III

III. Gegen die reformistische Ausnutzung von Rosa Luxemburgs Septemberkritik

Das Leitmotiv der Septemberkritik / Adolf Warskis Auseinandersetzung mit Rosa Luxemburgs Stellungnahme zur bolschewistischen Nationalitätenpolitik und mit Levis Behauptung von dem unverändert festgehaltenen Standpunkt / Der grundsätzliche Unterschied zwischen der Einstellung Rosa Luxemburgs und jener der reformistischen Sozialisten zur “Demokratie” / Die Unvereinbarkeit von Konstituante und Sowjetordnung / Die grundsätzliche Bedeutung des Sowjetwahlrechts / Proletarische Diktatur und Terror als revolutionäre Notwehr / Die Schöpfer, Gläubigen und Nutznießer gegenrevolutionärer Horrorlegenden / Die Wirklichkeit des bolschewistischen Terrors und die konkreten Bedingungen seiner Unvermeidlichkeit / Das Problem der Bürokratie im russischen Sowjetstaat / Das Verhältnis zwischen der bolschewistischen Partei und der Klasse des Proletariats

Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution ist mit aller Treue, sehr ausführlich und in wichtigen Teilen wörtlich wiedergegeben worden. Nur als Ganzes kann sie richtig gewürdigt werden in der festen Geschlossenheit und Einheitlichkeit eines wirklich marxistischen Denkens, das den Wissens- oder Gedankenreichtum meistert und fruchtbare, durchdachte Ausblicke eröffnet; in ihrer Verknüpfung der Vergangenheit mit der Gegenwart und Zukunft als eines geschichtlichen Lebens; in ihrer großen weltumspannenden Linie der internationalen Solidarität der Proletarier aller Länder, des historischen Entwicklungsprozesses.

Nur im Zusammenhang, als integrierender Teil des Ganzen, muss die Kritik an der bolschewistischen Politik erfasst und begriffen werden. Erst unter dieser Voraussetzung erhält sie ihren wahren geschichtlichen Sinn. Dieser ist aber kein anderer, als die Herausstellung der tiefen, unlöslichen Abhängigkeit der russischen Revolution von der Weltrevolution und im Besonderen von der proletarischen Revolution Deutschlands. Die Politik der Bolschewiki — dies Rosa Luxemburgs Grundgedanke — ist mit Irrtümern und Fehlgriffen behaftet, aber unter den geschichtlich gegebenen Umständen muss sie mit Irrtümern und Fehlern behaftet sein, denn es fehlte ihr das große geschichtliche Korrektiv: die proletarische Revolution in Deutschland, in der ganzen Welt. Die scharfe Kritik an wesentlichen Teilen der bolschewistischen Taktik gipfelt in einer vernichtenden Verurteilung der grundsätzlichen Einstellung beider Richtungen der deutschen Sozialdemokratie zur Revolution selbst. Aus der nämlichen Auffassung heraus schrieb Rosa mir im Sommer 1918: “Die Fehler der russischen Revolution können nur beseitigt und überwunden werden im Zusammenhang mit der deutschen Revolution. Die deutsche Revolution weitertreiben, heißt nicht nur die russische Revolution vervollständigen, sondern sie auch vervollkommnen. An den Fehlern der Russen müssen wir immer und immer wieder den Deutschen ihre eigene Haupt- oder Grundschuld zum Bewusstsein bringen.” Wie anders spiegelte sich doch in Rosa Luxemburgs genialem Haupt die Welt, als in den rechnenden, angstschwitzenden Köpfchen offener und verkappter sozialdemokratischer Opportunitätspolitiker, wo die Welt ihre Grenze nicht einmal rings um Deutschland hat, vielmehr schon bei dem Gewerkschaftsverband, der Parteiorganisation und dem Parlamentsmandat!

Die mehrheitssozialdemokratischen und unabhängigen Blätter haben von dem grundsätzlichen und internationalen Finale der Luxemburgischen Nachlassbroschüre geschwiegen. Es musste ihnen wie die Stimme ihres bösen Gewissens klingen. Dafür haben sie sich mit der Gier hungriger Köter auf die kritische Auseinandersetzung mit der bolschewistischen Taktik gestürzt. Sie suchten in dieser Kritik unter Anrufung des Namens Luxemburg eine Rechtfertigung für die großen Tat- oder Unterlassungssünden ihrer Parteien an der Revolution. Was sie zu diesem Zweck aus Rosas Arbeit gemacht haben, verhält sich zu ihr wie eine Vogelscheuche zu einer schönen menschlichen Gestalt. Allerdings: mehrheitssozialdemokratische und rechtsunabhängige Führer bedürfen just nun einer antibolschewistischen Vogelscheuche. Es geht für sie darum, die Arbeiter vor dem zurückzuschrecken, was die ureigensten Interessen der Ausgebeuteten heischen, wozu die Kommunisten auffordern: die Einheitsfront gegen den Kapitalismus und seinen Staat zu schließen.

Rosa Luxemburgs Abhandlung werten, begreift in sich, auch kritisch Stellung zu ihr zu nehmen. In der Tat! “Kritikloses Apologetentum statt nachdenklicher Kritik” hieße das Andenken der ernsten Erkenntnissuchenden verleugnen und schmähen. Genosse Adolf Warski hat sich mit dem beschäftigt, was Rosa Luxemburg gegen die Taktik der Bolschewiki in der Nationalitätenfrage dargelegt hat, ebenso mit Paul Levis Behauptung, dass sowohl in der bolschewistischen Taktik wie in der Einstellung Rosa Luxemburgs dazu der alte Gegensatz zwischen dieser und Lenin weiterlebe, ein Gegensatz, der gelegentlich des Streits um die Organisationsform in der russischen Sozialdemokratie in Rosas Artikel in der “Neuen Zeit” 1904 klar zum Ausdruck gekommen ist: Massenpartei oder kleine, reine Sekte. Adolf Warski steht den russischen Dingen näher als wir alle, er hat als einer der Treuesten und Unentwegtesten an Rosas Seite literarisch und politisch-organisatorisch die langen und bitteren Kämpfe mit durchgefochten, die um die Nationalitäts- oder Organisationsfrage im Lager der mit der revolutionären Bewegung Russlands eng verbundenen russisch-polnischen Sozialdemokratie geführt wurden. Was er gesagt hat, darf besonderes Gewicht beanspruchen.*

Eine Auseinandersetzung mit Rosa Luxemburgs Darlegungen über “die Erdrückung der Demokratie” in Sowjetrussland dünkt mir besonders nötig. Gerade auf diese Darlegungen berufen sich die sozialdemokratischen Gegner und Hasser der Bolschewiki, um sich die eigene bürgerlich unbefleckte politische Tugend zu bescheinigen.

Wir haben die deutsche Konstituante gewollt und ermöglicht, wir haben sie geschützt als unser Allerheiligstes. Wir schwören auf das allgemeine Wahlrecht für “alle Volksgenossen”. Wir glauben an den Parlamentarismus und halten die Räteordnung für eine Wolkenkuckucksheimerei. Wir verabscheuen eine proletarische Klassendiktatur, die sich anderer Mittel bedient als politisch-ethisch-ästhetischer Sonntagsnachmittagspredigten. Wir verfluchen namentlich jeden Terror — mit Ausnahme des Terrors, den der Kapitalismus tagaus tagein gegen das Proletariat ausübt und der bürgerliche Staat mit seinem Gewaltapparat gegen die Kommunisten.” So jubilieren diese Herren und wollen den Massen einschwätzen, dass sie sich mit ihrer Haltung in Übereinstimmung mit Rosa Luxemburg befinden, deren Gemeinschaft sie doch während der Kriegsjahre und Revolutionsmonate scheuten wie der fromme mittelalterliche Christ einen Pakt mit dem Teufel.

Was die Stampfer und Hilferdinge in Rosa Luxemburgs Ausführungen zur Frage der Konstituante, des Wahlrechts, der Diktatur etc. auffassen, loben, zitieren, das ist zumeist “der Herren eigner Geist”. Sie schieben den fundamentalen Unterschied bei Seite, der Rosa Luxemburg von ihrer eigenen Stellung zur “Demokratie” trennt — um unter diesem Begriff die in Betracht kommenden Einzeldinge zusammenzufassen. Für Rosa Luxemburg ist die “Demokratie” vor allem das Mittel, um nach der Revolution, um nach der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und ihre Organisierung in den Sowjets die höchstmögliche Summe von Erfahrungen und Aktivität der breitesten schaffenden Massen lebendig wirkend zu machen für die Behauptung der Macht durch das Proletariat. Das besagt: Behauptung der Macht für die Weiterentwicklung der Revolution im Abbau der bürgerlichen Ordnung und im Aufbau des Kommunismus, der klassenlosen Gesellschaft. Für sie beginnt die Hauptwirksamkeit und Hauptbedeutung der “Demokratie” erst nach dem Kulminationspunkt des Klassenkampfes, nach dem gewaltigen Hammerschlag der proletarischen Revolution. Die “Demokratie”, die sie im Auge hat, ist die reale proletarische Demokratie, die an revolutionäre Zwecke gesetzt wird, nicht aber die formale bürgerliche Demokratie, die Rosa Luxemburg als eine Form mit bitterem sozialen Inhalt charakterisiert. Die “Demokratie” in Rosa Luxemburgs Auffassung kann nur eine Frucht der Revolution sein. Sie ist eroberte und betätigte robuste proletarische Macht und ist ein Ding der Unmöglichkeit, solange der Kapitalismus herrscht und in Wirtschaft und Staat Bindungen für das Wissen, die Erfahrung, die Aktivität der ökonomisch Ausgebeuteten und Unfreien schafft.

