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VI. Paul Levis “Einleitung”, ein Missbrauch von Rosa Luxemburgs Septemberkritik

Warum die Veröffentlichung der ,Nachlassbroschüre”? / Die unmarxistische Methode der “Einleitung” / Offene Kennzeichnung der “neuen Politik” als aufgezwungene Konzessionspolitik an den Kapitalismus und scharfe Herausarbeitung des kommunistischen Ideals durch die Bolschewiki / Das Rechnenmüssen der bolschewistischen Politik mit der Mentalität des russischen Kleinbauern / Der tragische geschichtliche Widerspruch der russischen Revolution als Untergrund der bolschewistischen Konzessionspolitik

Die Erklärung für die Veröffentlichung der “Nachlassbroschüre” just nun ist gegeben in der “Einleitung”, die dem “Vorwort” folgt. Paul Levi empfand danach offenbar das Bedürfnis, seinen eigenen geharnischten Waffengang gegen die Bolschewiki mit der Autorität der kommunistischen Theoretikerin zu decken, In der Tat! Die “Einleitung” führt nicht ein in Rosa Luxemburgs Ringen mit wichtigsten Problemen der russischen Revolution, sie bringt vielmehr die Beurteilung und Verurteilung der bolschewistischen Politik durch Paul Levi selbst. Das aber unter Berufung auf Rosas Kritik und mit der Gebärde, als sei Paul Levis Einstellung ihre konsequente Fortsetzung. Das mag, äußerlich gesehen, berechtigt erscheinen. Ist nicht die Entwicklung der Dinge in Sowjetrussland seither, sind namentlich nicht die Konzessionspolitik und das Verhältnis der Kommunistischen Partei zu den proletarischen Massen Auswirkungen der “Fehler”, auf die Rosa Luxemburg schon in ihrer Studie vom September 1918 mit Besorgnis für die Revolution hingewiesen hat? So vermeint der Herausgeber der “Nachlassbroschüre”, und er behauptet schlankweg, Rosa sei auf Grund ihrer kritischen Auseinandersetzungen “zu Resultaten gekommen, die ihr Urteil auch über die jetzige Politik der Bolschewiki ahnen lassen.”

Zum “Ahnenlassen” als entscheidendes Moment geschichtlicher Einschätzung fehlen nur noch Tischklopfen und Aussprüche eines Mediums als Äußerungen Luxemburgischen Geistes. Lebte Rosa noch, so würde sie sich derartigen politischen Spiritismus sehr unwirsch verbitten. Ihrem tiefsten Wesen nach, das ganz Klarheit und Bestimmtheit war, ist auch ihre unvollendete Septemberabhandlung darauf gerichtet, verstanden zu werden und nicht “ahnen zu lassen”. Worauf es angesichts der jetzigen bolschewistischen Politik ankommt, ist nicht das “Ahnenlassen” eines fertigen Urteils — und wäre es das einer so überlegenen Persönlichkeit wie Rosa Luxemburg —‚ es ist die nüchterne, gewissenhafte Prüfung der geschichtlichen Bedingungen, unter denen diese Politik steht und sich auswirkt. Daran aber hat es Paul Levi in seiner “Einleitung” fehlen lassen.

Wohl versichert er mit der Miene erhabener Objektivität, dass man nicht Vorwürfe erheben dürfe, sondern untersuchen und verstehen müsse, dass Konzessionspolitik und Parteientwicklung der Bolschewiki in ihrem historischen Zusammenhang zu betrachten seien. Jedoch es bleibt bei dieser bloßen Verbeugung vor der marxistischen Methode, Paul Levi hat sie nicht angewendet. Sein Urteil über die bolschewistische Politik stützt sich ausschließlich auf Zitate. Auf Zitate von Lenin, von Sinowjew, von Trotzki, von Radek, von Rosa Luxemburg, auf fleißig gesammelte, geschickt gewählte Zitate über die gewandelte Einstellung der Bolschewiki in der Frage des wirtschaftlichen Aufbaues, über die Wertung der Sowjets, der Gewerkschaften etc. etc. Paul Levi gesteht selbst ein, dass mit solcher Gegenüberstellung von Zitaten “an sich gar nichts bewiesen ist”. Trotzdem hat er sich damit begnügt, Meinungsäußerung auf Meinungsäußerung zu häufen, statt dem geschichtlichen Leben nachzuspüren, aus dem diese Meinungsäußerungen hervor gewachsen sind, und von dem sie ihren Sinn erhalten. So sind die Pfeiler seines Urteils ohne Tragkraft, papieren.

Nicht ein revolutionärer Politiker, nicht ein marxistischer Historiker setzt sich in Paul Levis “Einleitung” mit der bolschewistischen Politik auseinander. Das Wort hat dort ein Jurist, der als Ankläger auftritt und nach staatsanwaltlicher Manier um jeden Preis zu einer Verurteilung gelangen will. Aus seinen Darlegungen klingt es immer und immer wieder heraus: “Angeklagter, Sie sind Ihrer Schuld überführt! Russische Korrespondenz, Band so und so viel, Seite so und so viel steht geschrieben In der und jener Broschüre haben Sie erklärt.” … Zitate spielen die Rolle von Indizienbeweisen für die Verwerflichkeit der bolschewistischen Revolutionspolitik. Nur ein sehr zünftiger Jurist würde heute lediglich auf Grund von Indizienbeweisen ein Schuldig aussprechen, würde davon absehen, das soziale Um und Auf des Anklagebestandes in den Kreis seiner Untersuchung zu ziehen.

