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IV. Rosa Luxemburgs Einstellung zu der russischen Revolution nach dem Novemberumsturz in Deutschland

Rosa Luxemburgs “revidierte” Stellungnahme zu den Problemen der russischen Revolution, eine Frucht geschichtlichen Denkens / Die “Rote Fahne” das klassische Zeugnis dafür / Die “Rote Fahne” als führendes Organ der deutschen Revolution, Rosa Luxemburgs Werk und ihr politisches Testament / Die “Rote Fahne” gegen die Nationalversammlung, die deutsche Konstituante, und für die Rätemacht / Kritik des Rätekongresses und seiner Stellungnahme zur proletarischen Diktatur und zur bürgerlichen Demokratie / Die Räteverfassung als Mittel zur Überwindung des “Separatismus” / Bürgerliche Freiheiten und Terror / Stellungnahme zum Berliner Januaraufstand und Kritik der unabhängigen Führer während des Kampfes / Nicht Diskussion über die Theorien und Methoden der Bolschewiki, Praxis im Zeichen der russischen Revolution / Der Paul Levi von 1918/19 gegen den Paul Levi von 1922 / Das Zusammenwirken von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht während der Revolutionsmonate, ein Beweis für Rosas gewandelte Einstellung zur russischen Revolution / Rosa Luxemburgs angebliche “grundsätzliche” Ablehnung des Terrors

Rosa Luxemburg wäre nicht sie selbst gewesen, wenn sie sich nicht sofort nach ihrer Befreiung in den brausenden Strom des revolutionären Geschehens geworfen hätte. Jedoch sie ließ sich von diesem Geschehen nicht fortreißen und tragen — wie es bei den mehrheitssozialdemokratischen und unabhängigen Führern der Fall war, die noch am Vorabend des 9. November die Revolution zu bannen versucht oder nicht an sie geglaubt hatten. Im Gegenteil: sie setzte die höchste Energie daran, das revolutionäre Geschehen verstehend zu leiten, wie seine Bedeutung zum Bewusstsein der Massen zu bringen und diese dadurch aus verschwommenen und schwankenden Rebellen zu zielklaren, gefestigten Trägern der Revolution zu erheben. Die mehrheitssozialdemokratischen und unabhängigen “Antibolschewisten” schmähen Rosa Luxemburg, wenn sie ihr Eintreten für die Räteordnung und die proletarische Diktatur, ihren leidenschaftlichen Kampf gegen die Nationalversammlung und zur Entlarvung der bürgerlichen Demokratie hinzustellen versuchen als eine Art von vorübergehendem Missverständnis, als einen versehentlichen, unbedachten Sündenfall, als ein temperamentvolles Sichfortreißenlassen, bei dem das heiße Herz mit dem klaren Verstand durchgegangen wäre. Bei dieser ebenso scharfen, wie kühnen Denkerin war der geschichtliche Überzeugung gewordene Gedanke nie die ausgebrannte, graue Asche des Handelns, vielmehr die leuchtende Flamme, an der sich die Tat entzündete.

So ist auch ihre geänderte Einstellung zu den herausgehobenen Problemen der proletarischen Revolution die Frucht des Durchdenkens und der geistigen Bemeisterung der geschichtlichen Situation und der Grundbedingungen, die sich daraus für den Befreiungskampf der Werktätigen ergeben. Die gewonnene grundsätzliche Auffassung wurde beherrschend für Rosa Luxemburgs Betätigung in den Revolutionswochen, die sie erleben durfte. Diese Betätigung war entschlossenster, hingebungsvollster Kampf für das Weitertreiben der Revolution durch proletarische Massen, die es von allen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Illusionen zu befreien galt, deren Großpäppelung Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängige sich um die Wette angelegen sein ließen. Sie erfolgte in der breitesten Öffentlichkeit, und es liegt ein klassisches Dokument dafür vor: “Die Rote Fahne”. Sie beweist, dass wenig über eine Woche der Selbstverständigung genug gewesen war, um Rosa Luxemburgs überlegenen Geist die Fragen klar und fest beantworten zu lassen, die durch den Novemberumsturz auch in Deutschland auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt worden waren: Rätemacht oder Nationalversammlung? Bürgerliche Demokratie oder Revolution, d. h. Bürgerkrieg oder proletarische Diktatur.

Die Rote Fahne” flatterte zum ersten Male den proletarischen Massen voran am 9. November als 2. Abendausgabe des “Berliner Lokalanzeigers”, der in späten Abendstunden von “Spartakisten” besetzt worden war. Das “Revolutionäre” der improvisierten ersten Nummer musste sich in Folge technischer Schwierigkeiten auf unvollständige Berichte über den politischen Umsturz in Berlin beschränken. In der zweiten Nummer dagegen meldete sich der Wille an, den politischen Umsturz zur proletarischen Revolution zu erheben. An der Spitze des Blattes stand die Mitteilung der Beschlüsse, die von den bereits gewählten Arbeiter- oder Soldatenräten einstimmig gefasst worden waren. Sie lauten: “Sämtliche Arbeiter und Arbeiterinnen versammeln sich Sonntag, den 10. November, vormittags 10 Uhr, in den Fabriken und wählen Arbeiterräte. Frauen sind wählbar. (Die Angestellten sind als Arbeiter zu betrachten.) Sämtliche Soldaten versammeln sich in den Kasernen und Lazaretten und wählen Soldatenräte. … Nachmittags 5 Uhr versammeln sich die gewählten Arbeiter- oder Soldatenräte im Zirkus Busch und wählen die provisorische Regierung.”

Ein Aufruf: “An die Arbeiter und Soldaten in Berlin” nahm Stellung zu den Ereignissen und stellte ein Programm von 10 Forderungen auf, die das Proletariat “mit aller Entschlossenheit und unbezähmbarem Kampfeswillen” durchsetzen müsse. Unter Punkt 1 wurde gefordert die “Entwaffnung der gesamten Polizei, sämtlicher Offiziere, sowie der Soldaten, die nicht auf dem Boden der neuen Ordnung stehen; Bewaffnung des Volkes; alle Soldaten und Proletarier, die bewaffnet sind, behalten ihre Waffen.” Kennzeichnend sind weiter die folgenden Forderungen:

Beseitigung des Reichstags und aller Parlamente sowie der bestehenden Reichsregierung; Übernahme der Regierung durch den Berliner Arbeiter- oder Soldatenrat bis zur Errichtung eines Reichs-Arbeiter- oder Soldatenrats. 7. Wahl von Arbeiter- oder Soldatenräten über ganz Deutschland, in deren Hand ausschließlich Gesetzgebung und Verwaltung liegt. Zur Wahl der Arbeiter- oder Soldatenräte schreitet das gesamte erwachsene werktätige Volk in Stadt und Land und ohne Unterschied des Geschlechts … 10. Sofortige Rückberufung der russischen Botschaft nach Berlin.” Der Aufruf ist nicht gezeichnet, er wurde entweder von der Redaktion oder aber von der Berliner Spartakusgruppe an die Arbeiter und Soldaten gerichtet. Es folgt ein “Gruß an die russische Sowjetrepublik” von der Roten Fahne (Spartakusrichtung). Des Weiteren veröffentlichte die Nummer “Anträge der Spartakusgruppe für Versammlungen von Betrieben, Soldatenräten, Arbeiterausschüssen, gewerkschaftlichen und politischen Organisationen.” Unter anderem wird darin geheischt: “dass neben den anderen treuesten und tapfersten Genossen in das Präsidium des Zentralen Arbeiter- oder Soldatenrats Deutschlands oder einer anderen sich bildenden Körperschaft dieses Ranges die Genossin Luxemburg entsandt wird.”

Die Rote Fahne”, in die das berüchtigte Hofklatschblatt sich hatte verwandeln müssen, hatte nur diese zwei Nummern. Der Verfügungsmacht der “Spartakisten” darüber wurde rasch ein Ende bereitet. Ein Anzeichen dafür, dass in Deutschland zunächst noch die “Ordnung” und das bürgerliche Eigentum über die proletarische Revolution triumphieren sollten, wie es die erste Proklamation der provisorischen Regierung der Volksbeauftragten feierlich beschwor. Während seiner Eintagsexistenz hatte das Blatt fest und klar das Leitmotiv angeschlagen, das in der späteren “Roten Fahne” konsequent weitergeführt wurde. Unzweideutig war zum Ausdruck gekommen, dass das “böse Beispiel” der bolschewistischen Methoden und Ziele begonnen hatte, “die guten Sitten” deutscher Proletarier zu verderben.

Montag, den 18. November, erscheint die “Rote Fahne” wieder (No. 3) und zwar als Zentralorgan des Spartakusbundes, Schriftleitung: Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Und nun erst wird sie aus einem revolutionären Blatt zum führenden Organ der Revolution, zum einzigen Organ der Revolution. “Die Rote Fahne” gewann für die proletarische Revolution von 1918/1919 die gleiche überragende geschichtliche Bedeutung, die der “Neuen Rheinischen Zeitung” unter Marxens Redaktion für die bürgerliche Revolution von 1848 zukam. Diese Bedeutung aber war Rosa Luxemburgs Werk und Verdienst. Engels hat erklärt: “Die Redaktion der Neuen Rheinischen Zeitung, das war die Diktatur von Karl Marx.”1 Mit dem gleichen Recht kann man behaupten: Die Leitung der “Roten Fahne” war die Diktatur von Rosa Luxemburg. Wem das Wort Diktatur misstönig in die zarten Ohren klingt, der mag es durch Autorität oder Überlegenheit der Führung ersetzen. Die “Rote Fahne”, das war Rosa Luxemburg selbst mit ihrer klaren, fest gegründeten Einsicht in den Gang, die Gesetze, das Ziel der geschichtlichen Entwicklung, in die Bedingungen der proletarischen Revolution; mit ihrem eisernen Willen, die deutsche Revolution soweit als nur möglich voranzutreiben, der großen internationalen Tragweite entsprechend; mit ihrem heißen, opferwilligen Herzen, das mit dem stürmischen Pulsschlag der Zeit klopfte.

So wertvoll die Mitarbeit anderer führender Spartakusbündler war — ganz besonders diejenige Karl Liebknechts —‚ ohne Rosa Luxemburg wäre die “‚Rote Fahne” nicht die “Rote Fahne” gewesen. Sie war die lebendige Seele des Blattes, sie machte es zum klarsten, entschiedensten und feurigsten Wortführer der Revolution, zum zielsicheren Wegweiser des vorwärts drängenden Proletariats. Ohne Rücksicht auf ihre schwache Gesundheit — sie hatte unter den Gefängnisjahren und den seelischen Erschütterungen der Kriegszeit schwer gelitten — mit Missachtung, ja Misshandlung ihrer Bedürfnisse, alles Begehren in dem einen großen Wünschen und Wollen auslöschend, gab sie sich ganz dieser Aufgabe hin. Mit peinlichster Gewissenhaftigkeit wachte sie darüber, dass jede Nummer den Charakter der “Roten Fahne”, ihre Stellungnahme zu den von der Revolution aufgeworfenen Tagesfragen und Tagesforderungen, so klar und scharf wie nur möglich zum Ausdruck brachte. Keine Notiz sollte erscheinen, ohne dass Rosa Luxemburg Inhalt und Form billigte und deckte.

Dank ihrer Arbeit und Leitung war die “Rote Fahne” aus einem Guss. Von der ersten Nummer, die unter Rosas Redaktion erschien, bis zur letzten, die sie gezeichnet hat — am Tage vor ihrer Meuchelung, den 14. Januar —‚ stellt das Blatt mit seiner grundsätzlichen und taktischen Einstellung zur Revolution ein einheitliches Ganzes dar, ohne Risse und Sprünge von Widersprüchen, ohne Flecken, Unklarheiten und Verschwommenheiten. Mochte die Situation noch so unklar und verworren sein, der Sturm der Gegenrevolution noch so heftig toben, die “Rote Fahne” hielt ihren Kurs geradeaus, Rosa Luxemburg am Steuer. Immer schamloser enthüllte sich der offene Verrat der Revolution durch die Ebert-Scheidemann. Die Unabhängigen taumelten unter Haases und Kautskys Führung hin und her zwischen dem Lippenbekenntnis zur Diktatur der Proletariats und der demütigen Anbetung der bürgerlichen Demokratie, und machten sich als Schildhalter der Scheidemänner zu deren Mitschuldigen. Die Arbeiter- oder Soldatenräte wussten die ihnen von der Revolution übertragene Macht nicht zu nützen und warfen sie zunächst der Regierung der Volksbeauftragten, dann der Nationalversammlung zu, Wilden gleichend, die nicht wissen, was sie mit einem Gewehr anfangen sollen. Die breiten proletarischen Massen ließen gehen, ließen geschehen, damit ihre Unreife kündend und die Unreife der Revolution selbst. “Die Rote Fahne” hielt unverwandt und unentmutigt ihre feste Linie ein. Es war die Richtlinie, die Rosa Luxemburg ihr gab.