Die “Demokratie” der Kautsky, Stampfer und Gesinnungsverwandten dagegen ist ein zeit- oder wesenloser Begriff “an und für sich”. Sobald dieser von den himmlischen Höhen der Schreibtische und Parlamentsreden herabsteigt in die raue, irdische Wirklichkeit der bürgerlichen Klassengesellschaft, wird er Fleisch als formale bürgerliche Demokratie, die für die rebellierenden Lohnsklaven Zuchthäuser, Gummiknüppel und Maschinengewehre hat. Gewiss, dass auch sie dem proletarischen Befreiungskampf nutzbar gemacht werden kann, jedoch ihrer Ausnutzung sind durch die bürgerliche Klassenherrschaft Grenzen gezogen. Letzten Endes ist die bürgerliche Demokratie ein Mittel, die politische Ausbeutung und Beherrschung des Proletariats durch die Bourgeoisie sicher zu stellen, denn sie verleiht ihr den Schein des Rechts, lässt sie als Ausdruck des “Volkswillens” gelten. Und diese bürgerliche Demokratie stellen die Kautskyaner beider sozialdemokratischen Flügel vor die Revolution, vor die Eroberung der Staatsgewalt durch das Proletariat. Sie werten sie als Vorbedingung, als Wegbereiterin des politischen Umsturzes, der proletarischen Diktatur, ja die Voraussetzungslosesten von ihnen erblicken in ihr eine Art “Revolutions-Ersatz”. Die “Demokratie”, so meinen sie, wird durch die papierne Majestät des Stimmzettels die Herrschaftsgewalt der Kapitalisten zertrümmern, die Macht des Proletariats aufrichten und die Bahn freilegen für den Sozialismus.

Den Sozialdemokraten, die als “Götzendiener” der “Demokratie” die bolschewistische Politik verfemen, ist also Rosa Luxemburgs lichtvolle Auffassung meilenfern. Trotzdem können sie mit einem gewissen Schein von Berechtigung auf Rosas Kritik an dieser Politik verweisen. Was in der Nachlassbroschüre über die “Erdrückung der Demokratie” durch die Sowjetregierung steht, das trägt meines Dafürhaltens die Wundenmale von Rosa Luxemburgs Absperrung von dem wilden, heißen, stürmischen Leben der Revolution, die Wundenmale ihres ungenügenden Versorgtseins mit authentischem Material über die Lage und die Vorgänge in Russland. In der Folge ist die im Großen so fest und sicher gehandhabte Methode hier in Einzelheiten nicht mit voller Schärfe zur Anwendung gelangt. Rosa Luxemburg macht es mit Recht Kautsky zum Vorwurf, dass er den Begriff der Demokratie zu starr schematisch erfasst und nicht nach dem hebenden, veränderlichen sozialen Inhalt, mit dem das geschichtliche Leben die Form füllt. jedoch sie selbst hat sich nicht stets ganz frei von einer etwas schematischen, abstrakten Auffassung der “Demokratie” zu halten vermocht.

Allerdings mit dem bezeichnenden Wesensunterschied, der bereits hervorgehoben wurde. Kautskys “Demokratie” ist rückwärts gerichteter, bürgerlicher Art, unter den gegebenen Umständen unrevolutionär, ja gegenrevolutionär. Rosa Luxemburgs “Demokratie” hat vom heißen Herzblut der Revolutionärin getrunken, sie ist vorwärts gewandter, proletarischer Natur, ist revolutionäre Demokratie. Wem würde das Herz nicht beseligt höher schlagen bei Rosas wundervollen, stolz rauschendem Hymnus auf die schöpferische Macht der “Demokratie”. jedoch die “Demokratie”, die er besingt, ist nicht von dieser Welt. Weder von der Welt der bürgerlichen Ordnung, noch von der Welt der proletarischen Diktatur, der harten Übergangszeit vom Kapitalismus zum Sozialismus, Kommunismus. Zumal nicht unter den unerhört schwierigen, ja grausamen Bedingungen, in deren Zeichen diese Übergangszeit für Sowjetrussland sieht. Im Allgemeinen hat Rosa Luxemburg das alles scharf gesehen, voll gewertet. Die Bolschewiki haben das Größte geleistet, was Menschen in ihrer sozialen Gebundenheit in den gegebenen historischen Umständen zu leisten vermögen. Sie konnten nicht über ihre geschichtliche Kraft, konnten nicht “das Wunder” wirken, eine vollkommene, ideale Demokratie durchzuführen. So Rosa Luxemburgs Schlussurteil über die bolschewistische Politik. Bei der kritischen Prüfung von Einzelmaßnahmen dieser Politik, so dünkt mir, wird sie jedoch den konkreten Verhältnissen nicht voll gerecht, die sich dem Wunderwirken widersetzten. Das ist die andere Schwäche ihrer Kritik an der bolschewistischen Politik.

Rosa Luxemburg billigt rückhaltlos, dass die Bolschewiki nach dem Übergang der Staatsmacht an die Sowjets die Konstituante auseinander jagten. Sie missbilligt es aber ebenso entschieden, dass sie nicht sofort Neuwahlen zu einer anderen Konstituante ausschrieben. Sie befürwortet: Sowjets als festes Rückgrat der proletarischen Macht und Konstituante mit allgemeinem Wahlrecht. Die Frage drängt sich auf: welchen Charakter soll die geforderte Konstituante haben, welchem Zweck soll sie dienen? Soll sie eine Institution mit Machtbefugnissen sein, die neben den Sowjets den Interessen und dem Einfluss der bürgerlichen Klassen Geltung verschafft? Dann sind zwischen ihr und den Sowjets Kompetenzkonflikte, Machtkämpfe unvermeidlich, die durch eine übergeordnete Stelle entschieden werden müssen, und am Schlusse taucht wieder die Frage auf, die von der Revolution bereits entschieden ist: Diktatur des Proletariats und der Bauern oder Diktatur der besitzenden Klassen.

Rosa Luxemburg hat offenbar nicht an diesen hemmenden und gefährlichen Dualismus der Macht gedacht. Sie fordert “Sowjets als festes Rückgrat”. Soll also die Konstituante nur repräsentativen, ja dekorativen Charakter haben? Sollte sie zunächst die Sowjets als Frucht des “Volkswillens” formal legitimieren? Aber die Sowjets haben sich bereits mit der Eroberung der Staatsgewalt kraft revolutionären Rechts selbst legitimiert. Wie Lassalle dem deutschen Proletariat zu beweisen bemüht war: “Sei in der Macht, und du wohnest im Recht.” Eine Legitimierung der Sowjets durch die Konstituante wäre einer Anzweiflung ihres Rechts gleichgekommen und unter den gegebenen Umständen sogar einer Antastung, einer Erschütterung ihrer Macht. Soll die Konstituante neben den Sowjets ein politischer Diskutierklub und ein soziales Gutachterkollegium großen Stils sein, mit beratender Stimme, ein Hilfsorgan zur Anregung und Befruchtung der Sowjets und zur Erziehung der bürgerlichen Klassen für die politische, soziale Mitarbeit an dem Aufbau der neuen Ordnung?

Rosa Luxemburg hat diese nahe liegenden konkreten Fragen nicht gestellt. Mir scheint jedoch, dass Sowjetrussland sie bereits beantwortet und damit die bolschewistische Taktik als richtig erwiesen hat. Zugegeben, dass die Einberufung einer Konstituante, dass die Tagung eines Parlaments, hervorgegangen aus dem allgemeinen Wahlrecht, vielleicht den Widerstand und die Sabotage eines Teils der bürgerlichen Klassen, zumal der “Intellektuellen”, geschwächt und überwunden hätte. Dass durch sie den Regierungen der kapitalistischen Staaten ein Vorwand aus der Hand geschlagen worden wäre, die Sowjetmacht nicht anzuerkennen, sich mit deren russischen Todfeinden zu verschwören, die Arbeiter- oder Bauernrepublik zu blockieren und weißgardistische Heere gegen sie zu rüsten und zu unterhalten.

Allein man überschätze nicht den Einfluss so betätigter “Demokratie” auf die nationale und internationale Gegenrevolution. Die besitzenden Klassen aller Nationalitäten sind nicht so genügsam, wie die armen proletarischen Teufel, sie sind kühle, gute Rechner und lassen sich nicht durch den Schein betrügen, wenn es für sie um Herrschafts- oder Ausbeutungsgewalt geht, nicht im Kampfe darum unter einander, und erst recht nicht im Kampfe mit den Habenichtsen. Nationalversammlung, Konstituante und gesetzgebende Versammlung waren während der großen französischen Revolution

kein Schutzwall gegen die Aristokratie und hohe Geistlichkeit, die zur Wiederherstellung der alten Ordnung Verschwörungen anzettelten, die Chouanen der Vendée gegen Paris führten, die Heere des monarchistischen Europas auf ihr Vaterland hetzten. Diese vom “Volkswillen” geschaffenen parlamentarischen Vertretungskörperschaften hielten nicht einmal das bibelfeste England davon zurück — dessen Staatsordnung doch das Geschöpf einer bürgerlichen Revolution war! — mit Truppen und gefälschten Assignaten gegen das revolutionäre Frankreich zu kämpfen. Dass die russische Gegenrevolution sich durch ein Parlament nicht einschüchtern lassen würde, hatte der vor der proletarischen Revolution 1917 drohende zaristisch-militaristische Staatsstreich deutlichst gezeigt. Sie und ihre internationalen Geschwister würden Aug‘ in Auge mit der Sowjetrepublik auch nicht vor einer Konstituante die Waffen niedergelegt haben.

Hingegen wäre sicherlich ein anderes geschehen. Die Konstituante würde zum “legalen” Sammelpunkt und Hort der Gegenrevolution und ihrer Zettlungen in Russland und im Ausland geworden sein. Jedoch noch eine schlimmere Folge als solche unmittelbare Machtstärkung der Gegenrevolution war zu befürchten. Wohl hatte die Losung: alle Macht den Sowjets! die breitesten proletarischen und bäuerlichen Massen unwiderstehlich ergriffen und in die Revolution geführt. Indessen war sie noch nicht dank dem Wirken und Walten der Sowjets als Organen der sozialen Neugestaltung im Bewusstsein der Massen fest, unausrottbar verwurzelt. Die Einberufung einer Konstituante wäre geeignet gewesen, Zwiespältigkeit, Unsicherheit, Schwanken in das Denken und Wollen der Arbeiter und Bauern zu tragen. So drohte bei Wahrung der Formen bürgerlicher Demokratie eine Schwächung, ja Gefährdung der revolutionären proletarischen Demokratie, der Vorstufe vollkommener Demokratie in einer klassenlosen Gesellschaft. Hinter der so harmlos, so realpolitisch klug gleißenden Konstituante lauerte die Diktatur der Bourgeoisie, der Gegenrevolution, bereit, zum Sprunge auszuholen. Der Sowjetregierung musste die proletarische Revolution vor der bürgerlichen Demokratie gehen.