Der “Marxist” Paul Levi hat es nicht für nötig befunden, seine Anklage gegen die russischen Kommunisten in ihrer Verknüpfung mit der geschichtlich gegebenen Welt der russischen Revolution zu überprüfen. Und das, obgleich Rosa Luxemburg, an deren Autorität sich Paul Levi doch klammert, sehr stark betont hat, dass die Taktik, die Politik revolutionärer Parteien nichts Zufälliges, Äußerliches, Ausgeklügeltes sei, sondern nur ein bestimmter Ausfluss konkreter historischer Bedingungen, die ins Bewusstsein der Parteien treten, oder die sich auch unerkannt durchsetzen. Schlimmer noch. Über Anklagen und Urteilsspruch ist Paul Levi die innere Fühlung mit dem starken Leben der russischen Revolution selbst verloren gegangen. So wirkt seine “Einleitung” im Verhältnis zu Rosa Luxemburgs Kritik wie ein verdorrtes Pfropfreis auf wesenfremdem Stamm, mit dem es nicht zu verwachsen vermochte. Das schimmernde Grün um die Dürre kündet nicht das Weben treibender, Frucht verheißender Säfte, es ist aufgestrichener literarischer Firnis und Geistreichelei.

Wäre Paul Levis Auffassung von der Entwicklung der Dinge in Sowjetrussland richtig, so würde sich die bolschewistische Revolutionspolitik am treffendsten mit Schillers Distichon kennzeichnen lassen:

In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling,

Still, auf gerettetem Boot, treibt in den Hafen der Greis.”

Die “Einleitung” lässt die so genannte “neue Politik”, die mit dem Frühjahr 1921 eingesetzt hat, als den “geretteten Kahn” erscheinen, auf dem der bolschewistische, resignierende Greis in den Hafen des Kapitalismus flüchtet, nachdem die stürmische Meerfahrt, ohne sicheren Kompass, den Gestaden des Kommunismus entgegen, dem hoffnungsseligen Jüngling die Masten zerbrochen und zerspellt hat. Für Paul Levi ist die Konzessionspolitik “völliger Umschwung” der bolschewistischen Politik, Ausdruck ihres Bankrotts. Nicht weil sie Kompromisse mit dem Kapitalismus geschlossen hat. Für die Verwirklichung des Kommunismus können Kompromisse notwendig sein, ein unvermeidliches Ergebnis des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen, die für und gegen ihn streiten. Allein Kompromisse sind für Kommunisten nur unter zwei Bedingungen erlaubt: keine Verschleierung, offene Kennzeichnung des Kompromisses als Kompromiss; konsequentes Festhalten vor den Augen der Massen an dem Ziel, das über die Kompromisse hinausgeht. Kurz, entscheidend für die Zulässigkeit von Kompromissen ist, dass sie keine Trübung des revolutionären Bewusstseins und keine Schwächung des revolutionären Willens der Massen verursachen.

Die bolschewistische Politik hat sich nach Paul Levis Ansicht nicht an diese Bedingungen gekehrt. Sie hat nicht bloß ökonomisch, sondern auch “ideell ihre alten Ziele gestrichen” und vor dem Kapitalismus kapituliert. Sie ist in ihren objektiven Auswirkungen statt revolutionär gegenrevolutionär. Ihr Sündenfall besteht keineswegs in dem Minus ihrer Maßnahmen in der Richtung zum Kommunismus, vielmehr in ihren Schritten in der Richtung zum Kapitalismus. Als Beweis für diese seine Wertung der bolschewistischen Politik konfrontiert Paul Levi zwei Äußerungen Lenins aus dem Jahre 1918 und 1921 miteinander. 1918 erklärte Lenin als Aufgabe der Kommunistischen Partei: “die Schaffung solcher Bedingungen, unter denen die Bourgeoisie weder existieren noch von neuem entstehen könnte”. 1921 schreibt er “Zur Naturalsteuer”: “Da wir noch nicht die Kraft haben, den unmittelbaren Übergang von der Kleinproduktion zum Sozialismus zu verwirklichen, ist der Kapitalismus als eine natürliche Folge der Kleinproduktion und des Austausches bis zu einem gewissen Grade unvermeidlich. Wir müssen ihn ausnutzen (namentlich indem wir ihn in das Strombett des Staatskapitalismus lenken) als Bindeglied zwischen der Kleinproduktion und dem Sozialismus, als Mittel, Weg, Maßnahme, Methode zur Übung der Produktionskräfte.” An anderer Stelle äußerte Lenin diese Ansicht: “Nicht unmittelbar durch die Begeisterung, sondern mit Hilfe des persönlichen Interesses, der persönlichen Interessiertheit, mit Hilfe der wirtschaftlichen. Berechnungen baut man vorerst eine feste Brücke, die im Lande der Kleinbauern über den Staatskapitalismus zum Sozialismus führt.” Können Paul Levis Behauptungen beweisende Kraft beanspruchen? Man urteile.