Alle Macht den Räten! Keine Nationalversammlung! Nicht bürgerliche, proletarische Demokratie! Diktatur des Proletariats! Soziale Revolution! Das sind die Losungen, die die “Rote Fahne” unter die Massen der Werktätigen trug. Sie gaben die Überzeugung Rosa Luxemburgs wieder. Sie sind Kern und Stern der Artikel, die diese schreibt — wirklich nur schreibt? — nein, tief innerlich erlebt, so stark und glutvoll redet Rosa Luxemburgs Seele aus ihnen. Sie erfüllt jede Seite des Blattes mit Inhalt, Sinn, Charakter. Man mag aus der “Roten Fahne” unter Rosa Luxemburgs Leitung herausbrechen, wo und was man will, das Bruchstück zeigt das Wesen des Ganzen. Die Versammlungsberichte aus Berlin, die Situationsberichte aus dem Reich bringen die Einstellung der Arbeiter und Soldaten zur Räteidee zum Ausdruck. Die politischen Übersichten, die sozialen Notizen, namentlich aber die kritischen und polemischen Auseinandersetzungen mit den beiden sozialdemokratischen Parteien, mit dem Vollzugsrat der Berliner Arbeiter- oder Soldatenräte, mit dem Reichskongress der Räte zielen auf dieses ab: Eine falsche Wertung der formalen bürgerlichen Demokratie bis auf den letzten Rest aus dem Bewusstsein der Arbeiterschaft zu tilgen und sie zu mobilisieren gegen die Einberufung einer Nationalversammlung, gegen die Regierung, die die junge, unreife Rätemacht Stück für Stück der Gegenrevolution ausliefert; die Arbeiterschaft zu mobilisieren zum Kampfe für die proletarische Diktatur.

Nicht immer wo, und nicht immer so stark wie es nötig wäre, hallt in den Straßen der deutschen Städte und Industriezentren “der Massenschritt revolutionärer Arbeiterbataillone”, die die Rätemacht zu Wahrheit und Tat machen wollen. Aus der “Roten Fahne” aber klingt stets mit der gleichen Klarheit, Bestimmtheit, Leidenschaft und Konsequenz der Zielwille, der die Proletarier zu solcher Tat ruft. Die “Rote Fahne” ist so Rosa Luxemburgs letztes und entscheidendes politisches Bekenntnis und Testament. Zwischen ihm und den Haupterfahrungen und Hauptlosungen der russischen Revolution klafft kein Widerspruch. Nicht dass Rosa Luxemburg “die bolschewistischen Losungen und Methoden” mechanisch auf deutsche Verhältnisse übertragen hätte, wie ihr von den beiden sozialdemokratischen Parteien zum Vorwurf gemacht wurde, die sich zäh an die Illusion einer friedlichen Revolution klammerten. Rosa Luxemburg erfasste vielmehr den lebendigen geschichtlichen Sinn dieser Losungen und Methoden und ließ ihn den deutschen Verhältnissen entsprechend wirksam, gestaltend werden. Unter dem national und zeitlich Bedingten, Verschiedenen und Wechselnden in Russland und Deutschland erkannte sie scharf das große international Gemeinsame der proletarischen Revolution hier und dort. Ganz selbständig hatte ihr freier, stolzer Geist den Weg der Revolution gesucht. Doch siehe da! Er führte sie auf Lenins Spuren. Das sei aus der “Roten Fahne” bewiesen, zuerst aus dem allgemeinen Inhalt des Blattes, dann durch Rosa Luxemburgs Worte selbst.

Gegen die Nationalversammlung, die deutsche Konstituante, wendet sich die “Rote Fahne” in einem Artikel:
Sie drohen schon” mit diesen Ausführungen: “Das niedliche Plänchen der Haase-Kautsky wird ja auf diese Weise schon jetzt durchkreuzt, schon heute durch die herrschenden Klassen sabotiert. Als sein wesentlicher Punkt war ja gedacht, dass die Nationalversammlung nicht ohne weiteres und überstürzt einberufen, sondern durch eine Reihe energischer Maßnahmen der provisorischen Regierung vorbereitet werden sollte. Im Grunde genommen läuft die Taktik auf Folgendes hinaus: erst eine kurze Diktatur des Proletariats, dann die Nationalversammlung und das Mehrheitsvotum, dann Einführung des Sozialismus durch Parlamentsbeschluss. Dieser verworrene und zweideutige Plan schließt also auch die Anwendung der Diktatur ein.

Ja, die Unabhängigen fühlen offenbar selbst, dass die Nationalversammlung ohne vorherige Diktatur im sozialistischen Sinne ganz und gar auf eine glatte Auslieferung der Revolution an die herrschenden Klassen hinausläuft. Deshalb wehren sie sich auch so verzweifelt gegen die Absicht der Scheidemänner, die Nationalversammlung sofort und ohne weiteres einzuberufen.

Haase mit Genossen wollen also auch die Diktatur des Proletariats, sie bekennen also auch, dass die Diktatur unumgänglich ist, wenn am Sozialismus nicht glatter Verrat geübt werden soll. Nur wollen sie als Schlaumeier die Pferde hinter den Wagen spannen. Sie vollen erst eine Diktatur und ein bisschen Sozialismus, dann Niederlegung der Macht durch das Proletariat und Übertragung des Hauptwerkes der Sozialisierung an den Parlamentarismus.

Nun zeigt sich aber, wie nicht anders zu erwarten war, dass schon die erste Ankündigung der allerersten Maßnahmen im Sinne der sozialistischen Diktatur die bedrohte Bourgeoisie auf die Beine bringt und zur schärfsten Widerstandsansage treibt. Die Bourgeoisie besteht auf ihrem Schein: Nationalversammlung! Die Losung der Nationalversammlung wird so, kaum, dass sie den Lippen der Haase-Kautsky entflohen, gegen ihre sozialistische Absichten, gegen sie selbst als Waffe benutzt.

Die geriebenen Sachwalter der herrschenden Klassen haben stets und in allen Lagen bewiesen, was den unterdrückten Klassen leider so oft fehlt: den untrüglichen Instinkt für die eigenen Klasseninteressen. Wenn die Bürgerlichen so nachdrücklich und stürmisch die Nationalversammlung als Schutzwall gegen den Sozialismus fordern, ist das nicht eine schlagende Bestätigung, dass die Nationalversammlung als Organ der geplanten “parlamentarischen Sozialisierung” ein Schwert aus Pappe ist?

Die unabhängigen Anhänger dieser Losung wollen eben die Bourgeoisie überlisten. Sie wollen sie im Garn eines Parlamentsbeschlusses fangen und glauben so auf schmerzloseste Weise ihren Widerstand gegen den Sozialismus überwinden zu können. Es hat aber schon manchem den Hals gekostet, in großen Dingen schlau zu sein. Im Garn der Nationalversammlung würde nicht die Bourgeoisie, sondern das Proletariat gefangen sein.”2

In No. 8 polemisiert das Blatt gegen die Unabhängigen, die mit gläubiger Inbrunst die verfassungsgebende Nationalversammlung fordern. Die Notiz trägt die kennzeichnende Stichmarke: “Der Weg zum Nichts”.3 Die Polemik gegen diese Partei und der Kampf gegen die drohende Nationalversammlung wird in No. 14 vom 29. November fortgesetzt. Die “Rote Fahne” fordert dort die schleunige Einberufung des Parteitags der USP* und begründet sie u. a. wie folgt:

Ihre eigentliche Mission als Teilhaberin der Firma Scheidemann-Ebert ist: deren klaren und unzweideutigen Charakter als Schutztruppe der bürgerlichen Klassenherrschaft in ein System von Zweideutigkeiten und Feigheiten zu mystifizieren.

Den klassischsten Ausdruck findet diese Rolle der Haase und Genossen in ihrer Haltung zur wichtigsten Losung des Tages: zur Nationalversammlung.

Zwei Standpunkte allein sind in dieser Frage, wie in allen anderen möglich. Entweder will man die Nationalversammlung als ein Mittel, das Proletariat um seine Macht zu prellen, seine Klassenenergie zu paralysieren, seine sozialistischen Endziele in blauen Dunst aufzulösen. Oder man will die ganze Macht in die Hand des Proletariats legen, die begonnene Revolution zum gewaltigen Klassenkampf um die sozialistische Gesellschaftsordnung entfalten und zu diesem Zwecke die politische Herrschaft der großen Masse der Arbeitenden, die Diktatur der Arbeiter- oder Soldatenräte errichten. Für oder gegen den Sozialismus, gegen oder für die Nationalversammlung; ein Drittes gibt es nicht.

Die unabhängige Partei bemüht sich auch hier krampfhaft, Berg und Tal zusammenzubringen, Feuer und Wasser im Namen der “Einigkeit” zu vereinen. Sie will die Nationalversammlung als höchste richtende und entscheidende Instanz, sie will aber diese Nationalversammlung möglichst hinausschieben und vorher durch diktatorische Maßnahmen der jetzigen Regierung in den Grundzügen verwirklichen.

Die gewundene Mittelstellung läuft wie immer auf eine Zweideutigkeit, ja auf eine politische Unehrlichkeit hinaus. Entweder meint man es mit der Nationalversammlung als der berufenen entscheidenden Vertretung des Volkes ehrlich, dann wird sich verbieten, diese oberste Instanz vor fertige Tatsachen gestellt, hinter den Wagen der wichtigsten sozialen Umwälzungen gespannt zu sehen. Oder aber meint man es mit der sozialistischen Diktatur des Proletariats ehrlich, dann schiebt man sie nicht als Provisorium zwischen Tür und Angel der Revolutionsgeschichte ein und liefert nicht ihr kaum begonnenes Werk dem richtenden Endspruch einer bürgerlich-demokratischen Versammlung aus.

Eine Partei, die in der Stunde großer, klarer, kühner Entscheidungen von welthistorischer Bedeutung nur Zweideutigkeiten, Schwankungen und Halbheiten zutage fördert, die mit dem imperialistischen Annexionisten David auswärtige Politik, mit dem deutschnationalen Chauvinisten Haenisch Kultur und Volksschule, mit dem Henker der Revolution Ebert Sozialismus machen will, die durch den Mund Barths die streikenden Massen zur Ruhe und zum Kadavergehorsam der Unternehmer-Peitsche gegenüber mahnt — eine solche Partei ist durch jedes ihrer Worte und jede ihrer Taten gerichtet. Sie war ein Produkt der jahrzehntelangen Versumpfung der deutschen Arbeiterbewegung. Das deutsche Proletariat braucht heute an seiner Spitze eine sozialistische Partei, die der großen Stunde gewachsen ist. Für eine Partei der Halbheit und Zweideutigkeit ist in der Revolution kein Platz.” Der Artikel endet mit der Forderung: “Schleunigste Einberufung des Parteitages, der Klärung und Entscheidung bringt.”4

Eine Versammlung des Spartakusbundes am 1. Dezember, in der Rosa Luxemburg referierte, brachte deren Auffassung und die Zustimmung der Zuhörerschaft in dieser Resolution zum Ausdruck:

Die am 1. Dezember im Lehrervereinshaus, Alexanderstraße, tagende öffentliche Volksversammlung erklärt sich mit den Ausführungen der Genossin Luxemburg einverstanden. Sie betrachtet die Einberufung der Nationalversammlung als ein Mittel, die Gegenrevolution zu stärken und die proletarische Revolution um ihre sozialistischen Ziele zu betrügen. Sie fordert die Übergabe der ganzen Macht an die Arbeiter- oder Soldatenräte, deren erste Pflicht ist, die Verräter der Arbeiterklasse und des Sozialismus: Scheidemann-Ebert und Genossen, von der Regierung zu verjagen, das arbeitende Volk zum Schutze der Revolution zu bewaffnen und mit aller Energie durchgreifende Maßnahmen zur Sozialisierung der Gesellschaft zu ergreifen.”

In der “Politischen Übersicht” vom 3. Dezember ironisiert die Notiz “Diktatur oder Demokratie?” das Geflenne über die “Diktatur von links” und die Unsicherheit der unabhängigen Führer, die an den Knöpfen ihrer Weste abzählen, ob und wann eine Nationalversammlung gewählt werden soll. Am folgenden Tage zieht die Notiz: “Ein Vorgeschmack der Nationalversammlung” aus der Kundgebung des Bürgertums im Zirkus Busch die Schlussfolgerung:

Diese Leute wissen wohl, weshalb sie auf die Nationalversammlung drängen und was hinter der viel gepriesenen “Demokratie” steckt. An der Keckheit und an dem Selbstbewusstsein im Auftreten all dieser Elemente kann man die Schwäche der heutigen Regierung mit mathematischer Genauigkeit messen.”

Mit programmatischer Schärfe und Bestimmtheit kommt das politische Glaubensbekenntnis der “Roten Fahne” — Rosa Luxemburgs politisches Glaubensbekenntnis — in den Nummern vom 10. bis zum 22. Dezember zum Ausdruck. In ihnen ist die Tagung der Arbeiter- oder Soldatenräte Deutschlands behandelt, der Rätekongress: Vorbereitung und Tagesordnung; Einstellung und Verhalten des Vollzugsrats der Berliner Arbeiter- oder Soldatenräte, der Ebert-Haaseparteien; das Verhältnis des Kongresses zu den Massen des Berliner Proletariats und dieser Massen zu dem Kongress; seine Beratungen, Beschlüsse, das Endergebnis: kurz sein gesamter Inhalt, sein Sinn und sein geschichtliches Um und Auf. In der ätzenden Kritik wie dem drängenden positiven Fordern und dem lodernden Zorn, womit das geschieht, in der Mischung von tief schürfender Sachlichkeit und leidenschaftlichem Ungestüm vibriert das Bewusstsein, dass es bei dem Kongress um das Zentralproblem der proletarischen Revolution Deutschlands geht. Der Kongress wird für oder gegen sie entscheiden, gewiss nicht endgültig und unwiderruflich, allein doch zunächst und bis die proletarischen Massen selbst — reif für die Revolution durch ihren Willen zur Eroberung der Staatsmacht — seine Entscheidung korrigieren werden.