Rosa Luxemburg rügt es, dass in Sowjetrussland das geltende Wahlrecht nicht allgemein, sondern auf diejenigen beschränkt ist, die von eigener Arbeit leben, mit anderen Worten, dass die Ausbeuter der Arbeit vom Besitz des Wahlrechts ausgeschlossen sind. Ihre Ausführungen zu dieser Bestimmung rücken in helles Licht, wie unvollständig hinter den Kerkermauern ihre Information über die russischen Verhältnisse geblieben war. So scheint es Rosa Luxemburg unbekannt gewesen zu sein, dass das eingeführte Wahlrecht ausdrücklich als “provisorisch” erklärt wurde. Es entspricht also der Voraussetzung, bei der auch sie unter proletarischer Diktatur die politische Entrechtung als konkrete Kampfesmaßregel gegen die Bourgeoisie gelten lässt.

Tatsächlich soll der Ausschluss der Nutznießer ausgebeuteter Arbeit eine Kampfesmaßnahme zur Sicherung der proletarischen Macht in Sowjetrussland sein. Mit der Einführung der Räteverfassung war hier der Kapitalismus noch nicht überwunden, es wurde nur der Weg freigelegt, es wurden soziale Kräfte entfesselt, um ihn zu überwinden. Die junge Räterepublik fühlte sich tagtäglich bei ihrer Abbau- oder Aufbauarbeit durch die noch vorhandene wirtschaftliche und soziale Macht der Bourgeoisie gehemmt, ja in ihrer Existenz gefährdet. Durfte sie diese Macht noch durch politische Rechte in den Sowjets stärken? Das wäre darauf hinausgelaufen, diese als Macht- oder Umwälzungswerkzeuge der schaffenden Massen zu entwerten und stumpf zu machen. Dass die politische Entrechtung nicht als “Strafe” bei Sabotage, Verschwörung etc. erfolgte — wie Rosa Luxemburg es für billig hielt —‚ sondern als allgemeine Maßregel, deucht mir taktisch richtig. Vorgesehen ist besser als nachbedacht.

Rosa Luxemburgs Voraussage hat sich nicht erfüllt, dass die von ihr verurteilte Wahlrechtsbestimmung zur politischen Entrechtung wachsender Massen von Arbeitern und Kleinbürgern führe, weil die zerrüttete Wirtschaft Sowjetrusslands nicht allen Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen Beschäftigung zu verbürgen vermöge. Unbestritten, dass bittere wirtschaftliche Nöte Hunderttausende städtischer Proletarier veranlasst haben, der Industrie den Rücken zu kehren und aufs Land abzuwandern. Sie gingen hier keineswegs ihres Wahlrechts verlustig und mehr noch: sie wirkten recht häufig als politische “Gärungsbazillen”, die die Bauernschaft in Bewegung setzten und politisch Gleichgültige in Wahlrechtsnutzende verwandelten. Doch noch andere, bedeutsame Umstände bewirkten ungeachtet des fortschreitenden wirtschaftlichen Verfalls eine Zunahme der Tätigen und Wahlberechtigten.

Die Aufstellung der Roten Armee entzog der Industrie, der Landwirtschaft, allen Zweigen der Wirtschaft und Verwaltung Millionen leistungstüchtiger Männer, die ihr Wahlrecht keineswegs verloren, für die aber Ersatz an den Amboss und hinter den Pflug treten musste. Die Ausrüstung und der Unterhalt des Heeres zwangen dazu, alle wirtschaftlichen Kräfte bis aufs Äußerste anzuspannen, wahre Riesenleistungen, Wunderleistungen zu vollbringen. Der leidenschaftliche Wille zum Aufbau und zur Behauptung Sowjetrusslands wirkte in der gleichen Richtung. Die Verwaltung und Verteilung des Lebensbedarfs im Zeichen des “Kriegskommunismus” erforderte einen sehr großen Personenapparat; andere Sowjeteinrichtungen und Sowjetämter nicht minder. Die großzügigen umfassenden Bestrebungen für Volksbildung — wie sie kein Land und keine Zeit bis jetzt gesehen — schufen vielen Zehntausenden einen Wirkungskreis. Das Nämliche galt von der staatlichen Organisierung des Gesundheitswesens, von der Einrichtung und der Ausgestaltung von Kranken- oder Versorgungshäusern, der Gründung von Mütter- oder Säuglingsheimen, von Kinderhorten, Kindergärten etc. Was an allen Ecken und Enden an den technischen Apparaten und Hilfsmitteln fehlte, das musste möglichst durch Menschenkraft ersetzt werden. Die rasche und umfangreiche Eingliederung der Frau in die gesellschaftliche Wirtschaft und Verwaltung Sowjetrusslands war nicht nur eine Frucht des Prinzips voller Gleichberechtigung der Geschlechter, sondern auch eine Auswirkung des Zwangs, den ungeheuren Bedarf an Arbeitskräften zu decken. Das hat sich jetzt geändert, aber die unfreiwillig Arbeitslosen verlieren ihr Wahlrecht nicht. Noch Anfang Dezember 1920 war Sowjetrussland der einzige moderne Staat, der keine Arbeitslosigkeit als Massenerscheinung hatte.

So vermag ich nicht mit Rosa Luxemburg eine anachronistische Vorausnahme der vollentwickelten kommunistischen Gesellschaft darin zu erblicken, dass in Sowjetrussland der Besitz aktiven und passiven Wahlrechts an die Leistung eigener, nicht ausbeutender Arbeit geknüpft ist. Grundsätzlich aber ist meines Erachtens diese Verbindung wesentlich, ja unerlässlich. Sie bringt den radikalen Bruch mit dem Recht der Vergangenheit zum Ausdruck, den Bruch mit der bürgerlichen Ordnung des Privateigentums. Die bürgerlichen Revolutionen haben die politische Gleichberechtigung des bürgerlichen Vermögens und Einkommens mit dem feudalen Besitz gebracht, aber sie liefen mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln auch die Ungleichheit des Besitzes und die Besitzlosigkeit weiter bestehen. Diesem Stand der Dinge entsprachen die alten Wahlrechtssysteme mit ihren Beschränkungen und Privilegien nach der Steuerleistung, dem Bildungsgrad etc., mit ihrer Entrechtung der schaffenden Volksmassen. Die Einführung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts ist ein Anzeichen, dass im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft die Klasse der ausgebeuteten Besitzlosen empordrängt und soweit zum Bewusstsein ihrer Lage gekommen ist, dass sie die soziale Arbeitsleistung neben dem Besitz als Grundlage politischen Rechts zur Geltung bringt.

Die proletarische Revolution, deren Ziel die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln ist, die Vernichtung der Macht des Besitzes über die Arbeit, der Macht des Besitzenden und Ausbeutenden über den Arbeitenden, muss diesem Umsturz auch in dem politischen Recht Ausdruck verleihen. Das Wahlrecht, das die breite demokratische Basis der gesetzgebenden, verwaltenden und regierenden politischen Macht bildet, muss auf die sozial notwendige und nützliche Arbeit gegründet, muss Wahlrecht der schaffenden Gesellschaftsbürger sein, muss den Ausbeuter und Nutznießer fremder Arbeit ausschließen. Das Wahlrecht zu den Sowjets entspricht dem. Es ist das Wahlrecht des ersten großen Sieges der proletarischen Revolution. Indem diese den bürgerlichen Staat zertrümmerte und die Räteordnung schuf, musste sie auch ein Wahlrecht gleichen geschichtlichen, sozialen Wesens einführen. Wenn die Sowjets Träger und Werkzeuge der politischen Macht, des revolutionären Willens der Arbeiter und Bauern sind, so muss auch dass Wahlrecht zu den Sowjets ein Wahlrecht der Hand- oder Kopfarbeitenden sein. Nicht nur wegen der praktischen Auswirkungen, auch in Hinblick auf die grundsätzliche, die ideelle Bedeutung. Die Proklamierung des Grundsatzes: “Wer nicht arbeitet, wer die Arbeit anderer ausbeutet, darf nicht wählen, darf nicht gewählt werden”, soll den Kapitalisten nicht bloß politisch recht- oder machtlos machen, sondern ihn auch sozial brandmarken, ächten. Sie ist heute eine Maßregel proletarischer Diktatur und sozialer Erziehung, morgen wird sie eine Selbstverständlichkeit sein.

Es ist sehr wertvoll und verdient ernsteste, nachdenkende Aufmerksamkeit, was Rosa Luxemburg in der Nachlassbroschüre kritisch und fragend über die bolschewistische Politik bei der Durchführung der proletarischen Diktatur äußert. Nicht dass es meiner Meinung nach in allen Punkten zutreffend wäre. Seine Bedeutung beruht in anderen. Rosa Luxemburg weist hier eindringlich hin auf viel verschlungene Probleme und riesige Schwierigkeiten, die dem Proletariat erst nach seinem ersten entscheidenden Siege — der Eroberung der politischen Macht — entgegentreten, auf ungeheure Verantwortlichkeiten, die ihm dann mit seiner Diktatur zufallen. Es hieße eine verderbliche Vogelstraußpolitik treiben, wollten die sich gegen den Kapitalismus aufbäumenden Arbeiter, wollten wir Kommunisten den Blick vor dieser schicksalsschweren Perspektive verschließen.

