. Das ist kein Mangel, sondern gerade der Vorzug des wissenschaftlichen Sozialismus vor dem utopischen: das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann nur ein geschichtliches Produkt sein, geboren aus der eigenen Schule der Erfahrung, in der Stunde der Erfüllung, aus dem Werden der lebendigen Geschichte, die genau wie organische Natur, deren Teil sie letzten Endes ist, die schöne Gepflogenheit hat, zusammen mit einem wirklichen gesellschaftlichen Bedürfnis stets auch die Mittel zu seiner Befriedigung, mit der Aufgabe zugleich die Lösung hervorzubringen.‘‘21

Ist dem aber so”, fährt Rosa Luxemburg fort, “dann ist es klar, dass der Sozialismus sich seiner Natur nach nicht oktroyieren lässt, durch Ukase einführen. Er hat zur Voraussetzung eine Reihe Gewaltmaßnahmen — gegen Eigentum usw. Das Negative, den Abbau, kann man dekretieren, den Aufbau, das Positive, nicht.” Es handelt sich dabei um Neuland, um tausend auftauchende Probleme. “Nur Erfahrung ist imstande, zu korrigieren und neue Wege zu eröffnen. Nur ungehemmt schäumendes Leben verfällt auf tausend neue Formen, Improvisationen, erhält schöpferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe. Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschließung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt. (Beweis: das Jahr 1905 und die Monate Februar—Oktober 1917.)” Die ganze Volksmasse muss an dem neuen Leben Teil nehmen . “Sonst wird der Sozialismus vom grünen Tisch eines Dutzend Intellektueller dekretiert, oktroyiert. Unbedingt öffentliche Kontrolle notwendig. Sonst bleibt der Austausch der Erfahrungen nur in dem geschlossenen Kreise der Beamten der neuen Regierung. Korruption unvermeidlich. (Lenins Worte, Mitteilungsblatt No. 29.) Die Praxis des Sozialismus erfordert eine ganze geistige Umwälzung in den durch Jahrhunderte der bürgerlichen Klassenherrschaft degradierten Massen. Soziale Instinkte an Stelle egoistischer, Masseninitiative an Stelle der Trägheit, Idealismus, der über alle Leiden hinweg trägt usw. usw. Niemand weiß das besser, schildert das eindringlicher, wiederholt das hartnäckiger als Lenin. Nur vergreift er sich völlig im Mittel: Dekret, diktatorische Gewalt der Fabrikaufseher, drakonische Strafen, Schreckensherrschaft, das sind alles Mittel, die diese Wiedergeburt verhindern. Der einzige Weg zu dieser Wiedergeburt ist die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkte, breiteste Demokratie, öffentliche Meinung. Gerade die Schreckensherrschaft demoralisiert.”22

Die Sowjets sollen die einzige wahre Vertretung der arbeitenden Massen sein. “Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muss auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Diesem Gesetz entzieht sich niemand. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft — eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d. h. Diktatur im bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobiner-Herrschaft.” Unter Hinweis auf Erscheinungen der Korruption, der Verwilderung des öffentlichen Lebens auch in Deutschland führt Rosa Luxemburg aus, dass es sich um “ein übermächtiges, objektives Gesetz handle, dem sich keine Partei zu entziehen vermag. Das einzige Gegengift: Idealismus und soziale Aktivität der Massen, unbeschränkte politische Freiheit.”23

Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie”, so heißt es in der Nachlassbroschüre, “ist eben der, dass sie die Diktatur, genau wie Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. “Diktatur oder Demokratie” heißt die Fragestellung sowohl bei den Bolschewiki, wie bei Kautsky. Dieser entscheidet sich natürlich für die Demokratie und zwar für die bürgerliche Demokratie, da er sie eben als die Alternative der sozialistischen Umwälzung hinstellt. Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d. h. für Diktatur nach bürgerlichem Muster. Es sind zwei Gegenpole, beide gleich weit entfernt von der wirklichen sozialistischen Politik. Das Proletariat kann, wenn es die Macht ergreift, nimmermehr nach dem guten Rat Kautskys unter dem Vorwand der “Unreife des Landes” auf die sozialistische Umwälzung verzichten, und sich nur der Demokratie widmen, ohne an sich selbst, an der Internationale, an der Revolution Verrat zu üben. Es soll und muss eben sofort sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff nehmen, also Diktatur ausüben, aber Diktatur der Klasse, nicht einer Partei oder Clique, Diktatur der Klasse, d. h. in breitester Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie.”24

Wir sind nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen, das heißt nur: wir unterschieden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllten stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit — nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem sozialen Inhalt zu füllen. E ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, anstelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als Diktatur des Proletariats.

Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohl erworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen lässt. Aber diese Diktatur muss das Werk der Klasse und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d. h. sie muss auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen.

Genau so würden auch sicher die Bolschewiki vorgehen, wenn sie nicht unter dem furchtbaren Zwang des Weltkrieges, der deutschen Okkupation und aller damit verbundenen abnormen Schwierigkeiten litten, die jede von den besten Absichten und den schönsten Grundsätzen erfüllte sozialistische Politik verzerren müssen. Ein krasses Argument dazu bildet die so reichliche Anwendung des Terrors durch die Räteregierung und zwar namentlich in der letzten Periode vor dem Zusammenbruch des deutschen Imperialismus, seit dem Attentat an den deutschen Gesandten.

Alles, was in Russland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlusssteine das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Russlands durch den deutschen Imperialismus sind. Es hieße von Lenin und Genossen Übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig geleistet, was unter so verteufelt schwierigen Verhältnissen zu leisten war. Das Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen. Wie sie sich damit selbst völlig unnötig im Lichte stehen und ihr wirkliches, unbestreitbares, historisches Verdienst unter den Scheffel notgedrungener Fehltritte stellen, so erweisen sie dem internationalen Sozialismus, dem zu liebe und um dessentwillen sie gestritten und gelitten, einen schlechten Dienst, wenn sie in seine Speicher als neue Erkenntnisse all die von Not und Zwang in Russland eingegebenen Schiefheiten eintragen wollen, die letzten Endes nur Ausstrahlungen des Bankrotts des internationalen Sozialismus in diesem Weltkriege waren.

Mögen die deutschen Regierungssozialisten schreien, die Herrschaft der Bolschewiki in Russland sei ein Zerrbild der Diktatur des Proletariats. Wenn sie es war oder ist, so nur, weil sie eben ein Produkt der Haltung des deutschen Proletariats war, die ein Zerrbild auf den sozialistischen Klassenkampf war. Wir alle stehen unter dem Gesetz der Geschichte und die sozialistische Gesellschaftsordnung lässt sich eben nur international durchführen. Die Bolschewiki haben gezeigt, dass sie alles können, was eine echte, revolutionäre Partei in den Grenzen der historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht Wunder wirken wollen. Denn eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre ein Wunder. Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats, die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt. In dieser Beziehung waren die Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab‘s gewagt!

Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Russland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Russland gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem “Bolschewismus”.” 25

1 Rosa Luxemburg, “Zur russischen Revolution”, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 332-365, hier S. 332. Levis Veröffentlichung, die Clara Zetkin zitiert, weist zahlreiche Ungenauigkeiten auf, deshalb stimmen die Zitate oft nicht wörtlich überein.

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