Räteordnung oder bürgerlich-parlamentarischer Staat, symbolisiert und verkörpert in der Nationalversammlung? Proletarische Diktatur oder bürgerliche Demokratie? “Sozialisierung” der Wirtschaft oder kapitalistische Profitproduktion? Revolution zur Beseitigung des Kapitalismus oder Reform zu seiner Erhaltung und Kräftigung? Das waren die weittragenden Fragen, die vor dem Kongress standen. Die “Rote Fahne” beantwortete sie unzweideutig, ohne ausweichendes “Einerseits” und “Andererseits”, ohne verklausulierendes “Wenn” und “Aber”. Sie beantwortete sie im Geist der russischen Novemberrevolution, der ersten Entscheidung darüber von weltgeschichtlicher Bedeutung. Manche der einschlägigen Beiträge zeigen unzweifelhaft Rosa Luxemburgs klare, feste, charakteristische Handschrift. Es ist ein Stück deutscher Revolutionsgeschichte, das in der “Roten Fahne” jener Tage eingefangen ist, ein Stück vom Elend der deutschen Revolution, aber auch ein Ausblick auf ihren Zukunftsweg. Wer Geschichte “machen” will, darf an ihr ebenso wenig vorübergehen, wie wer Geschichte zu schreiben gedenkt. Ist wirklich das Meiste, das Wichtigste, was über die Grundsätze und taktischen Streitfragen der proletarischen Revolution anlässlich des Rätekongresses in der “Roten Fahne” steht, schon vor reichlich drei Jahren geschrieben worden? Es könnte von heute sein, nicht nur wegen der Frische des Tones und der Farben, vielmehr auch wegen der Aktualität der Lehre, der Wegweisung. Noch ist nicht Erfüllung geworden, was im Dezember 1918 in greifbarer Nähe schien. Noch lässt Deutschlands Proletariat die Mühle des bürgerlichen Parlamentarismus klappern, noch stampft es auf der Straße der bürgerlichen Demokratie vorwärts, von ihren Schreckensurteilen und ihren Kugeln bei jedem Meutern wider die Kapitalsgewalt zerfetzt. Auch sein bitterstes Erleben kristallisiert sich nur langsam, verzweiflungsvoll langsam, zu Erkenntnis und Tat.

Rosa Luxemburg hatte im September 1918 für Russland nach dem Siege des Proletariats die Einberufung der Konstituante gefordert. Unter ihrer Leitung kämpfte “Die Rote Fahne” im Dezember des Jahres mit zäher Leidenschaftlichkeit dafür, dass der Rätekongress zur schärfsten Zurückweisung der Forderung einer verfassungsgebenden Nationalversammlung werde. Er musste von vornherein in aller Form seine Souveränität — die Souveränität der Rätemacht — feststellen, aus dem Willen des Proletariats geboren, vom Willen des Proletariats getragen. Es durfte für ihn kein Paktieren, kein Spielen mit der gegenrevolutionären Losung geben: Einberufung einer Nationalversammlung; kein Schwanken in der Entschlossenheit, die provisorische Regierung des Rats der Volksbeauftragten zu beseitigen und alle Macht in den Räten zu konzentrieren. Trügerische Hoffnungen über das Wesen, den Wert der bürgerlichen Demokratie, alte politische Auffassungen und neue Ängste vor Entscheidung und Verantwortlichkeit knüpfen sich mit parlamentarischer Routine und mit blankem Vorrecht zu einem Netz, darinnen sich die Macht der Arbeiter mit jedem Tage mehr verstrickte. Sollte der Rätekongress vom 16. Dezember die Magna Charta der Räteordnung, der proletarischen Machtergreifung schreiben, so galt es, den Einfluss der Führer beider sozialdemokratischer Parteien nieder zu brechen, die Unklarheit und Halbheit, den Verrat an den Räten und ihren Organen selbst zu überwinden, namentlich im Vollzugsrat der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte, der führen sollte und nur taumeln, umfallen, kapitulieren konnte.

Die Rote Fahne” legte am 10. Dezember den Sinn der Tagesordnung des Kongresses bloß, die der Vollzugsrat aufgestellt hatte: Punkt 2 lautete: “Nationalversammlung oder Räteverfassung?” Referent: Cohen-Reuss, Korreferent Däumig-Berlin. “Bezeichnend an dieser Tagesordnung ist zweierlei: erstens die Formulierung des Zentralproblems der Revolution als einer Alternative. Nationalversammlung oder Räteverfassung. Hier wird wenigstens offen zugestanden, dass die Nationalversammlung mit der Vernichtung der Arbeiter- und Soldatenräte und ihrer politischen Rolle gleichbedeutend ist.”

Und nun folgen Tag für Tag die Artikel, die mit der kalten, unerbittlichen Schärfe des Scheinwerfers die Situation beleuchten und von denen man fast jeden ganz wiedergeben möchte, um die volle Empfindung zu vermitteln, was “Die Rote Fahne” jener Zeit war und wie sie ihre Klinge führte. Jeder Artikel ein zielsicherer Hieb. So in Nr. 26 vom 11. Dezember “Um den Vollzugsrat”‘,* in Nr. 27 vom 12. Dezember die Stäupung des Vollzugsrats in dem Leitartikel: “Der Vollzugsrat kuscht” mit der Charakterisierung der russischen Räte als Beispiel.

Am 15. Dezember formuliert “Die Rote Fahne” die Aufgabe des Kongresses also:

Vier dringendste Maßnahmen sind es, mit deren Erfüllung der Zentralrat das Versäumte nachholen und sich den Platz sichern kann, der ihm gebührt:

1. Er muss das Nest der Gegenrevolution, er muss die Stelle, an der alle Fäden der gegenrevolutionären Verschwörung zusammenlaufen, er muss das Kabinett Ebert-Scheidemann-Haase beseitigen.

2. Er muss die Entwaffnung aller Fronttruppen fordern, die die höchste Gewalt der Arbeiter- und Soldatenräte bedingungslos anerkennen und zur persönlichen Leibgarde des Kabinetts Ebert-Haase werden.

3. Er muss die Entwaffnung aller Offiziere und der von der Regierung Ebert-Haase gebildeten Weißen Garde fordern und die Rote Garde schaffen.

4. Er muss die Nationalversammlung als ein Attentat auf die Revolution und die Arbeiter- und Soldatenräte ablehnen.

Noch können sich die Arbeiter- und Soldatenräte, indem sie diese vier Maßnahmen unmittelbar zur Tat werden lassen, an die Spitze der Revolution setzen: das Proletariat ist willig, sich von ihnen führen zu lassen, wenn sie ein starker Führer sein wollen gegen den Kapitalismus, das Proletariat ist bereit, ihnen alles zu geben und sie zur höchsten Höhe zu heben mit dem Rufe: Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten!”‘

Der Artikel, in dem das geschieht, hat die kennzeichnende Überschrift: “Auf die Schanzen!* Der “Aufruf” vom 16. Dezember für eine Demonstration zur Begrüßung des Rätekongresses lässt diese Mahnung noch eindringlicher erklingen. Die Demonstranten sollen unter anderem diese Forderungen erheben: Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten. Der Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte ist das höchste Organ der Gesetzgebungs- und Regierungsgewalt. Der Ebertsche Rat der Volksbeauftragten wird beseitigt. Im Aufruf heißt es:

Es ist das erste Mal, dass die Vertreter von ganz Deutschland, die Arbeiter und Soldaten, für sich und als Klasse organisiert auf die politische Bühne treten, das erste Mal, dass die Proletarier von ganz Deutschland sich selbst, in diesem Zentralrat verkörpert, einheitlich kämpfen und streiten sehen.

Und werden sie sich als Sieger sehen?

Das ist die Frage, die uns heute bewegt. Der Feind, den das Proletariat heute zu besiegen hat, ist ein gefährlicher Feind, es ist keiner, der mit offenem Visier als Feind sich gibt, es ist einer, der aus den eigenen Reihen sich erhebt, der den Zweifel sät in die Reihen der Proletarier. Dieser Feind hat ein furchtbares Werk vollbracht. Seit Wochen war er tätig. Er hat den Proletariern in Stadt und Land, in Bluse und im Soldatenrock ins Ohr geflüstert, dass sie es nicht seien, dass sie es nicht sein können, die das gewaltige Werk der Befreiung der Menschheit vollbringen sollen. In tausend Stimmen hat er es geflüstert, er hat ihnen den Teufel der Anarchie an die Wand gemalt, er hat Lügen aus dem Ausland bezogen und neue hinzuerfunden, um dem Proletariat zu beweisen, dass seine Organisation zum Frieden nicht führen könne. Die Regierung Ebert-Haase hat alles getan, um dem Proletariat den Glauben an die Kraft der Räte und den Sieg der Revolution zu nehmen…

Doch was sind alle Delegierten oder Räte ohne die Masse Proletarier hinter ihnen? Ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Die Massen selbst müssen auf dem Plan erscheinen. Ihr Schicksal wird jetzt geschmiedet. Sie müssen sich mit den Räten vereinen, sie müssen zeigen, dass sie leben wollen und dass, über alle Schwankenden und Zagenden hinweg, sie begriffen haben, dass es ihr Schicksal ist, um das gekämpft wird.

Nicht einzelner menschliche Schwäche und Zaudern können das Werk der Revolution vernichten. Vernichtet werden könnte die Revolution nur, wenn das Proletariat sich selbst aufgäbe. Wenn sie, die Proletarier, den Tag begriffen haben, wenn sie beseelt vom Willen zum Sieg und entschlossen zur Tat sind, dann muss die Revolution siegen. Und darum: Proletarier heraus !”‘

Die Proletarier Berlins hatten den Ruf verstanden. “Die Rote Fahne” vom 17. Dezember meldet mit Genugtuung, dass 250 000 Demonstranten die Straßen füllten, um mit imposanter Willenskundgebung der Tagung des Zentralrats der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands den Weg zu weisen. Vor den aufmarschierten Massen wurden die oben angeführten Forderungen begründet. Als ihr überzeugter Verfechter — nicht zum ersten und nicht zum letzten Male — trat damals Paul Levi vor die Berliner Arbeiter, er sprach in einem Fenster des preußischen Abgeordnetenhauses stehend zu ihnen. Mutet es heute nicht an wie ein Märlein, das beginnt: “Es war einmal”?

Die demonstrierenden Massen stimmten jubelnd den revolutionären Forderungen zu. Allein, auch die Gegenrevolution war am Werke. Darauf wies am 18. Dezember der Artikel hin:

Das zweite Menetekel”. Wir lesen dort:

“…Nun befindet sich die Reichskonferenz bei ihrem Selbstklärungsprozess unter dem Drucke zweier entgegengesetzter Faktoren. Von oben übt die im Ebert-Scheidemannschen Generalquartier konzentrierte bürgerliche Gegenrevolution die stärkste Pression auf die Reichskonferenz aus, um sie zu demoralisieren, ihr das Selbstvertrauen zu rauben, sie zur Abdankung als ein Organ der Arbeiter- und Soldatenräte durch die Einberufung der Nationalversammlung zu bewegen. Dazu war der Putsch des 6. Dezember, die Demonstration bei dem Einzug der Gardetruppen, die Entwaffnung des Proletariats und die Bildung der ‚freiwilligen Volkswehr‘ bestimmt.

Von unten üben zugleich die zielklaren, entschlossenen Massen des Proletariats auf die Reichskonferenz den Druck aus, um ihren revolutionären Willen zu stärken, sie auf den sozialistischen Klassenstandpunkt zu fixieren, sie aus dem chaotischen Niederschlag der Novemberrevolution zur schneidigen Waffe der Weiterentwicklung der sozialistischen Revolution zu machen…”

Der Rätekongress dokumentierte von seinem ersten Sitzungstage an, dass seine Mehrheit und dass namentlich die Führer der beiden sozialdemokratischen Parteien weder die Fähigkeit noch den Willen hatten, die Räte zu einem Werkzeug der proletarischen Macht zu schmieden. Er hatte ein feines Ohr für die Bedürfnisse der Bourgeoisie, für das Auftrumpfen der Gegenrevolution, für das Gewimmer und Gestotter der Zitternden und Feigen, für den Verrat der Streber und Erfolgrechenkünstler kleinen Stils in der Arbeiterbewegung. Ihm fehlte das Organ der Sinne und der Seele für die Sprache der Massen in den Straßen, für die revolutionäre Situation und die Pflicht, die sie ihm auferlegten. Statt sich mit den Massen aufs innigste zu verbinden und revolutionäres Lebensblut aus ihnen zu saugen, sperrte er sich von den Massen ab. Ohne Würde und Größe, in parlamentarischem, unfruchtbarem Redegeplätscher, in kraftlosen, törichten und tückischen Beschlüssen vergeudete er den ihm anvertrauten Schatz der proletarischen Macht und lieferte ihn an die Nationalversammlung aus, an die Bourgeoisie. Die Berichte der “Roten Fahne” über den Kongress, die Artikel: “Hinter Mauern”, “Eberts Mamelucken* stellen scharf heraus, was ist, was vorgeht. Statt revolutionärer Selbstverständigung gegenrevolutionäre Selbstentlarvung, statt Stärkung der Rätemacht der Selbstmord der Räte, statt Kampf gegen die Bourgeoisie die schwertstreichlose Kapitulation vor ihr. Jedoch ebenso klar und trotz allem unerschütterlich redet in dem Blatt die Überzeugung, dass die proletarischen Massen die Revolution weiter zum Siege führen werden. Der Triumph der Gegenrevolution auf dem Rätekongress war “Ein Pyrrhussieg”, wie “Die Rote Fahne” in der Nummer vom 21. Dezember schreibt: “Die erste Tagung des Räte-Kongresses ist zu Ende. Überblickt man seine Leistungen, wie sie sich äußerlich in den Debatten und Beschlüssen darbieten, so sind sie ein Sieg der Ebert-Regierung, ein Sieg der Gegenrevolution auf der ganzen Linie. Aussperrung der revolutionären ‚Straße‘, Annullierung der politischen Macht der Arbeiter- und Soldatenräte, Einberufung der Nationalversammlung, diktatorische Gewalt der Clique des 6. Dezember — was könnte wohl die Bourgeoisie in der heutigen Situation mehr und besseres wünschen? ‚Die Diktatoren wollen von der ihnen zugedachten Diktatur nichts wissen‘, triumphiert ‚Die Freiheit‘, das traurige Organ der politischen Zweideutigkeit.