Mit der Ergreifung der Staatsgewalt steht das Proletariat durchaus nicht am Ende seines mühe-, gefahren- oder opferreichen Weges, vielmehr vor neuen, harten Aufgaben und Kämpfen. Aus der Hölle des Kapitalismus kann es nicht mit einem einzigen, gewaltigen, sehnsuchtsgeschwellten Flügelschlag in das kommunistische Paradies fliegen. Es hat das Fegefeuer der Übergangszeit zu durchwandern, und die muss im Zeichen seiner Klassenherrschaft, seiner Diktatur stehen. So wollen es nicht etwa Rachegelüst und Herrschsucht des Proletariats, so zwingt es die Bourgeoisie auf, die sich mit Nägeln und Zähnen gegen die Ausrottung des Kapitalismus und die Aufrichtung der kommunistischen Ordnung wehrt.

Die proletarische Diktatur ist bei Lichte betrachtet Notwehr zum Schutze und für die Weiterentwicklung der Revolution und ihrer Errungenschaften. Sie muss der Bourgeoisie die Macht, die Hoffnung rauben, je wieder mit List oder Gewalt ihre Herrschaft aufrichten zu können. Sie muss Angriffen gegen die neue Ordnung möglichst vorbeugen, und sie muss solche Angriffe niederschlagen. Das siegreiche Proletariat bedarf des Friedens, als Voraussetzung für die Konzentration seiner Kräfte auf das Wegräumen des Schuttes der kapitalistischen Ordnung und auf die Gestaltung der höheren Gesellschaft. Seine Riesenaufgaben fordern äußerste “Menschenökonomie”. Es darf nicht nach dem bluttriefenden Muster des Kapitalismus Menschen vernichten, Menschen verkümmern machen, es muss darauf bedacht sein, möglichst alle zu schöpferischer Arbeit heranzuziehen. Allein:

Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.”

Nach der Aufrichtung des Proletarierstaats noch vorhandene Besitzmacht, kapitalistische Macht, ist und bleibt “ein böser Nachbar”. Die proletarische Herrschaft und Diktatur ist mithin wohl ein Höhepunkt, jedoch nicht der Abschluss der Klassenkämpfe eines Landes. Und Diktatur, Herrschaftsgewalt der einen über die anderen besagt unter Umständen Einschränkung, ja Aufhebung der persönlichen und politischen Rechtsgarantien für die Feinde der geltenden Ordnung, besagt unter Umständen Steigerung der Gewaltanwendung bis zum Terror. Der Charakter und die einzelnen Maßnahmen der proletarischen Diktatur spiegeln das Stärkeverhältnis der Klassen ab, die unter ihr miteinander ringen. Ebenso die Stufe der Reife und Macht, die das Proletariat bereits erreicht hat, wie die Macht und den Widerstandswillen, den die Verteidiger der alten kapitalistischen Welt noch aufbringen. Es liegt auf der Hand, dass die proletarische Diktatur umso milder und großherziger sein kann, je stärker und befestigter die Macht des schaffenden Volks ist, je schwächer und bedeutungsloser die Kraft seiner Feinde.

Die Ausübung der Diktatur selbst ist eines der schwersten Probleme, das vom Proletariat in der Übergangszeit zum Kommunismus bewältigt werden muss. Wo ist die Grenze, bis zu der sich unter der Diktatur des Proletariats eine unvermeidliche Einschnürung, ja Verneinung der allgemeinen staatlichen Rechtsgarantien noch verträgt mit der notwendigen Demokratie, die Lebensluft für die Entwicklung und Betätigung der breiten, schaffenden Massen ist und damit für die Zielerfüllung der Revolution selbst? Wo ist die Grenze, an der Pflicht und Recht der Mehrheit hart zusammenprallt mit Pflicht und Recht der Minderheit, ja des Einzelnen? Wo ist die Grenze, an deren Jenseits das Wohl von Millionen, des Gesellschaftsganzen die äußerste und furchtbarste Gewaltanwendung gebietet — die Auslöschung menschlichen Lebens? Wo diese Gewaltanwendung aufhört, eine sich selbst sühnende Tat sozialer Notwehr zu sein und zum scheußlichen, gemeinen Verbrechen wird, das der Achtung vor dem Wert jedes Menschenlebens widerspricht, die im Gegensatz zum Kapitalismus zu den obersten Gesetzen des Kommunismus zählt?

Das Proletariat wird durch seine Diktatur vor diese und andere Fragen gleicher Natur gestellt. Sie alle treten aber nicht als abstrakte, akademische Preisfragen auf, über die man gemütsruhig diskutiert, um am Ende mit Pilatus in philosophischem Skeptizismus achselzuckend auszurufen: “Was ist Wahrheit?” Sie bedrängen vielmehr das Proletariat und seine verantwortlichen Führer in der Gluthitze des Kampfes mit unerbittlichen, rücksichtslosen Feinden, die danach trachten, das Proletariat in die alte Ausbeutung und Sklaverei zurückzuwerfen. Sie bedrängen es Tag für Tag, gebieterisch Antwort heischend, in konkreter Gestalt. Von der Entscheidung über ein gegenrevolutionäres Flugblatt bis zu Urteilen, die unter qualvollen Gewissenskämpfen gefällt werden.

Das alles im Banne der Revolution, die die alten sozialen Tafeln über die Bindungen von Mensch zu Mensch zerschlägt, ehe noch die neuen, höheren fertig beschrieben sind, in Zeiten, wo der stürmische Wirbel des geschichtlichen Vergehens und Werdens an die Oberfläche reiht, was in friedlichen Tagen in der Tiefe der Menschenbrust und der Gesellschaft ruht. Nicht immer bloß lauteres Gold, auch Schlamm und vulkanische, ausgebrannte Schlacken. Und der Krieg ist ein schlimmer “Erzieher”, mag er zwischen den Völkern oder den Bürgern eines Landes toben. Er reißt die Gitter der Zivilisation, der Menschlichkeit nieder und lässt wilden Bestien gleich Neigungen, Triebe, Leidenschaften hervorbrechen, die den Menschen aus dunkler, tierischer Vergangenheit überkommen sind und für gewöhnlich unter der Schwelle des Bewusstseins schlummern. So sind es schwerste Belastungsproben für die politische und menschliche Reife, die die Diktatur des Proletariats diesem, seiner führenden Partei, jedem Revolutionskämpfer bringt. Gewissenskonflikte, die sich nicht durch Schlagworte und allgemeine geschichtliche Wahrheiten übertäuben lassen, die bei jedem neuen Fall aufs neue durchgerungen werden müssen, und bei denen es um mehr geht, als um die persönliche Seelenruhe der Entscheidenden: um das Wohl der Millionen, deren Schicksal in dem Auswirken der proletarischen Revolution beschlossen liegt.

Rosa Luxemburgs kritische Gedankengänge über die bolschewistische Politik der proletarischen Diktatur sind beherrscht von dem klaren Wissen um die Schwierigkeit des von der Geschichte aufgerollten Problems und der Schwere der Verantwortlichkeit für jene, die sich damit auseinanderzusetzen haben. In knappen Worten, oft nur in Andeutungen spricht dabei ihr historischer Sinn, wie ihre tiefe, reine Menschlichkeit, die so stark des “Daseins unendliche Kette” empfand, die alles Lebende mit einander verbindet. Die gründliche Kennerin der Geschichte der Revolutionen, die scharfsinnige, revolutionäre Denkerin misst die Härten der proletarischen Diktatur und die Furchtbarkeit des Terrors, wie sie ihres Dafürhaltens in der bolschewistischen Politik Ausdruck gefunden haben, nicht an der Elle bürgerlicher Moral. Sie benutzt auch nicht die billige Gelegenheit, um die bolschewistische Politik im Allgemeinen und den Terror im Besonderen “grundsätzlich” entrüstet zu verdammen. Sie ist frei von der sich so überlegen gebärdenden und doch so kindlich-hilflosen Illusion, als ob das von der Gegenrevolution heraufbeschworene, harte geschichtliche Muss sich bannen lasse durch feierliche Eidschwüre für die “Demokratie”, die “gerechte und milde” Handhabung der proletarischen Diktatur und die grundsätzliche Verwerfung des Terrors. Der Terror ist ein taktisches, kein grundsätzliches Problem. Er kann “als Grundsatz” weder beschworen, noch verworfen werden. Er ist geschichtlich zu begreifen aus den jeweiligen tatsächlichen Verhältnissen heraus, unter denen er auftritt.

Rosa Luxemburg betrachtet die bolschewistische Diktaturpolitik in Hinblick auf die Sicherung und Weiterentwicklung der proletarischen Revolution. Ihrer Meinung nach hat diese Politik die oben aufgezeigten Grenzen überschritten und damit besorgniserregende Gefahren für die proletarische Revolution selbst entfesselt, die sie zu verteidigen wähnte. Man erinnere sich der einschlägigen Stellen der Nachlassbroschüre über die “‚Erdrückung der Demokratie” durch die Knebelung der Presse-, Vereins- oder Versammlungsfreiheit; über die schonungslose Bekämpfung der Menschewiki, der Sozialrevolutionäre, kurz aller nicht-bolschewistischen Parteien; den Terror gegen die Bourgeoisie. Diese Stellen sind oben wörtlich wiedergegeben, wie auch die Ausführungen über die nach Rosas Meinung drohenden Folgen der bolschewistischen Politik: die Verarmung und Verrohung des öffentlichen Lebens, das Aufkommen einer selbstherrlichen und korrupten Bürokratie, das Umschlagen der Klassenherrschaft und Klassendiktatur des Proletariat in Parteiherrschaft, in Cliquenwirtschaft, in Diktatorentum Einzelner. Die allgemeinen Schlussfolgerungen, die Rosa Luxemburg mit der ihr eigenen unerbittlichen Logik zieht, stehen fest wie Mauern. Allein es fragt sich doch: ist die konkrete Grundlage ebenso fest, auf die sie aufgebaut sind, von der sie ausgehen? Das ist die Frage, deren Beantwortung für das Urteil über die bolschewistische Politik entscheidend ist.

Im Gegensatz zu ihrer Arbeitsgepflogenheit, allgemeine Schlüsse durch Tatsachen zu begründen, lässt es Rosa Luxemburg in ihren Darlegungen über die Ertötung des öffentlichen Lebens in Sowjetrussland durch die bolschewistische Politik an tatsächlichem Beweismaterial fehlen. Sie gibt eine allgemeine Charakterisierung und ein einziges Beispiel. Die 200 “Sühneopfer” der sozialrevolutionären Verschwörung, die zur Ermordung des deutschen Gesandten von Mirbach führte. Dieser Fall soll in einem anderen Zusammenhang erörtert werden. Das eine Beispiel, so erschütternd es ist, dünkt mir als Beweismaterial mager.

Was bedürfen wir des weiter Zeugnis?” werden die patentierten Schützer der “Demokratie” ausrufen. Sie alle, von Miljukow bis Crispien, über Stampfer und Martow, die unter Kautskys hohepriesterlicher Führung auf den Bolschewismus deutend, den Regierungen der Ententeimperialisten zukreischen: “Kreuziget ihn! kreuziget ihn!” Für sie ist der vollgültige Beweis für die bolschewistische Terrorschuld erbracht durch das, was die russischen “Antibolschewisten” jeder Schattierung darüber in Umlauf gesetzt haben. Durch die Beschuldigungen, Verwünschungen, Beschimpfungen, Klagen und Anklagen, die gegen die “Bolschewiki” erhoben werden von Liberalen, Demokraten, Menschewiki, Sozialrevolutionären, Volkstümlern, kurz von allen Parteien, von deren Politik die Arbeiter und Bauern in der Novemberrevolution erklärten: “Gewogen und zu leicht befunden”. Dazu der Chor von Großgrundbesitzern, Fabrikanten, Großkaufleuten, Finanziers, Spekulanten, Wucherern, für die das Land des “Umsturzes” eine Stätte des Grausens wurde, weil die proletarische Staatsgewalt die respektlose Faust nach dem Eigentum dieser Herrschaften ausstreckte, und die flüchteten, so viel als möglich von ihrem Reichtum mit freundlicher Hilfe der deutschen Gesandtschaft über die Grenze verschiebend, oder “die in Kellerlöchern zitterten”, wo sie ängstlicher als ihr Leben ihre Schätze hüteten.

Sind sie einwandfreie, “voraussetzungslose” Zeugen oder vielmehr Partei, die da als Ankläger der “bolschewistischen Gewalt- oder Blutherrschaft” die “öffentliche Meinung” der Welt bestürmen?

Die Frage stellen, heißt sie beantworten. Kein Zweifel: man muss auch die Ankläger der bolschewistischen Politik hören, um ein richtiges Bild von der russischen Revolution zu gewinnen. Jedoch man darf nun und nimmer einzig und allein auf ihre Aussagen hin urteilen und richten. Wer würde so leichtfertig, töricht und ungerecht sein, eine Geschichte der großen französischen Revolution zu schreiben, der kein anderes Material zu Grunde läge, als die Schauermären, Anekdötchen und Beschwerden der emigrierten Adligen und Geistlichen, die bei den deutschen Fürsten und ihren braven obrigkeitlichen Untertanen den Vernichtungswillen gegen das “Teufelswerk” in der Heimat schürten?

Man darf verschiedenes nicht vergessen, wenn man zu einigermaßen richtiger Bewertung der Anschuldigungen kommen will, mit denen die Lüfte erschüttert werden von “expropriierten Expropriateuren”, sei es aus der Wirtschaft, sei es aus der Staatsgewalt Sowjetrusslands. Den unversöhnlichen Hass derer, die im Götzenbild der “Demokratie” das goldene Kalb anbeten, die der entschwundenen Herrlichkeit raffender Ausbeutungsmacht nachtrauern. Die bittere Enttäuschung ehrlich überzeugter bürgerlicher und sozialdemokratischer Illusionäre darüber, dass ihre alleinseligmachenden Wunderrezepte gesellschaftlicher Erneuerung von den “stumpfsinnigen und irregeführten Massen” zurückgewiesen wurden, und dass diese ihnen “die großen politischen Formeln und das brutale Diktat” der Bolschewiki vorzogen. Die besonders vergiftete Atmosphäre, die der langjährige Kampf zwischen den Sozialdemokraten verschiedener Richtungen geschaffen hatte, eine Atmosphäre, die durch die Revolution mit überreichem Zündstoff geladen werden musste. Politische Bruderkämpfe pflegen die erbittertsten aller Kämpfe zu sein, weil von den verschiedenen Seiten mit der gleichen leidenschaftlichen Überzeugungsfestigkeit gerungen wird und in dem Hass ein Stück enttäuschter Liebe mitschwingt.

Die russischen “Antibolschewisten” aber hatten in ihren Reihen geschickte, ja geriebene Politiker, soziale und sozialdemokratische Gelehrte von internationalem Ansehen, Schriftsteller von Talent und mit Beziehungen in aller Herren Länder. Hunderterlei Mittel und Wege standen ihnen zu Gebot, um trotz der “Tscheka” und der Isolierung, der Blockade Sowjetrusslands die “Wahrheit über die jakobinisch-bonapartistische Diktatur der Bolschewiki” in alle Winde zu senden. Ihre beweglichen Klagen, ihre “annehmbaren”, “vernünftigen” Ansichten und Ziele oder auch ihr Gold öffneten ihnen außerhalb ihrer Heimat die Türen ungezählter Redaktionen und Empfangszimmer “führender Persönlichkeiten”. Sie fanden in allen Staaten den Schutz und die Unterstützung der bürgerlichen Parteien und Regierungen, die davor zitterten, auch bei ihnen könnten die Ausgebeuteten beginnen, mit ihren Unterdrückern “russisch” zu reden. Sie wurden begönnert von den sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Arbeiterführern, die die kühne Tat der Bolschewiki als den groben geschichtlichen Vorwurf ihres eigenen Verzichts auf den proletarischen Klassenkampf, auf die Revolution empfinden.

Und für die Lwow, Kerenski, Alexinski, Tschernow, Zeretelli, Martow, Abramowitsch und tutti quanti war der “Sturz der bolschewistischen Schreckensmänner” Inhalt und Ziel der Politik. Sie hatten nichts anderes zu tun, als in irgendeiner Weise auf ihn hinzuarbeiten. Die “dogmenfanatischen Fortsetzer der blutigen Zarenherrschaft in revolutionärem Gewand” spannten derweilen alle Kräfte an, neben sich auf in verzehrenden Sorgen, Mühen, in Kämpfen gegen die Zettelungen der einheimischen Gegenrevolutionäre und gegen die Gewalt und Intrigen der internationalen lmperialisten, um Sowjetrussland aufzubauen und zu schützen. Hundert Verdächtigungen, Beschuldigungen gegen sie und ihr Werk erregten die Gemüter, ohne dass sie eine jede zurückweisen konnten.

Dabei war unter den beredten Anwälten der von den Bolschewiki “erdrosselten Rechtsgarantien” kaum einer, der nicht mitgewirkt oder es wenigstens schweigend geduldet hatte, als unter der Regierung der Liberalen und unter der “reinen Demokratie” der Kerenski-Regierung die beschworenen politischen Freiheiten auf dem Papier blieben, die Kerker sich mit Bolschewiki füllten, rebellierende Bauern und demonstrierende Arbeiter niedergeknallt und Soldaten zu Tausenden gestandrechtelt, mit Maschinengewehren in die imperialistische Offensive getrieben wurden. Auch die Kautsky der verschiedenen sozialdemokratischen Richtungen haben in allen Sprachen zu dieser “Schändung und Meuchelung der Demokratie” in Russland geschwiegen. Genau so wie später zu der Gewalt- oder Schreckensherrschaft in dem “Musterstaat” Georgien, den die harmonisch vereinten Menschewiki und bürgerlichen Demokraten mit englischer Hilfe und unter englischem Protektorat errichtet hatten. Natürlich ließen diese unparteiischen Vertreter der Weltgeschichte die beleidigte und misshandelte “Demokratie” in der folgenden Zeit umso ausgiebiger zu ihrem Recht kommen. Nämlich erst, nachdem die Arbeiter und Bauern Georgiens sich mit Hilfe Roter Truppen von der Ausbeutung und Knechtschaft durch diese .‚Demokratie” befreit hatten. Vor der “ganzen zivilisierten Menschheit” und den beiden “schönen” Internationalen im Besonderen erhoben dann die vertriebenen Gralshüter flammende Anklage gegen die bolschewistische Gewalt. Im politischen Kampf nimmt jede Partei und jeder Politiker als “heiligstes Recht” in Anspruch, was dem Gegner als Verbrechen ins Schuldbuch geschrieben wird.

Die vorstehenden Hinweise mögen manchem abwegig von Rosa Luxemburgs weit zielenden Darlegungen erscheinen. Allein sollen nicht auch sie und gerade sie um des teuren Namens willen der Bolschewistenhetze nutzbar gemacht werden? Und wird diese just nicht in diesen Tagen mit lautestem Hurra betrieben? Namentlich in Deutschland, aber auch auswärts. An ihr sind beteiligt alle kapitalistischen Elemente, die den höchsten Preis — d. h. die größte Ausbeutungsmöglichkeit — aus der Anerkennung der Sowjetregierung herausschlagen möchten, zu der die Staaten früher oder später durch die Zerrüttung der Weltwirtschaft gezwungen werden. Ihr stürzen mehrheitssozialdemokratische und unabhängige Führer voraus, die die Koalition mit Stinnes der von den Kommunisten geforderten proletarischen Einheitsfront vorziehen und den einheitlichen internationalen Aufmarsch des Proletariats vereiteln möchten, zu dem die Exekutive der Dritten Internationale aufgerufen hat. Kennzeichnend dafür war die politische Ächtungs- oder Fluchszene, die im übelsten melodramatischen Stile über die Bühne des Leipziger Parteitags der USP gegangen ist, mit dem Menschewik Abramowitsch als Heldentenor und begleitet von Crispiens salbungsvollem Geschluchz. Mehr als 300 Menschewiki, so wurde “enthüllt”, sollten als Märtyrer ihres Bekennermuts in dem Moskauer Gefängnis durch die entsetzlichsten Qualen und die drohende Verschickung nach Turkestan zum Hungerstreik getrieben worden sein. Ein Radiogramm aus Sowjetrussland stellte fest, dass 34 Menschewiki wegen konterrevolutionärer Handlungen aus Moskau ausgewiesen werden sollten, mit der freien Wahl, sich in einer bestimmten Stadt der Gouvernements Twer, Woronesch und Jaroslawl niederzulassen oder auf Kosten der Sowjetregierung ins Ausland zu gehen. Was verschlägt diese Feststellung? Die Lüge hat in einem verklärten Leibe fröhliche Urständ gefeiert und wird ihren Weg durch die Welt machen.