Gewiss, das selbst gewählte Organ der Arbeiter- und Soldatenräte hat, statt sich der politischen Gewalt für die Sache der Revolution zu bemächtigen, was seine Mission war, sich selbst entleibt und die ihm anvertraute Macht dem Feinde ausgeliefert.

Hier kommt nicht bloß die allgemeine Unzulänglichkeit des ersten unreifen Stadiums der Revolution, sondern auch die besondere Schwierigkeit dieser proletarischen Revolution, die Eigenart ihrer historischen Situation zum Ausdruck.

In allen früheren Revolutionen traten die Kämpfer mit offenem Visier in die Schranken: Klasse gegen Klasse, Programm gegen Programm, Schild gegen Schild. In der heutigen Revolution treten die Schutztruppen der alten Ordnung nicht unter eigenen Schildern und Wappen der herrschenden Klassen, sondern unter der Fahne einer “sozialdemokratischen Partei” in die Schranken. Würde die Kardinalfrage der Revolution offen und ehrlich: Kapitalismus oder Sozialismus lauten, ein Zweifeln, ein Schwanken wäre in der großen Masse des Proletariats heute unmöglich.

Jeder Tag verschärft die Situation, jeder Tag meißelt das weltgeschichtliche Dilemma schroffer, unerbittlicher heraus. Die zurückflutende Masse der Soldaten verwandelt sich allmählich in Arbeitermasse, zieht die Livree des Imperialismus aus und den Proletarierkittel an. Damit berühren die Soldaten wieder den Mutterboden, in dem ihr Klassenbewusstsein wurzelt, und die Fäden, die sie vorübergehend an die herrschenden Klassen knüpften, zerreißen. Zugleich steigen die Riesenprobleme der Arbeitslosigkeit, der wirtschaftlichen Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit, des finanziellen Staatsbankrotts auf. Die innere Auflösung der kapitalistischen Wirtschaft zeigt ihren Medusenkopf. Hier in dem wirtschaftlichen Gegensatz ist die heiße Esse, aus der mit jedem Tag neue Gluten des Klassenkampfes emporlodern werden.

Und damit ist gegeben, dass die revolutionäre Spannung, dass das revolutionäre Bewusstsein der Masse mit jedem Tag akuter und schärfer wird. Gerade der Rätekongress hat durch den schroffen, unvermittelten Gegensatz, in den er sich zu der Situation und Stimmung der Massen gesetzt, selbst zu ihrer Klärung und Schulung sein Bestes getan. In den wenigen Tagen seiner Beratungen hat er dem Proletariat wie der Soldatenmasse den Kampf aufs Messer gegen die Regierung der Gegenrevolution als unausweichliche Lebensfrage vordemonstriert.

Nur Unklarheiten, Halbheiten, nur Schleier und Nebel sind der Sache der Revolution gefährlich. Jede Klarheit, jede Enthüllung ist Öl ins Feuer der Revolution.

Der Rätekongress hat in den wenigen Tagen eine so gründliche, ganze Arbeit geleistet, so alle schleppenden Schleier von dem Kern der Gegenrevolution hinweg gezogen, dass seine Tagung wie eine Sprengmine die Gewissen der proletarischen Massen aufrütteln muss.

Von der Stunde ab, da die Rätedelegierten ausgeredet haben, haben die Arbeiter- und Soldatenräte in ganz Deutschland, haben die Arbeitermassen das Wort. Sie werden reden, und sie werden handeln. Der Sieg der Ebert-Regierung wird — wie alle Siege der Gegenrevolution — ein Pyrrhussieg bleiben.”

Ein Beispiel von vielen für die Konsequenz, mit der die von Rosa Luxemburg geleitete “Rote Fahne” alle auftauchenden strittigen Fragen unter dem Gesichtswinkel der Räteordnung betrachtete. Am 27. November äußerte sie zu einer “Reichskonferenz” von Vertretern der verschiedenen deutschen “engeren Vaterländer”:

“…Was ist Separatismus? Gewiss gab es einen Separatismus schon vor der Revolution. Man schimpfte auf den ‚Preußen‘ und wünschte den Berliner zum Teufel, aber die Schimpferei hat jetzt den historischen Sinn gewechselt. Die Schimpferei auf den ‚Preußen‘ während des Krieges war die Äußerung des Unwillens des süddeutschen Proletariats gegen den äußeren Vertreter der Kriegspolitik, den Preußen. — Die Schimpferei auf den ‚Preußen‘ jetzt ist die Äußerung der Besorgnis der süddeutschen Bourgeoisie vor dem proletarisch-revolutionären Kampf in Norddeutschland. Der Separatismus in diesem Sinne war vor der Revolution revolutionär, ist jetzt dem sozialen Gehalt nach reaktionär geworden.

Und aus dieser Erkenntnis ergibt sich die Taktik. Nur auf der Grundlage der Räteverfassung ist die Einheit des Reiches möglich. Nur die Räteverfassung, der entwickelte proletarische Kampf, voran in Norddeutschland, wird die süddeutschen Proletarier und kleinen Bauern aus der Verstrickung des Separatismus lösen, die die Bourgeoisie um sie gelegt hat.”

Die vom “Vorwärts” und der “Freiheit” unisono verfluchten und verfemten “russischen Methoden” haben offensichtlich über den Rätegedanken und die Verwerfung der Nationalversammlung hinaus auf die Redaktion der “Roten Fahne” ansteckend gewirkt. Das Blatt verzeichnet am 19. Dezember ohne jede sittliche Entrüstung “Terroristisches aus München”. Rote Soldaten haben dort gegen die Heiligkeit der “Demokratie” gesündigt, indem sie eine Versammlung leibhaftiger Demokraten sprengten. Und mehr noch. Soldaten mit roten Abzeichen sind in eine bürgerliche Druckerei eingedrungen und haben dort 100.000 Flugblätter “gegen den Bolschewismus” beschlagnahmt. Zur Zerstampfung der “Meinungsfreiheit” noch die Antastung des bürgerlichen “Eigentums”. Die verworfene “Rote Fahne” aber fügt diesem erschrecklichen Tatbestand dieses Nachwort hinzu:

Also: das Privileg der herrschenden Klassen, Versammlungen des Proletariats durch bewaffnete Gendarmen auflösen zu lassen, das Privileg Eberts und Wels‘, Demonstranten niederknallen zu lassen, ist von bewaffneten Soldaten durchbrochen worden, die Freiheit der Presse wird von den Soldaten nicht für eine Freiheit der Verleumdung gehalten und das vierjährige Lügenwerk der bürgerlichen Presse unterbunden.

Darüber heult das Pack! Was ist größer: Ihre Dummheit oder ihre Heuchelei?”

Mit der Verschärfung der Situation in Berlin wird es noch “toller”. Durch den Rätekongress wagelustig gemacht, von der Ebert-Regierung gerüstet und gesegnet, richtet die Gegenrevolution den Volksmarinesoldaten, diesen tapferen Revolutionskämpfern, das blutige Weihnachtsfest. Der revolutionäre Instinkt der Massen bäumt sich gegen die Hehler der Bourgeoisie auf. Arbeitermassen besetzen am 25. Dezember die Redaktion des “Vorwärts”. “Die revolutionären Obleute und Vertrauensleute der Großbetriebe von Groß-Berlin” nehmen Stellung zu dem “terroristischen” Vorgang und erklären gegen eine Minderheit:

Die Versammlung der revolutionären Obleute und Vertrauensleute Groß-Berlins vom 26. Dezember 1918 hat volles Verständnis für den Groll der Arbeitermassen, der am 25. Dezember zur Besetzung des ‚Vorwärts‘-Unternehmens geführt hat.

Der ungeheuerliche Rechtsbruch, der vor zwei Jahren gegen die Berliner Arbeiterschaft begangen wurde, wird heute um so aufreizender von der revolutionären Arbeiterschaft empfunden, als der ‚Vorwärts‘ in der letzten Zeit in der schamlosesten Weise alle ehrlichen und entschiedenen revolutionären Kreise sowie die Volksmarinedivision beschimpft hat.

Die revolutionären Obleute halten daher die den ‚Vorwärts‘- Leuten erteilte Lektion für wohlverdient. Aber sie halten das Vorgehen gegen den ‚Vorwärts‘ nicht für den gegebenen Anlass, den umfassenden Endkampf gegen die offene und verkappte Gegenrevolution aufzunehmen.

Die Versammlung der revolutionären Obleute empfiehlt daher die Aufgabe der Besetzung des ‚Vorwärts‘-Gebäudes. Sie verpflichtet sich, alle Kräfte einzusetzen, die revolutionäre Entwicklung weiter zu treiben und den Kampf für den Sozialismus zu Ende zu führen. In diesem Kampf ist selbstverständlich eingeschlossen der Kampf gegen die Regierung Ebert und deren Lakaien im ‚Vorwärts‘.

Die Versammlung der revolutionären Obleute erkennt das Recht der Berliner Arbeiterschaft auf den ‚Vorwärts‘ an. Sie ist der Meinung, dass die ‚Vorwärts‘-Angelegenheit in dieser revolutionären Epoche sofort vom Vollzugsrat der Großberliner Arbeiterschaft in diesem Sinne geregelt werden muss.”‘

Die Rote Fahne” veröffentlicht diese Resolution in Nr. 41 vom 27. Dezember und teilt den weiteren Beschluss der revolutionären Obleute mit. Nämlich die Redaktion des “Vorwärts” zu zwingen, die Erklärung an der Spitze des Blattes zu bringen, und zwar ohne Kommentar, widrigenfalls die Besetzung aufrechterhalten werden solle. Also Zwang, Terrorismus von links. “Die Rote Fahne” schreibt dazu: “Es war dies eine ganz spontane Aktion der Masse, und gerade darin liegt ihre große politische Bedeutung. Die Massen haben hier wieder einmal jenen untrüglichen revolutionären Instinkt und Initiative bewiesen, die der lebendige Quell der sich immer wieder erneuernden und vorwärts stürmenden Kraft der Revolution ist. Die Wiedereroberung des ‚Vorwärts‘, der dem Berliner sozialistischen Proletariat unter dem Schutze der Kesselschen Säbeldiktatur durch einen niederträchtigen Gewaltstreich geraubt worden ist, stellt eine schwebende Schuld der Revolution dar, die eigentlich schon am 9. November hätte eingelöst werden sollen. Die Weiterbelassung rechtmäßigen Eigentums der Berliner Arbeiterschaft in den Händen der Ebert-Clique, der es als das bösartigste Reptil dient, um das revolutionäre Proletariat mit Gift zu bespritzen, ist eine Unhaltbarkeit. Es kann nur eine Frage der Zeit sein, wann diese Verhöhnung der elementarsten Rechte und Interessen der Revolution ein Ende nimmt. Wenn heute noch verschiedene Bedenklichkeiten die revolutionären Obleute und Vertrauensleute bedauerlicherweise davon abhielten, sich geschlossen hinter die Massen zu stellen, die jene unabweisbare Schuld der Revolution aus eigener Initiative einlösen wollten und so der ‚Vorwärts‘ der Gegenrevolution wieder ausgeliefert worden ist, so wird doch die einmal in so entschlossener Weise auf die Tagesordnung gestellte Frage nicht mehr verschwinden.

Wir unsererseits werden die Berliner Arbeitermasse mit aller uns zu Gebote stehenden Kraft in diesem ihrem gewollten Bestreben unterstützen und zweifeln nicht, dass der Mut, die Entschlossenheit und Initiative, die sie dabei an den Tag gelegt, sie bald zum Ziele führen werden.”

Die Unvermeidlichkeit des proletarischen Kampfes gegen die Segnungen der “Demokratie” weist die angegebene Nummer in dieser Notiz nach: “Wie sie die Pressfreiheit auffassen.” “Der Ebert-Mann August Müller, Durchhalter und Leiter des Reichswirtschaftsamtes, erklärt, der ‚Roten Fahne‘ nicht mehr Papier liefern zu können, als sie augenblicklich erhält. Wir wollen dem Herrn und dem Berliner Proletariat zeigen, wie es um die Pressfreiheit in Deutschland bestellt ist. Am vergangenen Sonntag erschienen: der ‚Vorwärts‘ 16 Seiten stark, die ‚Deutsche Zeitung‘ 16 Seiten stark, das ‚Berliner Tageblatt‘ 20 Seiten stark, die ‚Vossische Zeitung‘ 24 Seiten stark. Am Mittwoch dieser Woche erschienen dieselben Zeitungen in derselben Stärke wieder, d.h. in der Gesamtstärke von 76 Seiten. Rechnet man hierzu die gesamte übrige Berliner Presse, wie ‚Tägliche Rundschau‘, ‚Kreuzzeitung‘, ‚Morgenpost‘, ‚Volkszeitung‘, ‚Germania‘, ‚Freisinnige Zeitung‘, ‚Lokal-Anzeiger‘, ‚Tag‘ und wie sonst alle heißen, so erschien an diesen Tagen die bürgerliche Presse je in einer Stärke vom mindestens 300 Seiten. Demgegenüber erscheint ‚Die Rote Fahne’ in einer Stärke von 4 (vier) Seiten! Mehr ist nicht zu erhalten!