Die schaurigen und rührsamen Meldungen von der fanatischen Unduldsamkeit der Bolschewiki, von ihren “grausamen Verfolgungen Andersdenkender”, von der Brachlegung der besten Kräfte des Landes und so fort wird durch eine Tatsache hell beleuchtet. In den Schulen, Bildungs- oder Erziehungsanstalten jeder Art, in den Horten, Heimen, Krankenhäusern, an den Universitäten, in allen Sowjetinstitutionen, in der Leitung großer wirtschaftlicher Unternehmungen: überall wirken sehr viele “Parteilose” und Anhänger der verschiedensten politischen Richtungen. Sehr häufig bilden sie die Mehrzahl der hier Tätigen und haben die einflussreichsten Posten inne. Sie machen aus ihrer nichtkommunistischen Überzeugung kein Hehl und üben die schärfste Kritik an den Zuständen. Davon kann sich jeder überzeugen, der unbefangenen Auges die Verhältnisse prüft. Was schädigend auf Sowjetrusslands Leben gelastet hat, das ist die Sabotage der “Intellektuellen” gewesen, es war und ist nicht die Ausschaltung von “Arbeitswilligen” wegen ihres politischen Bekenntnisses. Wie wäre es auch anders möglich angesichts des Riesenbedarfs an geschulten, tüchtigen Kräften auf allen Gebieten? Die bolschewistischen “Ketzerverbrenner” konnten in dieser Hinsicht keinen Zwang ausüben, umgekehrt, sie selbst standen unter einem Zwang, und sie haben sich angelegen sein lassen, den Leistungsfähigen die Möglichkeit zu schaffen, durch die Betätigung ihrer Gaben und ihres Könnens das soziale Leben Sowjetrusslands zu bereichern und zu befruchten.

Der große Konflikt zwischen den Intellektuellen und der Sowjetregierung zu Anfang der proletarischen Diktatur hatte mit “vergewaltigter Meinungsfreiheit” nicht das Geringste zu tun. Er halte seine Wurzel in der grundsätzlichen Bewertung der Kopfarbeit als gesellschaftlich notwendiger und nützlicher Arbeit schlechthin, ohne Differenzierung von der Handarbeit und in der entsprechenden gleichen Entlohnung. Er wurde gelöst, wie er angesichts der Lage in der Übergangszeit gelöst werden musste: durch die veränderte unvermeidliche “realpolitische” Einstellung der Bolschewiki zu dem Problem. Wenn man in diesem Fall von “vergewaltigter Meinung” sprechen will, so dürfte man nur von dem unterlegenen “Kommunistischen Dogma” der sozialen Gleichwertigkeit von Kopf- oder Handarbeit reden. In diesem Kampfe ging es den “‚Intellektuellen” um weit realere Dinge, als die “demokratische Meinungsfreiheit”: um ihre soziale Vorrechtsstellung, um höheres Gehalt. Ihre rücksichtslos gebrauchte Waffe im Kampfe war ihre soziale Macht, beruhend in der Unentbehrlichkeil und Bedeutung ihrer Leistungen und keineswegs die “Demokratie”. Und nicht wenige der Intellektuellen nutzten die aufgerollte Streitfrage ihrer Meinung entsprechend aus zum schärfsten Kampf gegen die bolschewistische Politik und die Diktatur des Proletariats. Es kam ihnen auf den Sieg an gegen die Meinung der anderen. Doch zurück.

Die Entwicklung der Dinge hat Rosa Luxemburgs Besorgnis zerstreut, die harten politischen Diktaturnotwendigkeiten würden die junge Räterepublik der schaffenden und anregenden wertvollen und unentbehrlichen Mitarbeit von Männern und Frauen der verschiedensten Meinungen berauben. Diese Diktaturnotwendigkeiten haben sich nicht wider die Meinung gekehrt, sie haben nur gegenrevolutionäre Umtriebe getroffen, und sie mussten sie treffen, wenn Sowjetrussland leben sollte.

Damit ist bereits gesagt, dass die bolschewistische Diktaturpolitik kein “Kindersüßen” sein konnte. Es wäre absurd, sich und anderen einreden zu wollen, sie habe sich bis nun in den Formen milder, erzieherischer politischer Väterlichkeit bewegt. Nein, sie musste öfter als den führenden Bolschewiki lieb war, mit eiserner Faust dreinfahren, um die schwer gefährdete Herrschaft des Proletariats sicher zu stellen. Gewiss! Nicht alle Maßnahmen der proletarischen Diktatur werden Muster politischer Klugheit und abstrakter “ewiger” Gerechtigkeit gewesen sein. Einzelne revolutionäre Kommissare mögen manches Mal ohne politischen Verstand Schreckensurteile verfügt haben und ohne empfindende Menschlichkeit haben vollstrecken lassen. Das Gefühl der jahrhunderlelangen Peinigung der werktätigen Massen durch die “Herren” hat sich mancherorts in Gräueltaten gegen die “Bourgeois” entladen. jedoch all das sind Begleiterscheinungen jeder Revolution und nicht besondere Auswirkungen des besonderen Systems bolschewistischer Politik. Der “Terror” hat unter den Anarchisten, Sozialrevolutionären, Menschewiki und auch unter den bürgerlichen revolutionären Märtyrer geschaffen, die für Taten ehrlicher Überzeugung in den Tod gingen oder die Gefängnisse füllen. Die Leichen der Gefallenen und Gerichteten wurden lorbeerbekränzt durch die Presse aller “Demokraten” und “Ordnungsfreunde” getragen, die Stampfer und Hilferding inbegriffen. An die Kerkertore der Inhaftierten pochen die Flüche gegen die “bolschewistischen Schreckensmänner”. Unbeachtet und unbeklagt von der “öffentlichen Meinung” bleiben die zahlreichen hingebungsvollen Bolschewiki, Kommunisten, die durch Attentate von Anarchisten und Sozialrevolutionären gemeuchelt wurden, bleiben die vielen Tausende revolutionärer Kämpfer und Kämpferinnen, die als Opfer gegenrevolutionärer Verschwörungen und Aufstände gefallen sind.

Die gerechten und weisen Richter der “bolschewistischen Gewaltherrschaft und Schreckensmethoden” lassen gewöhnlich eine Tatsache im Schatten. Und doch ist sie die Grundtatsache aller Erscheinungen, über die sie ihren Spruch fällen. Wie in jeder Revolution, so ist auch unter der proletarischen Diktatur in Sowjetrussland der rote Terror die Antwort auf den weißen Terror, ist Notwehr. Die Aufrichtung des Rätestaats brachte nicht den inneren Frieden, sondern den erbittertsten, leidenschaftlichsten Bürgerkrieg. Ihr folgten auf dem Fuße die Intellektuellensabotage, folgten tausend tückische, heimliche und offene Widerstände gegen die neue Ordnung, Verschwörungen, Aufstände, Verwüstungszüge zaristischer Generäle, all dies gesegnet, unterstützt und organisiert von den Sozialrevolutionären und anderen Anbetern der bürgerlichen Demokratie. Die gefahrenreiche Situation verschärfte sich durch die Einbrüche imperialistischer Truppen aus den Randstaaten, durch die Blockade und die großen Feldzüge, die vom Gold der Entente bezahlt wurden. Revolution und Gegenrevolution blickten einander ins Weiße der Augen. Die Sowjetregierung musste tun, was Karl Marx als die erste Aufgabe jeder Revolutionsmacht bezeichnete: “Feinde niederschlagen”. Das sollten mindestens die echten, überlegenen “marxistischen” Strategen der Weltgeschichte begreifen.

Gerade in der Zeit, wo die bolschewistische Diktaturpolitik Rosa Luxemburgs Bedenken wachrief, konnten die bürgerlichen Feinde, wie die menschewistischen und sozialrevolutionären Gegner nicht mit Samthandschuhen angefasst werden. Wahrscheinlich war die proletarische Staatsmacht, war die proletarische Revolution in Sowjetrussland nie von schwereren Gefahren bedräut, als damals. Zu allen anderen Erscheinungen des Bürgerkrieges trat der Tschechoslowakenaufstand Die Verschwörung der Sozialrevolutionäre, die dem Grafen Mirbach das Leben kostete, war in Wirklichkeit gegen die Sowjetmacht gerichtet. Sie sollte durch die Ermordung des deutschen Gesandten den Blut- oder Schwertfrieden von Brest-Litowsk zerreißen und die Regierung stürzen, die ihn geschlossen. Die todsichere Wirkung des Erfolges — von den russischen Imperialisten gewollt — wäre der Wiederausbruch des Krieges mit den Zweibundmächten gewesen. Was aber besonders wichtig für die Beurteilung der furchtbaren Lage des Sowjetstaats ist: Dieser verfügte damals nur über zusammenhangslose Trümmer einer bewaffneten Macht. Noch war die Rote Armee nicht organisiert, die starke Schutzwehr von Sowjetrusslands Freiheit und Leben.

In Verbindung mit diesen Tatsachen muss das Schreckensdrama der 200 “Sühneopfer” betrachtet werden. Das Herz schreit auf bei dem Gedanken an sie. Was müsste es tragen und klagen, wenn die nicht rechtzeitig mit eiserner Unerbittlichkeit niedergeschlagene Verschwörung ihr Ziel erreicht, wenn der stärker entflammte Bürgerkrieg Zehntausende und Zehntausende, der aufs neue entbrannte imperialistische Krieg Hunderttausende von Opfern verschlungen hätte? Härte hat in diesem Fall größtes Unheil verhütet. Die so verlästerte bolschewistische Schreckensherrschaft hat um viele Tausende weniger Menschenopfer gekostet, als die jetzt auch von Bürgerlichen verherrlichte große französische Revolution, wie in deren Verlauf erheblich weniger Menschen vom Terror vernichtet worden sind, als zur Ehre des feudalen Frankreichs in jedem Jahr gehenkt, geköpft, gerädert und eingekerkert wurden.