Ist es nicht Zeit, dass das Berliner Proletariat Herrn Dr. Müller den Denkzettel gibt, um ihn zu erinnern, dass es auf der Welt außer den Profitinteressen der Mosse, Scherl, Ullstein und den Schwindelinteressen des ‚Vorwärts‘ auch noch proletarische Interessen gibt?”

Fast ohne dass eine Atempause eingetreten wäre, prallen Revolution und Gegenrevolution Anfang Januar 1919 abermals heftig gegeneinander und ringen Brust an Brust. Mit dem Eifer wohl dressierter, dienstbeflissener Lakaien eines gut bürgerlichen Hauses setzen die regierenden Scheidemänner ihr Werk der Entwaffnung des Proletariats und der Bewaffnung der Bourgeoisie fort. Sie liefern dieser eine weitere wichtige Machtposition aus. Der Unabhängige Eichhorn wird als Polizeipräsident abgesetzt. Gleichzeitig verfügt die Regierung die Zusammenziehung starker gegenrevolutionärer Truppenaufgebote um Berlin und bereitet den Einmarsch des Generals Lequis, die Verhängung des Belagerungszustandes vor. Die Arbeiter nehmen den dreisten Faustschlag ins Gesicht nicht ebertergeben hin. Das Pflaster dröhnt von den Tritten Hunderttausender, die demonstrieren und von denen Zehntausende und aber Zehntausende kämpfen wollen. Der Odem der Revolution weht glühend durch die Straßen. “Eichhorn bleibt”, so tönt es gebieterisch der Regierung in die Ohren. Arbeiter und Soldaten bemächtigen sich des Polizeipräsidiums, der “Vorwärts” wird neuerlich besetzt ohne jeden Respekt vor der “Meinungsfreiheit” seiner Redakteure und dem erschwindelten juristischen Eigentumstitel seiner Besitzer:

Die Arbeitermasse hat abermals spontan den ‚Vorwärts‘ besetzt. Die brutalen Provokationen der Ebert-Reptile gerade in den letzten Tagen haben die Geduld und Gutmütigkeit der Großberliner Arbeiter auf eine zu harte Probe gestellt. Eine so gefährliche Waffe in den Händen der Feinde der Revolution länger lassen, hieße in der Tat an den vitalsten Interessen der Revolution Verrat üben. Die Zurücknahme des ‚Vorwärts‘, des geraubten rechtmäßigen Besitzes der Berliner Arbeiterschaft, ist ein selbstverständlicher Akt revolutionärer Notwehr. Hoffentlich lässt sich ihn die Arbeiterschaft diesmal nicht wieder entgleiten!

Auch andere bürgerliche Blätter sind von den Arbeitern und Soldaten besetzt worden. Sie dürfen weiter erscheinen, jedoch unter Kontrolle des Arbeiter- und Soldatenrates, der damit nur seine Pflicht als Organ der bedrohten Revolution wahrnimmt.”

Besetzung des Polizeipräsidiums, Besetzung des “Vorwärts”, das war der Anfang der revolutionären Januarkämpfe, die Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verschlangen. “Karl und Rosa haben ihre letzte revolutionäre Pflicht erfüllt”, schrieb Leo Jogiches an Lenin, als an der Meuchelung der beiden großen Führer nicht mehr zu zweifeln war. In seiner Wortkargheit der erschütterndste und ruhmvollste Nachruf für sie.

Paul Levis Veröffentlichung hat Arthur Crispien Veranlassung zu der Behauptung gegeben, Rosa Luxemburg habe den Januaraufstand abgelehnt. Das trifft nicht zu. Was Rosa verwarf, war keineswegs der revolutionäre Kampf des Berliner Proletariats, sondern die falsche Zielsetzung, das unrichtig gewählte Kampfobjekt: Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann. Es steht dokumentarisch fest, dass diese Zielsetzung des Kampfes von dem linken Flügel der Unabhängigen Sozialdemokratie, von den revolutionären Obleuten der Berliner Großbetriebe bestimmt wurde unter Georg Ledebours Führung. Die Tatsache steht in interessanten und lehrreichen Parallele zur Märzaktion 1921, was die politische Einstellung eines bedeutenden Teils treibenden Kräfte anbelangt wie die Wahl eines Kampfziels, das nicht der Ausgangspunkt einer Massenaktion sein konnte.

Rosa Luxemburg sah die Ereignisse — so bedeutsam und hoffnungsvoll sie waren — nicht in der Perspektive des Berliner Rathausturmes. Sie erfasste sie in ihrem Zusammenhang mit der gegebenen Lage und insbesondere der politischen Erkenntnisstufe der breitesten Bevölkerungsschichten in ganz Deutschland. Demnach konnte der Sturz der Ebert-Regierung zunächst nur eine propagandistische Sammlungslosung der revolutionären Proletarier sein, nicht aber das greifbare Objekt revolutionärer Kämpfe. Unter den gegebenen Umständen in der Hauptsache auf Berlin beschränkt hätten diese günstigsten Falls zu einer Berliner “Kommune” geführt, wahrscheinlich obendrein in einem kleinen geschichtlichen Format.

Kampfziel konnte nur sein die kraftvolle Abwehr des Streichs der Gegenrevolution. Also: die Wiedereinsetzung Eichhorns in sein Amt, die Entfernung der Truppen, die das revolutionäre Berliner Proletariat blutig niederschlagen sollten, die Bewaffnung der Arbeiter und die Übertragung der militärischen Verfügungsmacht an die revolutionäre politische Vertretung der Proletarier. Für diese Forderungen musste gehandelt, durfte nicht verhandelt werden.

Der von Rosa Luxemburg geführten jungen Kommunistischen Partei erwuchs aus dieser Lage eine schwierige, konfliktreiche Aufgabe. Sie konnte das Ziel der Massenaktion — Sturz der Regierung — nicht zu dem ihren machen, sie musste es ablehnen, aber sie durfte gleichzeitig sich nicht von den Massen loslösen, die den Kampf aufgenommen hatten. Trotz des Gegensätzlichen musste sie bei den Massen, unter den Massen bleiben, um sie in ihrem Ringen mit der Gegenrevolution zu stärken und den Prozess ihres revolutionären Reifens während der Aktion zu fördern, indem sie ihnen die Bedingungen ihres Vorstoßes zum Bewusstsein brachte. Zu diesem Zwecke musste die Kommunistische Partei ihr eigenes Gesicht zeigen, ihre Wertung der Situation scharf umrissen herausarbeiten, ohne die proletarische, die revolutionäre Solidarität zu verletzen, die sie den Kämpfenden schuldete. Ihr Anteil an dem Kampfe musste also negativ-kritisch und positiv-vorwärtstreibend zugleich sein. Leo Jogiches hat diese Auffassung der Berliner Januarkämpfe in einem längeren Briefe an mich eingehend und überzeugend begründet. Sie ist die Grundlage der Darstellung von dem Berliner Januaraufstand, die Caius in seiner sehr lesenswerten Broschüre gegeben hat. Tatsachengestützt wirft diese Abhandlung helles Licht auf die Situation und im besonderen auch auf die verwickelten großen äußeren und inneren Schwierigkeiten, unter denen sich Rosa Luxemburgs Auffassung durchsetzen musste. So ist diese Broschüre ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der revolutionären Januarkämpfe des Berliner Proletariats, wie zur Geschichte unserer Partei.

Die Rote Fahne” selbst ist in jenen denkwürdigen Tagen ein einziges Dokument für Rosa Luxemburgs Einstellung zu den Januarkämpfen, für ihre Überlegenheit als Führerin, für ihre Meisterschaft, Theorie zur Praxis, geschichtliche Einsicht zu revolutionärem Kampf werden zu lassen. “Die Rote Fahne” fällt den Kämpfenden nicht nörgelnd, schulmeisternd in den Rücken, ihre Energie, ihre Kampffreudigkeit zermürbend. Sie lenkt vielmehr ihre Aufmerksamkeit, ihren Willen immer wieder auf das begrenzte konkrete Kampfziel: Entwaffnung der Gegenrevolution, Bewaffnung der Arbeiter. Sie lässt dabei keine propagandistische Losung fallen, keine Erscheinung unbeachtet, aus der die Aktion Kraft zu gewinnen vermöchte. In der nämlichen Nummer, in der “Die Rote Fahne” die Besetzung des “Vorwärts” meldet, mahnt sie die Massen dringend an die Notwendigkeit zu handeln, um die nahenden Schrecken der Arbeitslosigkeit zu bannen. Der Artikel klingt also aus: “Arbeit! Sozialisierung! Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten! Diese dreieinige Formel der Revolution ist heute der Schrei der darbenden Massen, die praktischste Losung der Stunde.” Wieder und wieder wird die schleunige Neuwahl der Arbeiter- und Soldatenräte verlangt.

Alle Einzelforderungen und Einzelbetrachtungen aber übertönt in ihr das Gebot der Stunde: “Handeln, handeln, nicht verhandeln!” Als Hinweis auf die Tragweite der Ereignisse, als Warnung vor dem unsicheren Hin- und Herpendeln zwischen Kampf und Kapitulation der unabhängigen Führer, vor dem nackten Verrat der Scheidemänner, vor dem Versagen der Arbeiter- und Soldatenräte; als Weckruf höchster Kampfesenergie; als der Ausdruck der Überzeugung, dass die Revolution das Werk der Massen selbst sein muss; als Bekräftigung des Vertrauens in die revolutionäre Selbsterkenntnis der Arbeiter. “Handeln, handeln, nicht verhandeln”, das ist der nie verstummende Schlachtruf der “Roten Fahne” wider die von Arbeiterblut triefende Gegenrevolution, ist das “Karthago muss zerstört werden” des römischen Senators.

Am 7. Januar wirft der Leitartikel der “Roten Fahne” die Frage auf: “Was machen die Führer?* Nach einem Rückblick auf die überwältigende Massendemonstration des vorigen Tages in der Siegesallee heißt es: “Ja, eine Revolution ist es, mit all ihrem äußeren wirren Verlauf, mit der abwechselnden Ebbe und Flut, mit momentanen Anläufen zur Machtergreifung und ebenso momentanen Rückläufen der revolutionären Sturzwelle. Und durch all diese scheinbaren Zickzackbewegungen setzt sich die Revolution Schritt um Schritt siegreich durch, schreitet sie unaufhaltsam vorwärts.

Die Masse muss eben im Kampfe selbst zu kämpfen, zu handeln lernen. Und man spürt heute: Die Arbeiterschaft Berlins hat in hohem Masse zu handeln gelernt, sie dürstet nach entschlossenen Taten, nach klaren Situationen, nach durchgreifenden Maßnahmen. Sie ist nicht mehr dieselbe wie am 9. November, sie weiß, was sie will und was sie soll.

Sind aber ihre Führer, die ausführenden Organe ihres Willens, auf der Höhe? Sind die revolutionären Obleute und Vertrauensleute der Großbetriebe, sind die radikalen Elemente der USP inzwischen an Tatkraft, Entschlossenheit gewachsen? Hat ihre Aktionsfähigkeit mit der wachsenden Energie der Massen Schritt gehalten? Wir befürchten, diese Frage nicht mit einem glatten Ja beantworten zu können. Wir fürchten, die Führer sind noch dieselben, wie sie am 9. November waren, sie haben wenig hinzugelernt. Mag sein, dass die Vertrauensmänner der Arbeiterschaft gründlich und ausgiebig beraten. Jetzt gilt es aber zu handeln. … Handeln! Handeln! Mutig, entschlossen, konsequent — das ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der revolutionären Obleute und der ehrlich-sozialistischen Parteiführer. Die Gegenrevolution entwaffnen, die Massen bewaffnen, alle Machtpositionen besetzen. Rasch handeln! Die Revolution verpflichtet. Ihre Stunden zählen in der Weltgeschichte für Monate und ihre Tage für Jahre. Mögen sich die Organe der Revolution ihrer hohen Pflichten bewusst sein!”5 Die Aufforderung zu einer neuen Demonstration wird der Tatsache gegenübergestellt, dass “Haase und Genossen vermitteln” und die vorwärts drängenden Massen nicht zu führen wissen. 700.000 tatenlustige von revolutionärer Energie strotzende Proletarier irren in den Straßen Berlins direktionslos herum, und die revolutionären Körperschaften — beraten über einen “Vergleich” mit Ebert-Scheidemann.

Der Artikel “Versäumte Pflichten”* im Extrablatt der “Roten Fahne” vom 8. Januar erhebt die gleiche Anklage und klingt in der gleichen Mahnung aus. Es genügte nicht, die Massen zu rufen, es galt ihre revolutionäre Energie lebendig, tätig zu erhalten. Es genügte nicht, der Gegenrevolution Machtpositionen zu entreißen, diese mussten der Revolution voll dienstbar gemacht werden. Das ist nicht mit dem Wolff‘schen Telegraphenbüro, nicht mit dem “Vorwärts” geschehen. Die führenden Körperschaften hatten “für sofortige Redaktionsführung im Sinne der revolutionären Arbeiterschaft Berlins zu sorgen. Wo sind denn die Redakteure geblieben? Was machten Däumig, Ledebour — Journalisten und Redakteure von Ruf und Beruf, die ja jetzt als die Linke der USP kein Organ besitzen. warum ließen sie die Massen im Stich? War es vielleicht ein dringenderes Geschäft zu “beraten” statt zu taten? … Die Massen müssen nicht bloß gerufen werden, sondern auch politisch tätig sein. Sie müssen über alles, was getan und gelassen wird, zur Entscheidung gerufen werden. Die Erfahrung der letzten drei Tage ruft den führenden Organen mit lauter Stimme zu: Redet nicht! Beratet nicht ewig! Unterhandelt nicht! Handelt!”6

Die Lehren der Krise” werden am 9. Januar in den folgenden Sätzen gezogen: “Die Berliner Arbeitermasse hat kein schlagfertiges, aktionsfähiges organisatorisches Zentrum, das die ganze aufgebotene Energie der Massen zu dirigieren, auszunutzen verstände. Die revolutionären Obleute, der Zentralvorstand der USP von Groß-Berlin haben sich als ein solches Zentrum nicht erwiesen. … Wo ist aber der Arbeiterrat, das berufene revolutionäre Organ der Arbeitermasse? Der Arbeiterrat existiert nicht, er versammelt sich nicht, er führt ein Schattendasein. Oder doch: Er tritt in der Gestalt des Vollzugsrats auf die Bühne… um in der revolutionären Krise die Sache der Revolution zu verraten… Heute gilt es also, die Arbeiterräte und Soldatenräte neu zu wählen, den Vollzugsrat neu zu besetzen unter der Losung: Hinaus mit den Ebert und Anhängern! Heute gilt es, die Erfahrungen der letzten acht Wochen in den Arbeiter- und Soldatenräten zum Ausdruck zu bringen, solche Arbeiter- und Soldatenräte zu wählen, die der Auffassung, den Zielen und Bestrebungen der Massen entsprechen. Es gilt mit einem Wort: die Ebert-Scheidemann vor allem in den Fundamenten der Revolution, in den Arbeiter- und Soldatenräten zu schlagen.

Dann, aber erst dann werden die Berliner Massen und ebenso die Massen im ganzen Reiche in den Arbeiter- und Soldatenräten revolutionäre Organe haben, die ihnen in allen entscheidenden Momenten wirkliche Führer, wirkliche Zentren der Aktion, der Kämpfe und Siege abgeben werden.”

Die nämliche Mahnung wird nach der Erklärung des Generalstreiks am 10. Januar in dem Artikel unterstrichen: “Den Todeskampf der Ebert-Scheidemann”. “Die Arbeiterräte aus jenen Tagen des 9. November sind keine Organe der Macht geworden. Sie führten das kümmerliche Leben von Pflanzen, die nicht ans Licht kommen. Sie mussten in den Fabriken weichen der Allmacht der Gewerkschaftsbürokratie und mussten im Politischen weichen der Landratsdemokratie: Sie sollten demnächst unter dem Misthaufen der Nationalversammlung ein wenig ehrenvolles Begräbnis finden.

Sie müssen nun das erste Feld des Sieges der wahren Proletarierrevolution werden. Der Ruf: Nieder mit Ebert-Scheidemann, der heute zum Schlachtruf des kämpfenden Proletariats geworden ist, muss seine erste Verwirklichung finden in den Arbeiterräten. Heraus mit allen Ebert-Leuten aus den Arbeiterräten! Kein bewusster oder unbewusster Dienstbote des Kapitals darf in den Arbeiterräten sitzen! Die Arbeiterräte der Arbeit und nicht dem Kapital: das ist die Parole.”

Das Versagen der Führer* während des Kampfes wird am folgenden Tage neuerlich gebrandmarkt. Zumal das Verhalten der führenden Unabhängigen erfährt scharfe Kritik, die in diesen Sätzen zusammengefasst ist: “Die USP erwies sich hier wieder als der rettende Engel der Gegenrevolution. Haase-Dittmann sind von der Regierung Eberts zurückgetreten, aber sie setzen auf der Straße dieselbe Politik des Feigenblatts der Scheidemänner fort.

Und die Linke der USP unterstützt und macht diese Politik mit! Die Bedingungen für die neuerdings beschlossenen Unterhandlungen mit der Regierung, die von den revolutionären Obleuten angenommen wurden, sind von Ledebour formuliert. Man verlangt von dieser Seite als Preis für die Kapitulation der Arbeiter unter anderem den Rücktritt der Personen Eberts, Scheidemanns, Noskes und Landsbergs von der Regierung. Als ob es sich hier um Personen, nicht um eine bestimmte Politik handelte! Als ob es nicht auf eine bloße Verwirrung und Irreführung der Massen hinausliefe, die typischen und berufenen Vertreter der infamen Politik der Scheidemänner von der Vorderbühne weg zu schieben und durch irgendwelche farblose Statisten zu ersetzen, die nur Strohmänner derselben Politik bleiben, während die Ebert-Scheidemann hinter den Kulissen als Drahtzieher wirken und sich so dem Gericht der Massen entziehen!

So oder anders läuft die ganze von der USP eingeleitete, von den revolutionären Obleuten mitgemachte Unterhandlungspolitik auf eine Kapitulation der revolutionären Arbeiterschaft, auf Vertuschung der inneren Gegensätze und Widersprüche hinaus. Es ist die Politik des 9. November, auf die die seit acht Wochen gereifte Situation und politische Eintracht der Massen zurückgeschraubt werden soll, … Klarheit, schärfster, rücksichtsloser Kampf allen Vertuschungs-, Vermittlungs-, Versumpfungsversuchen gegenüber, Zusammenballung der revolutionären Energie der Massen und Schaffung entsprechender Organe zu ihrer Führung im Kampf: Das sind die brennendsten Aufgaben der nächsten Periode, das sind die bedeutsamen Lehren aus den letzten fünf Tagen wuchtigster Anläufe der Massen und kläglichsten Versagens der Führer.”7 In dem gleichen Sinne endet der Artikel “Sumpfgase” in der nämlichen Nummer. “So ist‘s in der Tat. Sie sind vom ersten Tage ihrer Existenz an dieselben geblieben, die Haasen. Sie haben im Kriege nichts gelernt, sie haben in der Revolution nichts gelernt! Das Grauen vor der Revolution leitete ihre Schritte von Anfang bis Ende. Nun aufgeschreckt durch das Drängen der Masse, lenkten sie mit unfehlbarer Sicherheit zurück in den Sumpf des Kompromisses, des faulen Friedens, der Konfusion.

Die Befreiung der Massen von der Führung der USP, die Verscharrung dieser Kadaver: Das ist von nun ab die unumgängliche Vorbedingung für die revolutionäre Aktionsfähigkeit des Proletariats, das ist die nächste Etappe des Kampfes.”

Die Gegenrevolution, die in Ebert-Scheidemann ihren Thiers, in Noske ihren Galliffet besaß, hat jeden Tag des “Verhandelns” genützt, um reisig zu rüsten. Sie und ihre Helfershelfer stoßen immer frecher und skrupelloser vor. Sie nehmen entsetzliche, unmenschliche Rache dafür, vor den revolutionären Massen gezittert zu haben. Jedoch durch die schwere Bitternis und das Blut der Stunde sieht “Die Rote Fahne” die Vergänglichkeit des gegenrevolutionären Sieges, das Provisorische jeder Lösung der Krise. Nichts als “Kartenhäuser* sind es, die die Gegenrevolutionäre und ihre unabhängigen Schildhalter auf den Trümmern des revolutionären Schlachtfeldes aufbauen. “Der ganze politische Sinn und historische Inhalt der Krise dieser letzten Woche liegt gerade darin, dass die Revolution durch ihre innere Kraft und logische Entwicklung vorwärtsgetrieben wird, um mit der Machteroberung des Proletariats, mit der Verwirklichung des Sozialismus Ernst zu machen, während sich ihr heute noch hemmende Momente auf Schritt und Tritt in den Weg stellen. Mögen diese gegnerischen Kräfte für den Augenblick durch rohe Gewaltmittel Oberhand gewinnen: den weiteren Entwicklungsgang, den Siegeszug der Revolution aufzuhalten, sind sie völlig machtlos… Mag die nackte Gewalt der Maschinengewehre oder die Zweideutigkeit des Verschleierungsplanes der USP die Oberhand gewinnen — nach kürzester Zeit werden die Urgewalten der Revolution: die wirtschaftlichen Kämpfe, einen Strich durch all diese Rechnungen machen. Die Revolution wird wieder und immer wieder das Grundproblem: die Generalabrechnung zwischen Arbeit und Kapital, auf die Tagesordnung stellen. Und diese Abrechnung ist eine welthistorische Auseinandersetzung zwischen zwei Todfeinden, die nur in einem langen Machtkampf, Auge in Auge, Brust gegen Brust ausgefochten werden kann. Kaum werden die Trümmer und die Leichen dieser jüngsten Episode hinweg getragen werden, tritt die Revolution diese ihre unermüdliche Tagesarbeit wieder an.”8

Am folgenden Tage, dem 14. Januar, brachte “Die Rote Fahne” Rosa Luxemburgs monumentalen Artikel: “Die Ordnung herrscht in Berlin”.9 Ihre letzte Arbeit. Es bedürfte nicht dieses besonderen Anlasses, um ihm seine Bedeutung zu sichern. Sie ist in seinem Wert begründet. In diesem Artikel leuchtet die Größe von Rosa Luxemburgs Wissen und Wesen, er funkelt von ihrer Begabung. Er ist ebenso der Ausdruck klaren, tiefen historischen Sinnes wie ein felsenfestes, leidenschaftliches Bekenntnis zur Revolution. Er hält sich fern von jedem Versuch zur Beschönigung, Verkleinerung oder Vertuschung der Niederlage und ist doch “Siegeslied, Triumpheslied, Lied von der Zukunft großem Tag”. Der Artikel sollte Rosas kritische Auseinandersetzung mit dem Januaraufstand einleiten, eine Auseinandersetzung, die dazu bestimmt war, der Ausgangspunkt neuen Rüstens, weiteren Kämpfens für die Revolution zu werden.

Vielleicht, dass die vorstehenden Auszüge der “Roten Fahne” diesem oder jenem noch nicht als Beweis genügen für Rosa Luxemburgs Einstellung zu den Berliner Januarkämpfen und darüber hinaus zur proletarischen Revolution selbst. Er mag dann das Organ des Spartakusbundes von A bis Z in den Wochen durchforschen, wo es von Rosa Luxemburg geleitet wurde. Er wird sich dem Gesamteindruck nicht zu entziehen vermögen von der scharf ausgeprägten, einheitlichen, revolutionären Physiognomie des Blattes, wie ich sie herauszuarbeiten versuchte. Diese Physiognomie widerlegt Zug für Zug das Ammenmärchen, das Arthur Crispien in der “Freiheit” erzählt hat. Offenbar aus dem Wunsche heraus, sich selbst als ehemaligen Parteischüler zu beweisen, dass er sich trotz seines ewigen Hangens und Bangens in schwebender Pein zwischen revolutionären Programmsätzen und unverfälscht opportunistischen Klugmeiereien doch nicht allzu weit von seiner großen Lehrerin entfernt habe. Oder noch tröstlicher: dass diese, frei nach Paul Levi, auf dem Wege gewesen sei, sich zu der Höhe “echt marxistischer Überzeugung” Hilferdingscher Spielart emporzuentwickeln.

Die Haltung der “Roten Fahne” während der Berliner Januarkämpfe zerfetzt aber auch rücksichtslos Schlimmeres: Paul Levis Legende von Rosa Luxemburgs grundsätzlicher Gegnerschaft gegen die bolschewistische Auffassung und Taktik der proletarischen Revolution. Gewiss! “Die Rote Fahne” jener Tage enthält keine theoretischen Abhandlungen über bürgerliche und proletarische Demokratie, über proletarische Diktatur und Terror, über Räteordnung und Parlamentarismus. Sie erwähnt kaum nebenher flüchtig die Nationalversammlung, zu der die Wahlen vor der Tür standen. Sie diskutiert nicht über die Lehren und Erfahrungen der russischen Revolution. Die Theorie war für den Augenblick durch die Praxis, die Debatte durch den Kampf überholt. Nicht nur die Lehre der proletarischen Revolution in Russland stand vor Rosa Luxemburg, vielmehr die proletarische Revolution in Deutschland selbst. Sie heischte herrisch ihr Lebensrecht, sie befahl: handeln, handeln!

Der Kampf gegen die trügerische Theorie der allbefreienden “Demokratie” hatte sich aus einer Abstraktion, aus einer akademischen Angelegenheit der Führer verwandelt in das Ringen der proletarischen Vorhut mit der sehr realen politischen und militärischen Macht der “Demokratie”, das heißt der Bourgeoisie, maskiert und gedeckt durch die Ebert-Scheidemann, die ihrerseits Deckung und Schutz durch die Kautsky-Haase erhielten. Die Streitfrage: Diktatur des Proletariats, wurde durch den aufgezwungenen Kampf gegen die Diktatur der besitzenden Klassen beantwortet. Die Verwerfung der Nationalversammlung mit Gründen fand ihre Fortsetzung durch den Kampf in den Straßen mit Riesendemonstrationen, Streiks, Gewehrkugeln, unter dem Rufe: Nieder mit Ebert-Scheidemann, nieder mit der Regierung! Etwa wegen der herzlich belanglosen Person der Regierungsträger? Keineswegs, wohl aber wegen ihrer unverfälscht bürgerlichen, gegenrevolutionären Politik. Nur als die Thiers und Galliffet der deutschen Bourgeoisie, als ihre Diener, haben diese Regierungsmänner geschichtliche Bedeutung erlangt, die über den Rahmen von sozialdemokratischen Zahlabenden, Parteitagen, Mandatskämpfen und Parteiarchiven hinausgeht.