Wegen des unter der proletarischen Diktatur vergossenen Bluts den “Bolschewiki” und ihren Kampfesmethoden entrüstet zu fluchen, dazu hat niemand ein Recht, der Nutznießer und Schützer der bürgerlichen Ordnung ist, dieser fühllosesten und unersättlichsten Menschenfresserin. Dem Goldstrom des kapitalistischen Profils parallel läuft tagaus tagein auch im Frieden ein Blutstrom. In den letzten Jahren vor dem Weltkriege zählte man auf dem Schlachtfelde der Arbeit in Deutschland allein im Jahresdurchschnitt eine halbe Million Verwundeter, davon gegen 150.000 Schwerverwundete, von denen viele zeitlebens Krüppel blieben; 10.000 Tote Zeugten wider die kapitalistische Profitsucht. Von den Blutopfern des bolschewistischen Schreckensregiments sollten namentlich die reformistischen Führer der Arbeiterparteien und Gewerkschaften schamvoll schweigen, die Arm in Arm mit der Bourgeoisie und zu ihrem Nutz und Frommen die Arbeiter in das Blutmeer des Weltkrieges geführt haben. Ganz besonders in Deutschland, wo an den Händen der Ebert, Noske und Konsorten das Blut der gefallenen und gemeuchelten Revolutionskämpfer klebt, darunter das von Rosa Luxemburg, in deren Schatten sie sich niederhocken, um bubenhaft Beschimpfungen gegen Sowjetrussland zu schleudern.

Hinter dem Abscheu mehrheitssozialdemokratischer und unabhängiger Führer vor dem “Terror” und den “brutalen Gewaltmethoden” der russischen Kommunisten verbirgt sich letzten Endes die Abneigung gegen die Revolution selbst. Wer die Revolution will, der darf vor ihren “Maßlosigkeiten”, “Auswüchsen” und “Schrecken” nicht zurückbeben. Die Revolution ist ein Ganzes. Auch der Klügste und Stärkste ist außer Stande, nur ihre “guten Seiten” herauszunehmen und die schlechten verächtlich mit dem Fuße fort zu stoßen, um eine “gereinigte, schöne” Revolution zu haben. Rosa Luxemburg, die in der Vergangenheit und Gegenwart mit wissenschaftlichem Geist und revolutionärem Herzen las, um Schlüsse für die Zukunft zu gewinnen, war sich dessen klar bewusst. Auch als der Chimborasso der antibolschewistischen Anschuldigungen und Verleumdungen seinen Schatten bis in ihre Breslauer Gefängniszelle warf, ist sie nicht mit sittlichem Naserümpfen und politischer Klugrederei von der bolschewistischen Taktik grundsätzlich abgerückt, sondern sie hat sich darauf beschränkt, ihre Grenzen und ihre Zweckmäßigkeit kritisch untersuchen zu wollen. Sie wäre nicht die gewissenhafte Forscherin und Kämpferin gewesen, hätte sie nicht dabei ihre volle Sehschärfe darauf gerichtet, in dem Gewirr sich kreuzender, widerspruchsvoller Tendenzen des alten und des neuen geschichtlichen Lebens zu unterscheiden, was ihrer Ansicht nach die proletarische Revolution zu sichern oder aber zu gefährden vermag.

In dieser Beziehung ist besonders beachtlich, was Rosa Luxemburg über die Gefahr einer überwuchernden Bürokratie sagt, sowie einer Verengerung der proletarischen Klassenherrschaft zur Partei- oder Cliquenwirtschaft. Allerdings setzt sie die befürchtete Entwicklung meines Erachtens zu ausschließlich auf die Schuldseite der bolschewistischen Politik und ihrer “Erdrückung der Demokratie”. Es geschieht dies wohl als Überlebsel der alten Gegnerschaft zu den Bolschewiki, deren letzte Wurzel die Befürchtung war, die “Lenin-Partei” werde in Formel- oder Dogmengläubigkeit erstarren und angesichts gegebener geschichtlicher Verhältnisse der nötigen revolutionären Elastizität ermangeln. Jedoch in der Sache selbst hat Rosa Luxemburg richtig gesehen.

Die Bürokratie ist ein Übel, gegen das die Sowjetrepublik sich mit aller Kraft wehren muss. Allein dieses Übel tritt vornehmlich auf als Begleiterscheinung der sprunghaften Vermehrung und Erweiterung der Aufgaben, die der proletarische Staat bewältigen soll, ohne dass ebenso plötzlich die breitesten werktätigen Massen an Quantität und Qualität dementsprechende geschulte, erfahrene tätige Kräfte stellen können.

Die Bürokratie, ihre Stellung im Proletarierstaat, ihr Verhältnis zu den Massen, zur “Demokratie” ist ein sachliches Problem, — es begreift auch die viel verschlungene Frage der sozialen Stellung von Kopf- oder Handarbeit in sich —‚ das sicherlich jedem sozialistischen, kommunistischen Lande manche schwere Stunde bereiten wird. In Sowjetrussland wirkten besondere Umstände darauf hin, dass die Bürokratie zu überwuchern begann, und dass die schlechten Eigenschaften ihrer Art geil emporgeschossen sind. Die Rückständigkeit und der Zerfall der Wirtschaft; die noch gering entwickelte Fähigkeit und Neigung, Tätigkeit zweckmäßig zu organisieren; die ungeheure Zahl von Analphabeten; der große Mangel an geschulten Kräften für Hand- oder Kopfarbeit; die noch schwache Arbeitsdisziplin des Proletariats; die Funktionen des “Kriegskommunismus”; die der Sowjetrepublik aufgezwungenen

Verteidigungskriege, das Bedürfnis großer bürgerlicher Schichten nach einer Existenz, womöglich einer nichtproletarischen Existenz etc. Nicht ohne Grund spricht man in Sowjetrussland viel und nicht gerade freundlich von einer sich bildenden “Sowjet-Bourgeoisie”. Übrigens zeigen sich parallele Erscheinungen — mutatis mutandis — gegenwärtig in allen Ländern und nicht am wenigsten seit der Revolution in Deutschland. Hier wirft die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat einen hässlichen Schatten voraus in Gestalt der zu Staatsbürokraten emporgestiegenen Partei- oder Gewerkschaftsbürokraten, die auch als Minister Lakaiendienste für die Bourgeoisie verrichten.

Und abermals hatte Rosa Recht, davor zu warnen, dass die Kommunistische Partei nicht aus der führenden Partei des Proletariats zu einer Partei werde, die dem Proletariat diktiert. Die Partei muss die werktätigen Massen bei zerstörendem Kampf und aufbauender Arbeit zum Bewusstsein ihrer geschichtlichen Existenz und Aufgabe wecken und erziehen. Sie darf nicht als abgesonderte und befehlende Herrschaftsgewalt auf ihnen lasten. Unbestritten: es machen sich in Sowjetrussland Tendenzen geltend, die in der entgegengesetzten Richtung wirken. Vorausgesetzt, dass sie sich hemmungslos durchsetzten, würde ihr Ergebnis sein, die Kommunistische Partei Sowjetrusslands in eine Herrschaftsgewalt außerhalb des Proletariats und über das Proletariat zu verwandeln. Sie stehen in gewissem inneren und äußeren Zusammenhang mit dem drohenden Überwuchern und Entarten der Bürokratie. Diese rekrutiert sich zum Teil aus der Kommunistischen Partei, und es ist die Möglichkeit solcher Laufbahn, die manchen Neukommunisten ohne Überzeugung geworben hat und manche alte Überzeugung brüchig werden ließ. Dazu die beispiellose Energie, die nimmerrastende, verzehrende Arbeit, der stolze Mut zur Verantwortlichkeit, die grenzenlose Hingabe der Partei als Ganzes und ihrer besten Führer. Allein auch in dieser Beziehung kann Quantität in Qualität umschlagen. Die Fähigkeit und Gewöhnung zur Führung kann brutale Kommandogewalt werden, das gläubige Vertrauen der Massen stumpfsinnige Unterwerfung. Das ist das Verhältnis, wie es die bürgerlichen und sozialdemokratischen “Antibolschewisten” zwischen Partei oder offen gesagt zwischen Parteiführern und Massen in Sowjetrussland sehen.

Es gibt keine zweite Partei, die wie die der Bolschewiki ihre Gebrechen und Fehler scharfäugig erspäht, mit unerbittlicher Wahrhaftigkeit zugibt und stäupt und energisch zu überwinden trachtet. Und ausgerechnet diese Partei sollte sich gegen die Erkenntnis der verhängnisvollen Wirkungen verschließen, die das Überwuchern und Entarten der Bürokratie haben muss, wie die Zusammenschrumpfung und Versteinerung der Partei zu dem Herrschaftsorgan einer Führerclique? So groß und ernst die sich ankündende Gefahr erscheint, so bewusst und kraftvoll ist die Abwehr dagegen. Des ist Zeuge jeder Kongress der Partei mit seinem heißen, zähen Ringen um die aufgerollten Streitfragen, jede Tagung von Sowjets mit ihrer vielgestaltigen Arbeit.