In der Tat! In dem Kampf der revolutionären Vorhut des deutschen Proletariats gegen die Regierung der Ebertiner wurden die grundsätzlichen und taktischen Probleme lebendig, die die russische Revolution aufgerollt hatte. Wie konnte es auch anders sein, nachdem die Geschichte die proletarische Revolution selbst auf ihre Tagesordnung gestellt hatte! Die Politik der Ebert-Regierung, der Mehrheitssozialdemokratie war die konsequent verkörperte Beantwortung dieser Streitfragen durch die Praxis. Ebenso die Politik der führenden Unabhängigen, allerdings mit Schwankungen und ohne Konsequenz, zum Teil bewusst, zum Teil unbewusst. Die “rüde” Politik der Bolschewiki beantwortete die zum Austrag drängenden Probleme vom proletarischen, vom revolutionären Standpunkte aus. Die “gemütvolle” Politik der “echten Marxisten” Deutschlands tat das von der bürgerlichen, der gegenrevolutionären Seite her. Sie führte deshalb nicht nur bei jeder Gelegenheit zur feierlichen Abschwörung der bolschewistischen Taktik und Methoden, sondern zwangsläufig zur Verleugnung und Preisgabe der proletarischen Revolution selbst.

Als sich im Kampfe gegen diese Politik das Grundproblem der proletarischen Revolution immer mächtiger erhob, mussten sich auch trotz “des deutschen Gemüts” “bolschewistische Auffassungen und Methoden” zeigen. Nicht in anbetender, unkritischer Nachahmung des “russischen Vorbildes”, vielmehr in Durchsetzung von Grundbedingungen der proletarischen Revolution. Deshalb auch nicht, wie die Feinde der Revolution fluchen und ihre lauen Freunde stöhnen, in “mechanischer Übertragung” auf die “so ganz anderen deutschen Verhältnisse” — nein, in Anpassung an die geschichtlich gegebenen Bedingungen der Revolution in Deutschland. Diese Selbstverständlichkeit begreift eines in sich.

Die Auseinandersetzung mit den umstrittenen grundsätzlichen und taktischen Fragen war und ist in Deutschland erst ein Anfang. Sie entspricht dem Entwicklungsgrad der deutschen Revolution. Ihr eignet daher nicht das Riesenhafte, Durchgreifende und Scharfzugespitzte des “Bolschewismus”. Das wird sie erst erreichen in ihrem weiteren Entwicklungsstadium, namentlich in der Siedehitze der geschichtlichen Situation, unmittelbar vor der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und nach der Eroberung, wenn der Sieg des Proletariats sich in seiner Diktatur auszuwirken beginnt. In diesem Sinne gehören “bolschewistische Taktik und Methoden” nicht dank der bekannten “überlegenen” Einsicht sozialdemokratischen und gewerkschaftlicher Führer, zur “leicht und rasch überwundenen Vergangenheit” der proletarischen Revolution in Deutschland, sondern zu ihrer herannahenden Zukunft. Immerhin traten die strittigen Fragen in den ersten revolutionären Kämpfen des deutschen Proletariats so greifbar, so beherrschend hervor, dass Rosa Luxemburgs Einstellung zu ihnen in der “Roten Fahne”, in ihrer gesamten politischen Tätigkeit nicht ungewiss schwankend, zweifelhaft sein konnte. Die leidenschaftliche, revolutionäre Kämpferin, die stets die klarheitsdürstende Denkerin blieb, musste sie geistig bewältigen. Dazu trieb sie die Praxis der deutschen Revolution und nicht etwa wie Karl Kautsky das Bedürfnis, als Schulmeister der Weltgeschichte zu vergleichen, ob die Theorie und Praxis des “tatarischen Sozialismus” mit den fertigen, gut abgelagerten Revolutionsrezepten im Schreibtisch übereinstimmten. Die Verkörperungen des “deutschen Sozialismus” im “Vorwärts” und in der “Freiheit” schlussfolgerten mit Recht aus den Schlägen, die Rosa Luxemburg gegen sie führte, auf ihre grundsätzliche und taktische Auffassung des Revolutionsproblems. Als Meuchelmörder den Leib der großen Kommunistenführerin erschlagen hatten, wähnten sie, ihren Geist vor den Massen zu steinigen, indem sie die “starke bolschewistische Verseuchung” der Toten feststellten.

Paul Levi gehörte dem Redaktionsstab der “Roten Fahne” an. Er war einer ihrer geschätztesten Mitarbeiter. In der politischen Physiognomie der “Roten Fahne” mit ihrer unverwischbaren “bolschewistischen” Familienähnlichkeit ist unbestreitbar auch seine eigene persönliche Auffassung grundsätzlicher und taktischer Streitfragen der proletarischen Revolution zum Ausdruck gekommen. Dafür einige Belege. Der Leiter der “Roten Fahne” vom 23. November: “Hie Scheidemann — hie Proletariat” zeigt in wuchtiger Polemik den Gegensatz zwischen den werktätigen Massen und den mehrheitssozialdemokratischen Führern auf. Er enthält diese Sätze:

Für sie alle naht die Götterdämmerung. Sie fühlten es, und Hand in Hand mit ihren Kampfgefährten von vier Jahren, den Erzberger und Konsorten, suchen sie durch die Nationalversammlung das Geschick zu wenden. “Die Männer der Regierung” — sagt der “Vorwärts” — “können von diesem Plan nicht lassen, weil er dem sozialdemokratischen Programm entspricht.” Wir wissen es nicht, wo im sozialdemokratischen Programm etwas von einer Nationalversammlung steht; wenn aber die Scheidemänner und ihre journalistischen Trabanten auf das sozialdemokratische Programm schwören, so ist es nichts anderes, wie wenn ein Mädchen von der Straße auf seine Unschuld schwört. Es steht doch auch im sozialdemokratischen Programm, dass man keine Militärkredite bewilligen dürfe, dass man in keine Regierung zusammen mit Bürgerlichen eintreten dürfe. Das sozialdemokratische Programm liegt in Fetzen, noch grausiger zerfetzt als der berühmte “Fetzen Papier”, der belgische Neutralitätsvertrag.”

Der Artikel ist gezeichnet: Paul Levi.

Am 6. Dezember lesen wir in dem Artikel “Der neue Aufmarsch” aus Paul Levis Feder:

“…Woher diese Wandlung? Die Einberufung der Nationalversammlung hat sie alle, die Herren der Bourgeoisie, über ihre Zukunft beruhigt und es kann die große Börse um Mandate wieder beginnen.

Vergleichen wir aber die Stellung der Parteien jetzt mit der unmittelbaren vor der Revolution, so zeigt sich eines. Die Sozialdemokratie der Herren Scheidemann und Ebert ist an sich nicht mehr in jenem Blocke. Die große “deutsche demokratische Partei”, die alles umfasst, mit denen Herr Scheidemann und Ebert vier Jahre lang durch dick und dünn haben durchgehalten, in denen die Hausmann und Payer, Stresemann und Friedberg sitzen, hat sich konstituiert, vorläufig ohne die regierungssozialistischen Zubehörteile.

Womit freilich mitnichten gesagt ist, dass diese Zubehörteile aufgehört haben, überhaupt Bestandteile der politischen Konstitution der Bourgeoisie zu sein. Die Ebert-Scheidemann waren während des Krieges die von Tag zu Tag mächtiger und bedeutender werdenden Vorkämpfer kapitalistischer Kriegspolitik; sie waren die, ohne deren tätige Mitwirkung schon längst der deutsche Kapitalismus und Imperialismus vor einem — wenn auch nicht so großem wie dem jetzigen — Bankrott gestanden hätten. Sie waren die einflussreichen Schürer und Behüter der Kriegsstimmung, sie waren die, deren reiche Phraseologie kapitalistische Interessenpolitik in “Wahrung nationaler Güter” umzauberte und das Proletariat an seine Interessen glauben hieß, wo es sich um imperialistische Ausbeutungsinteressen und um Geldkassetten handelte.

Und nun heute. Gleich jenen 300 Lazedämoniern, die an dem Engpass der Thermophylen standen und den anstürmenden Perserscharen den Weg versperrten, bis im Rücken die Scharen der Griechen sich bewaffnet, sich aufgestellt, sich bereitet hatten für den Kampf, so stehen heute die Scheidemann-Ebert. In der “sozialistischen” Volksregierung stehen sie und ringen gegen die anstürmenden Proletarier. Die im Keime sich bildende Räteorganisation wird zur tatsächlichen Ohnmacht zurückgeführt, indem sie auf reine Kontrolltätigkeit beschränkt wird, die sozialistische Organisation der Industrie, begonnen durch die Wahl von Arbeiterräten, wird erwürgt durch die Verleihung staatlicher Allmacht an die Gewerkschaften und durch die “Sozialisierungskommission”. Dem lebendigen Willen der Arbeiterschaft zum Kampfe um ihre wirtschaftliche Machtstellung wird mit dem Gebot entgegengetreten, wonach der Mensch sechs Tage arbeiten solle, der Begierde des Proletariats um politische Macht hält man den Köder der Nationalversammlung vor.

Paul Levi ist weder unter den politischen Nachtwandlern zu suchen, noch unter den Leuten, bei denen die Linke nicht weiß, was die Rechte tut. Er schrieb und handelte im vollen Bewusstsein seiner “bolschewistischen” Einstellung zu den Problemen der proletarischen Revolution. Er war sich im Klaren über die grundsätzliche und taktische Haltung der “Roten Fahne” unter Rosa Luxemburgs Leitung, ja gerade dank ihrer Leitung. Er konnte nicht im Zweifel darüber sein, dass diese Haltung zur Voraussetzung hatte eine Revision von Rosa Luxemburgs früherer Auffassung der Probleme, die durch die bolschewistische Politik in Russland scharf herausgemeißelt worden waren. Oder dürfte man im Ernst annehmen, dass Rosa in Deutschland das Zustandekommen der Nationalversammlung mit Leidenschaft bekämpfte, um sich für eine Konstituante in Russland zu begeistern? Dass sie hier ihre ganze Kraft daran setzte, die Stunde der proletarischen Diktatur zu beschleunigen, aber Sowjetrusslands Heil von der “Demokratie” erwartete? Dass sie für Deutschland die Räteordnung erstrebte, für dort den Parlamentarismus wollte? Dass sie die Wucht ihres Wissens und Talents zur Niederzwingung der Politik Ebert-Scheidemann-Haase aufbot, jedoch eine bußfertige Rückkehr zur Kerenskipolitik als “Ziel aufs innigste zu wünschen” erachtete? Nur Narren könnten solche Zwiespältigkeit des Denkens ausgerechnet bei Rosa Luxemburg vermuten, die im Vielgestaltigen und Vielverschlungenen der geschichtlichen Bedingungen des proletarischen Emanzipationskampfes in den einzelnen Ländern stets die großen, einheitlichen, international einenden Richtlinien suchte. Außerdem: Karl Liebknechts Namen — ein geschichtliches Symbol — würde nicht 24 Stunden lang neben dem von Rosa Luxemburg am Kopfe der ,‚Roten Fahne” gestanden haben, wenn nicht zwischen den beiden überragenden Kämpfern Übereinstimmung in der Einstellung zu internationalen Grundfragen der proletarischen Revolution vorhanden gewesen wäre. Diese Übereinstimmung war — unbeschadet abweichender Nuancen im Einzelnen — der tragende Boden der festen, treuen persönlichen Freundschaft und revolutionären Waffenbrüderschaft, die Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bis in einen tragischen Tod verband. Karl Liebknechts Stellung zur russischen Revolution ist bekannt.

Aber der “Terror”, der bolschewistische “Terror” der proletarischen Revolution in Sowjetrussland! Mit großen Gesten wird versichert, dass Rosa Luxemburg den Terror bis zuletzt “grundsätzlich” abgelehnt habe. Es liegen zwei authentische Bekundungen ihrer Auffassung des Terrors vor. Die eine in der “Roten Fahne” vom 24. November 1918, in dem Artikel “Ein gewagtes Spiel”. Der Artikel ist natürlich keine erschöpfende theoretische Abhandlung über die geschichtliche Rolle des Terrors in Revolutionen. Er ist ein glänzender Fechterhieb aus der Situation für die Situation. Aber er wird von Rosa Luxemburgs geschichtskundigem Geist geführt und zielt auch über die Situation des Tages hinaus ins Allgemeine, Grundsätzliche. Der Artikel enthüllt, dass die Gegenrevolution unter Geschrei von drohenden Putschen der Revolutionäre planmäßig den Terror gegen das vorwärts drängende Proletariat vorbereite. Er hebt hervor, dass das Proletariat nicht gleich der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum des Terrors bedürfe, um sich von geschichtlichen Illusionen zu befreien oder um geschichtlich unhaltbare Positionen retten zu wollen. Er gipfelt in dem Ausblick, dass auf den Terror der Gegenrevolution der Terror der Massen antworten werde. Doch man urteile selbst nach den charakteristischen Stellen des Artikels: “Von der ‚Kreuz-Zeitung‘ bis zum ‚Vorwärts‘ hallt die deutsche Presse von Schmähungen gegen ‚Terror‘, ‚Putschismus‘, ‚Anarchie‘, ‚Diktatur‘ wider. Quis tulerit Gracchos de seditione querentes? Wen rührt es nicht, wenn die Kapitolwächter der bürgerlichen Anarchie, wenn diejenigen, die in vier Jahren Europa in einen Trümmerhaufen verwandelt haben, über ‚Anarchie‘ der proletarischen Diktatur schreien?

Die besitzenden Klassen, die in tausendjähriger Geschichte bei der geringsten Rebellion ihrer Sklaven vor keinem Gewaltakt und keiner Niedertracht zurückschreckten, um das Palladium der ‚Ordnung‘: Privateigentum und Klassenherrschaft, zu schützen, sie schreien seit jeher über Gewalt und Terror — der Sklaven. Die Thiers und Cavaignac, die in der Junimetzelei des Jahres 1848 Zehntausende Pariser Proletarier, Männer, Frauen und Kinder, hingemordet hatten, sie erfüllten die Welt mit Geheul über die angeblichen ‚Gräueltaten‘ der Pariser Kommune.