Mit voller Deutlichkeit erkennt die Kommunistische Partei Russlands, was not tut, damit unter den segnenden Blitzen der proletarischen Revolution neues, höheres Leben aus den Ruinen blüht. Die Partei und die Massen müssen im Wechselstrom des Einanderspendens und Voneinanderempfangens immer inniger miteinander verbunden, müssen ein untrennbares Ganzes werden. Auf die Dauer kann die Partei nur anregendes, fruchtbares Leben unter die Massen tragen, wenn ihr von diesen selbst schöpferisches Drängen und Wollen zuströmt. Jedoch all das schließt nicht aus, dass sie ideologisch und organisatorisch ein festes Ganzes, aus einem Guss unter den Massen steht. Im Gegenteil. Es ist das Vorbedingung für das Höchstmaß ihres Wirkens auf die Massen und durch die Massen. Die Partei ergreift und erzieht diese nicht dadurch, dass sie sich als ein amorphes, quallenartiges, zerfließendes Etwas unter sie ergießt. Nein, indem sie ihre geistige, politische Individualität scharf herausarbeitet, ein ausgeprägtes eigenes Gesicht zeigt, das auch unter Sturm und bei Nebel erkannt, das nie verwechselt und nie missverstanden werden kann. Die Verbindung der Kommunistischen Partei mit den Massen ist nicht “sozialrevolutionäre” Schemenhaftigkeit, ist vielmehr Leben, Tätigkeit, sachkundigste, entschiedenste, rückhaltloseste Vertretung der Masseninteressen und Massenforderungen, einer unerschütterlichen Grundauffassung gemäß, die sich von der aller anderen Parteien unterscheidet. Das Leben der Partei muss jeden Augenblick aufs innigste mit dem Leben der Massen verknüpft sein, tausend nährende Adern und Äderchen müssen zwischen dem einen und anderen hin- oder herlaufen. Jedennoch muss das Leben der Partei gleichzeitig stets über das Leben der Massen hinausgreifen, oder sie würde aufhören, deren Führerin zu sein. Solches Leben bedeutet durchaus nicht Eintrocknen von der Massenpartei zur Sekte. Es begreift Ausdehnung, größer Werden in sich, jedoch als organisches Wachstum und nicht als mechanische Zusammenklammerung wesensfremder Elemente. Es führt dazu, dass die Partei nicht nur in bestimmten geschichtlichen Augenblicken Massen forttreiben und führen kann, sondern dass sie sich fortlaufend aus ihnen die fortgeschrittensten Kräfte assimiliert und das feste geistige Band bleibt, das sie zusammenhält.

Rosa Luxemburg hat übrigens die Notwendigkeit anerkannt, dass für den Sieg und die Verteidigung der Revolution aus den Massen organisierte, geschlossene Minderheiten herausgehoben werden und — innerhalb gewisser Schranken — eine “Eigenexistenz” führen. Im “Spartakusprogramm” verlangt sie unter den “sofortigen Maßnahmen zur Sicherung der Revolution”: “Bewaffnung der gesamten erwachsenen männlichen proletarischen Bevölkerung als Arbeitermiliz, Bildung einer Roten Garde von Proletariern als aktiven Teil der Miliz zum ständigen Schutz der Revolution vor gegenrevolutionären Anschlägen und Zettelungen”.1 Was ist die von der allgemeinen Arbeitermiliz abgesonderte Rote Garde ihrem Wesen nach anderes, als die Kommunistische Partei, aus dem Politischen ins Militärische übersetzt? Denn auch die Partei soll der fest gefügte, wohl ausgerüstete, geschulte, stets schlagbereite Teil, soll der aktive Teil der Massen sein. Nebenbei: die geforderte Bewaffnung des Proletariats allein ist ein Seitenstück zum Ausschluss der Kapitalisten vom Wahlrecht in Sowjetrussland, ist ein Seitenstück zur “Erdrückung der Demokratie” durch die “Einschränkung und Aufhebung der Rechtsgarantien für die Presse-, Vereins- oder Versammlungsfreiheit”. Wenn ich dem Todfeind die militärische Waffe vorenthalte, mit der er die Träger und Schützer der Revolution mordet, warum ihm dann das politische, das geistige Rüstzeug belassen, mit dem er die Proletarier aus Umstürzlern der bürgerlichen Ordnung in deren Schützer und Stützen verwandelt? Ein Karabiner in der Hand eines Bourgeois, die Kommandogewalt über ein Maschinengewehr ist harmlos, verglichen mit der furchtbaren gegenrevolutionären Macht eines Stinnes als Zeitungsverleger, eines Mosseverlags etc.

Hätten die Bolschewiki, die Kommunisten Sowjetrusslands, tatsächlich aufgehört, die Partei der revolutionären proletarischen Massen zu sein, so würden eben diese Massen selbst sie schon längst auf den geschichtlichen Kehrichthaufen gefegt haben. Die Revolution kann keine Sekte ertragen, geschweige denn sich von einer solchen führen lassen. Es klingt platt, spricht aber am klarsten aus, was ist: Die Massen blieben bei den Bolschewiki, weil die Bolschewiki auch als führende und regierende Partei bei den Massen geblieben sind. Das ist “das Geheimnis”, der sprudelnde, lebendige Quell ihrer Macht, und nicht der “beispiellose Terror”, wie der Spießbürger von Gottlieb Wilhelm Schulze bis Karl Kautsky wähnt. Im Bewusstsein dieses Zusammenhangs haben die “bolschewistischen verknöcherten Sektengläubigen” jede Gelegenheit, jede Minute mit Konsequenz und Bienenfleiß genutzt, um auf breiter Grundlage ihre Verbindung mit den Massen der Werktätigen zu befestigen und diese in den geistigen, politischen Bannkreis der Partei zu bringen und in ihm zu halten.

Sie sind daran gegangen, in zahllosen Kanälen — unmittelbar und mittelbar — das heiße, revolutionäre Leben ihrer Partei in das Leben der Massen hinüberzuleiten, diese mit deren Zielklarheit und unbeugsamer Energie zu erfüllen. Die Geschichte der westeuropäischen Arbeiterbewegung und insbesondere die der alten deutschen Sozialdemokratie hatte sie gelehrt, dass man mit wohlorganisierten und musterhaft disziplinierten Genossen zwar prächtige Wahlrechtsparaden aufmarschieren lassen kann, jedoch ohne geistig, politisch erfasste und durchdrungene Massen keine Revolution durchzuführen vermag. Weit hinaus über die Grenzen der Partei wogt der Einfluss des “Bolschewismus” durch Sowjetrussland, Leben weckend, Kräfte entfesselnd, Tätigkeit steigernd. Man denke an die Volksbildungsarbeit in ihren mannigfachen Äußerungen und Formen, eine Riesenleistung nach Umfang und Tiefe, für deren Würdigung alle Worte schwach und trocken dünken. An die Erziehung und Politisierung der Roten Armee, die, während sie die Revolution verteidigte, gleichzeitig sicherlich zu einem der stärksten geistigen Bildungsapparate wurde, dessen ein Land sich je rühmen durfte. An die sozialen Fürsorgeeinrichtungen und die Gewerkschaften, Genossenschaften, mit ihren täglich wachsenden Aufgaben und Verantwortlichkeiten. Das war, das ist Massenerwachen, Massenaktivierung, in dem das Herz der Partei klopft, in dem ihr Geist lebt. Die Sowjets und ihre Institutionen sind Hochschulen für das menschliche und soziale Reifen der breitesten Massen. Auch ohne den Segen und die Mitarbeit einer Konstituante, ohne das Wahlrecht der Ausbeutenden und ungeachtet der bolschewistischen Diktatur hat hier die Demokratie, die proletarische Demokratie, zu weben und wirken begonnen. Sicherlich nicht in strahlender Vollkommenheit, sondern noch entstellt durch die Muttermale der Übergangszeit. Jedoch kräftig, zielgerichtet genug, um Zukunftsbürgschaft zu sein.

Ein wunderbarer Reichtum tätiger Kräfte ist in Sowjetrussland unter der proletarischen Diktatur emporgeschossen, wie Pilze nach einem warmen Gewitterregen. Ungeahnte Begabungen haben sich entfaltet. Viele Tausende, die vor der Revolution Kulturarme waren, sind Führer bei der Aufrichtung einer höheren Kultur; Millionen Ungenannter und Unbekannter sind ihre einsichtsvollen, geschickten und treuen Mitarbeiter dabei. Zugegeben, dass all diese Kräfte nicht ausreichten, um in diesen wenigen Jahren, Feinde ringsum und Riesenschwierigkeiten vor sich, nachzuholen, was der Kapitalismus in anderen Ländern im Laufe von Jahrhunderten umgewälzt und geschaffen hat. Jedennoch haben sie sich als so lebensstark und schöpferisch erwiesen, haben sie so Titanenhaftes vollbracht, dass Sowjetrussland, verlassen von den Proletariern der ganzen Welt, das schmerzliche, schwere Beginnen wagen darf, den Kapitalismus als Mithelfer zuzulassen. Es darf im männlichen Vertrauen auf seine eigene Kraft hoffen, diesen furchtbaren und gefährlichen Gesellen soweit zu bändigen, dass er ein unfreiwilliger Diener der wirtschaftlichen Vorbereitung des Kommunismus bleibt, und nicht zum selbstherrlichen Gebieter der russischen Wirtschaft und Politik wird. Denn noch ist alle Macht den Sowjets.

Rosa Luxemburg sah besorgt und nachsinnend aufziehende Gefahren für die proletarische Revolution. Ihre klaren Augen schlossen sich, ehe sie schauen konnten, mit welchem Ernst und welcher Energie Sowjetrussland unter bolschewistischer Führung diese Gefahren zurückzuschlagen sucht. Aber Rosa Luxemburg lebte lange genug, um ihre grundsätzliche Auffassung zu den Hauptproblemen: Diktatur des Proletariats, Rätesystem, Konstituante, bürgerliche oder proletarische Diktatur, klar herauszustellen. Wenn darüber die Stimme der russischen Revolution noch nicht laut, überzeugend genug durch die Mauern des Breslauer Gefängnisses zu ihr gedrungen war, so redete davon bald unzweideutig die deutsche Revolution. Ungehinderte Studien und Aussprachen mit gut unterrichteten Freunden waren sicherlich wichtige Förderer ihrer raschen Selbstverständigung. Allein mehr noch als sie war der Ausbruch der deutschen Revolution maßgebend dafür, dass Rosa Luxemburg den vollen Anschluss an die russische Revolution fand und damit ihre grundsätzliche Einstellung zu den wichtigen Wesenszügen der proletarischen Revolution überhaupt. Die Zeit heischte von ihr revolutionäres Handeln, und bei Rosa Luxemburg stand der Gedanke stets vor der Tat.

* A. Warski: Rosa Luxemburgs Stellung zu den taktischen Problemen der Revolution (Verlag der Komm. Internationale.)

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