Die Reventlow, Friedberg, Erzberger, die ohne mit der Wimper zu zucken anderthalb Millionen deutscher Männer und Jünglinge zur Schlachtbank getrieben — um Longwy und Briey, um neuer Kolonien willen, die Scheidemann-Ebert, die vier Jahre lang für den größten Aderlass, den die Menschheit erlebt, alle Mittel bewilligten—, sie schreien jetzt im heiseren Chor über den ‚Terror‘, über die angebliche ‚Schreckensherrschaft‘, die von der Diktatur des Proletariats drohe! Die Herrschaften mögen in ihrer eigenen Geschichte nachblättern…

Terror und Schreckensherrschaft waren in den bürgerlichen Revolutionen ein Mittel, geschichtliche Illusionen zu zerstören oder hoffnungslose Interessen gegen den Strom der Geschichte zu verteidigen.

Das sozialistische Proletariat tritt, dank der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, in seine Revolution ohne alle Illusionen ein, mit fertigem Einblick in die letzten Konsequenzen seiner historischen Mission, in die unüberbrückbaren Gegensätze, in die Todfeindschaft zur bürgerlichen Gesellschaft im Ganzen. Es tritt in die Revolution ein, nicht um gegen den Gang der Geschichte utopischen Hirngespinsten nachzujagen, sondern um, gestützt auf das eherne Triebwerk der Entwicklung, zu vollbringen, was das Gebot der geschichtlichen Stunde ist: den Sozialismus zur Tat zu machen. Als Masse, als gewaltige Mehrheit der Arbeitenden soll das sozialistische Proletariat seine historische Mission erfüllen.

Es hat deshalb nicht nötig, die eigenen Illusionen erst durch blutige Gewaltakte zu zerstören ‚ erst zwischen sich und der bürgerlichen Gesellschaft einen Abgrund zu graben. Was es braucht, ist die gesamte politische Macht im Staate, ist der Gebrauch dieser Macht zur rücksichtslosen Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums, der Lohnsklaverei, der bürgerlichen Klassenherrschaft, zum Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung.

Aber es gibt jemand anderen, der heute Terror, Schreckensherrschaft, Anarchie dringend braucht: Das sind die Herren Bourgeois, das sind alle Parasiten der kapitalistischen Wirtschaft, die um ihren Besitz, um ihre Privilegien, um Profite und um Herrschaftsrechte zittern. Diese sind es, die erdichtete Anarchie, erlogene Putsche dem sozialistischen Proletariat in die Schuhe schieben, um wirkliche Putsche, um reelle Anarchie durch ihre Agenten im gelegenen Augenblick zu entfesseln, um die proletarische Revolution zu erdrosseln, die sozialistische Diktatur im Chaos untergehen zu lassen und auf den Trümmern der Revolution die Klassendiktatur des Kapitals für immer zu errichten.

Hirn und Herz der heutigen Hetze gegen den revolutionären Vortrupp des Proletariats ist das Kapital und sein Existenzkampf. Dessen Hand und Werkzeug ist die abhängige Sozialdemokratie. Das Dienstverhältnis hat die Revolution überdauert, die Herrschaft wie die Domestiken haben nur rote Abzeichen auf die Kleidet geheftet. …

Wir sehen dem Schauspiel von der geschichtlichen Warte mit kaltblütigem Lächeln zu. Wir durchschauen das Spiel, die Akteure, die Regie und die Rollen.

Was denkt man aber wohl, was würden die Massen der revolutionären Proletarier tun, wenn die Hetze ihren Zweck erreichte, wenn etwa demjenigen ein Haar auf dem Haupte gekrümmt werden sollte, den sie auf ihren Armen aus dem Zuchthaus geholt und als den berufenen Führer erkannt haben? Wer hätte wohl dann die Macht, diesen Massen Kaltblütigkeit zu predigen….

Ihr Herren Bourgeois und ihr Dienstmannen des todesgeweihten Kapitals vom ‚Vorwärts‘, ihr spekuliert wie Bankrotteure auf die letzte Karte: auf die Unwissenheit, auf die politische Unerfahrenheit der Massen. Ihr lauert auf den Augenblick, ihr lechzt nach den Lorbeeren der Thiers, Cavaignac und Galliffet. Es ist ein gewagtes Spiel. Der Diktatur des Proletariats, dem Sozialismus gehört der Tag und die Stunde. Wer sich dem Sturmwagen der sozialistischen Revolution entgegenstemmt, wird mit zertrümmerten Gliedern am Boden liegen bleiben.”10

Die zweite Stellungnahme Rosa Luxemburgs zum Terror, auf die sich die “Antiterroristen” der Arbeiterbewegung berufen, ist im “Spartakusprogramm” enthalten. Der betreffende Abschnitt wird durch diese Ausführungen eingeleitet:

In den bürgerlichen Revolutionen war Blutvergießen, Terror, politischer Mord die unentbehrliche Waffe in der Hand der aufsteigenden Klassen.

Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie hasst und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft, weil sie nicht mit naiven Illusionen in die Arena tritt, deren Enttäuschung sie blutig zu rächen hätte. Sie ist kein verzweifelter Versuch einer Minderheit, die Welt mit Gewalt nach ihrem Ideal zu modeln, sondern die Aktion der großen Millionenmasse des Volkes, die berufen ist, die geschichtliche Mission zu erfüllen und die geschichtliche Notwendigkeit in Wirklichkeit umzusetzen.”11

Es ist gemunkelt worden, die ersten beiden Sätze seien “speziell gegen die Bolschewiki gemünzt”, seien der Auftakt zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung Rosa Luxemburgs mit der bolschewistischen Theorie und Praxis, zu deren grundsätzlicher Verurteilung. Die alte Gegnerschaft zur “Lenin-Partei” — wie sie in dem Artikel der “Neuen Zeit” von 1904 ihren Ausdruck gefunden — habe unvermindert, ja verschärft fortbestanden. Wie alte Weiber aus dem Kaffeesatz die Zukunft herauslesen, so orakelt dieses Hintertreppengeraune aus gelegentlich kritischen und ärgerlichen Meinungsäußerungen Rosa Luxemburgs, wie sie in Einzelfällen jedem temperamentvollen Menschen entfahren. Nur vollkommener Mangel an theoretischem Sinn kann aus solchen Meinungsäußerungen eine grundsätzliche geschichtliche Theorie fabrizieren wollen. Davon abgesehen lag Rosa Luxemburg nichts ferner, als durch Nadelstiche nebenbei und hintenherum zu kämpfen. Ihrer Wesensart entsprach nicht diese Kampfesart ohnmächtiger “Weiblichkeit”, sie suchte stets das offene Ringen mit dem Gegner.

Will man aber schon aus den beiden Sätzen eine versteckte Beziehung zu der “bolschewistischen Politik” herausdestillieren, so können sie anderes bedeuten, als ihnen unterlegt wird. Das Grollen eines abziehenden und nicht der erste Donner eines aufziehenden Gewitters. Die führende Partei der russischen Revolution von 1917, des russischen Proletariats von 1918 war nicht die starre sozialdemokratische Emigrantenorganisation von 1904. Eine Welt der revolutionären Entwicklung, des Reifens lag zwischen 1904 und 1918, Monate, die die Bedeutung von Jahren halten, Jahre, denen die Bedeutung von Jahrzehnten zukam. Man erinnere sich an Lenins Worte über die Umstellung der Partei, als es nach der Märzrevolution 1917 galt, auf Russlands Boden revolutionäre Politik zu treiben. Rosa Luxemburgs Stellung zu den “Bolschewiki” konnte von diesem Stand der Dinge nicht unberührt bleiben Womit natürlich nicht gesagt sein soll, dass sie zu jedem einzelnen Zug, zu jeder Tat ihrer Politik Ja und Amen gesagt hätte. Aber in der umstrittenen Frage handelt es sich nicht um die einzelnen ,‚Fehler” und “Dummheiten” der bolschewistischen Politik, wie sie Lenin und seine Freunde selbst oft genug offen aufs schärfste kritisiert haben. Zur Entscheidung steht ein internationales Problem des kämpfenden Proletariats. Dazu sagt Rosa Luxemburg in ihrem “Spartakusprogramm” weiter:

Aber die proletarische Revolution ist zugleich die Sterbeglocke für jede Knechtschaft und Unterdrückung. Darum erheben sich gegen die proletarische Revolution alle Kapitalisten, Junker, Kleinbürger, Offiziere, alle Nutznießer und Parasiten der Ausbeutung und der Klassenherrschaft wie ein Mann zum Kampf auf Leben und Tod.

Es ist ein toller Wahn zu glauben, die Kapitalisten würden sich gutwillig dem sozialistischen Verdikt eines Parlaments, einer Nationalversammlung fügen, sie würden ruhig auf den Besitz, den Profit, das Vorrecht der Ausbeutung verzichten. Alle herrschenden Klassen haben um ihre Vorrechte bis zuletzt mit zähester Energie gerungen.

Die imperialistische Kapitalistenklasse überbietet als letzter Spross der Ausbeuterklasse die Brutalität, den unverhüllten Zynismus, die Niedertracht aller ihrer Vorgänger. Sie wird ihr Allerheiligstes, ihren Profit und ihr Vorrecht der Ausbeutung, mit Zähnen und mit Nägeln, mit jenen Methoden der kalten Bosheit verteidigen, die sie in der ganzen Geschichte der Kolonialpolitik und in dem letzten Weltkriege an den Tag gelegt hat. Sie wird Himmel und Hölle gegen das Proletariat in Bewegung setzen. Sie wird das Bauerntum gegen die Städte mobil machen, sie wird rückständige Arbeiterschichten gegen die sozialistische Avantgarde aufhetzen, sie wird mit Offizieren Metzeleien anstiften, sie wird jede sozialistische Maßnahme durch tausend Mittel der passiven Resistenz lahm zu legen suchen, sie wird der Revolution zwanzig Vendéen auf den Hals hetzen, sie wird den äußeren Feind, das Mordeisen der Clemenceau, Lloyd George und Wilson als Retter ins Land rufen — sie wird lieber das Land in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandeln, als freiwillig die Lohnsklaverei preisgeben.

All dieser Widerstand muss Schritt um Schritt mit eiserner Faust, mit rücksichtsloser Energie gebrochen werden. Der Gewalt der bürgerlichen Gegenrevolution muss die revolutionäre Gewalt des Proletariats entgegengestellt werden. Den Anschlägen, Ränken, Zettelungen der Bourgeoisie die unbeugsame Zielklarheit, Wachsamkeit und stets bereite Aktivität der proletarischen Masse. Den drohenden Gefahren der Gegenrevolution die Bewaffnung des Volkes und Entwaffnung der herrschenden Klassen.

Der Kampf um den Sozialismus ist der gewaltigste Bürgerkrieg, den die Weltgeschichte gesehen, und die proletarische Revolution muss sich für diesen Bürgerkrieg das nötige Rüstzeug bereiten, sie muss lernen, es zu gebrauchen — zu Kämpfen und Siegen.

Eine solche Ausrüstung der kompakten arbeitenden Volksmasse mit der ganzen politischen Macht für die Aufgaben der Revolution, das ist die Diktatur des Proletariats und deshalb die wahre Demokratie. Nicht wo der Lohnsklave neben dem Kapitalisten, der Landproletarier neben dem Junker in verlogener Gleichheit sitzen, um über ihre Lebensfragen parlamentarisch zu debattieren: dort, wo die millionenköpfige Proletariermasse die ganze Staatsgewalt mit ihrer schwieligen Faust ergreift, um sie wie der Gott Tor seinen Hammer den herrschenden Klassen aufs Haupt zu schmettern: dort allein ist die Demokratie, die kein Volksbetrug ist.”12

Der Sinn dieser Ausführungen ist eindeutig. Hier heißt es mit Luther: “Das Wort sie sollen lassen stahn”. Meint irgendwer, Tors Hammer der proletarischen Staatsgewalt könnte aus dem Papier des “Mitteilungsblattes”, von "Unser Weg” und der “Freiheit” geschmiedet werden? “Aus Pappe schmied‘ ich kein Schwert”, singt Jung-Siegfried dem Zwerg Mime zu.

1 “Die Verfassung der Redaktion war die einfache Diktatur von Marx. Ein großes Tageblatt, das zu bestimmter Stunde fertig sein muss, kann bei keiner anderen Verfassung eine folgerechte Haltung bewahren.” Friedrich Engels: “Marx und die ‘Neue Rheinische Zeitung’ 1848-49” (1884), in Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 21, S. 16-24, hier S. 19

2 “Rote Fahne”, 21. November 1918

3 Rosa Luxemburg, a.a.O., S. 423f.

* Wie mir von gut unterrichteter Seite mitgeteilt wurde, ist dieser Artikel von Rosa Luxemburg selbst.

4 a.a.O., S. 425-28, hier S. 427f., die Hervorhebungen fehlen in Clara Zetkins Buch

* Rosa Luxemburg war die Verfasserin. [a.a.O., S. 437-441]

* Er ist von Rosa Luxemburg geschrieben. [a.a.O., S. 452-456]

* Dieser Artikel ist von Rosa Luxemburg. [a.a.O., S. 466-469]

* Von Rosa Luxemburg.

* Von Rosa Luxemburg.

* Von Rosa Luxemburg.

* Auch dieser Artikel ist von Rosa Luxemburg.

10 a.a.O., S. 411-14

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