Es ist verblüffend, dass Paul Levi, für den sich die Weltgeschichte aus Zitaten zusammensetzt, jene Äußerungen führender Bolschewiki unbekannt geblieben sind, die mit aller Bestimmtheit und Schärfe die Konzessionspolitik als ein aufgezwungenes Kompromisscharakterisieren. Die Zahl solcher Äußerungen ist Legion. Paul Levi hat offenbar vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen. Die Kommunistische Partei Russlands lässt die Massen wahrhaftig nicht im Dunklen darüber tappen, dass die Konzessionen an den Kapitalismus eine harte Notwendigkeit sind, nicht aber Ziel, Ideal. “Wir müssen jetzt zwei Schritte nach rückwärts, um festen Fuß zu fassen, unsere Position zu halten und dann wieder vorwärts zu dringen”, das ist das Leitmotiv aller bolschewistischen Darlegungen über die Konzessionspolitik. An der Gesamtsumme der national und international gegebenen tatsächlichen Verhältnisse wird nachgewiesen, dass im Kampfe für den Kommunismus die Kompromisse bitter empfundene und gefahrenschwere Übergangsmaßregeln sind, die sich nicht vermeiden lassen.

Wenn die Bolschewiki den Kompromisscharakter der neuen Politik verschleiern wollten, die Notwendigkeit würde sie zwingen, alle täuschenden Hüllen zu zerreiben. Die proletarischen Massen müssen die Konzessionspolitik verstehen, um sie zu ertragen. Die Folgen dieser Politik greifen Tag für Tag mit erbarmungsloser Faust in das Leben der Arbeiter ein. Nach den Jahren kommunistischer Blütenträume und schmerzhaftester Wirklichkeiten könnten Enttäuschung, Bitternis, Entmutigung Herzen und Willen überwältigen. Nur das Verständnis für das Warum und Wozu der neuen Politik vermag dem zu wehren, vermag die Kraft des Durchhaltens zu stärken. Die rücksichtslose Kennzeichnung des Kompromisses begreift aber gleichzeitig die schärfste Herausarbeitung des erhabenen Zieles in sich, dem der Kompromiss dienen soll. Jeder Abbau einer kommunistischen Einrichtung, jede kapitalistische Maßnahme fordert die proletarischen Massen dazu heraus, Kommunismus und Kapitalismus vergleichend einander gegenüber zu stellen. Wovon die Steine reden, davon können die Bolschewiki nicht schweigen. Offen aussprechen, was ist, zielklar und wegsicher an dem festhalten, was sein soll, ist angesichts der Situation ein Gesetz bolschewistischer Taktik. Es würde sich mit der unwiderstehlichen Logik der Dinge gegen die Bolschewiki durchsetzen, wenn die Führer der russischen Revolution nicht die erfahrenen, klugen Taktiker wären, die sie sind.

Freilich behauptet Paul Levi, mit der neuen Politik hätten die russischen Kommunisten auch ideell ihre Ziele preisgegeben. Beweis: das oben stehende Wort Lenins von der Ausnutzung des persönlichen Interesses, um im Lande der Kleinbauern eine Brücke vom Staatskapitalismus zum Sozialismus zu bauen. Diese Art Überführung der bolschewistischen Missetäter erinnert bedenklich an das bekannte Rezept des französischen Polizeigenies: “Gib mir fünf Zeilen von Jemand, und ich bringe ihn an den Galgen.” Als ob neben dem zitierten Ausspruch nicht Worte führender Bolschewiki wären — und nicht zum wenigsten gerade auch von Lenin selbst — die zur aufopferungsvollsten Betätigung sozialer Solidarität anfeuern, als einer gewaltigen, nicht zu missenden Triebkraft neuen, höheren gesellschaftlichen Lebens. Als ob die russische Revolution nicht vor uns stünde, der Ausdruck höchsten Idealismus, die Tat gewordene Begeisterung von Millionen für ein großes Gemeinsames, der grenzenlosen Hingabe Einzelner an das Gesamtinteresse. Und sowohl in der Kommunistischen Partei, wie in größten werktätigen Massen Sowjetrusslands gilt von der Wertung und Praxis sich unterordnender, opfernder Solidarität nicht das Wehmütige: “es war einmal”. Diese Praxis ist, und sie ist um so lebendiger, je schwerer die Aufgaben sind, vor die die Konzessionspolitik die Partei stellt, je schmerzlicher die Opfer dieser Politik von den proletarischen Massen empfunden werden.

Lenin hat nur Selbstverständliches ausgesprochen. Der Revolutionär, der die Welt des Kapitalismus umstürzen will, muss wie mit den Dingen, so auch mit den Menschen rechnen, wie sie sind. Es ist die Voraussetzung dafür, dass er die einen wie die anderen seinem Ziele dienstbar machen kann. Ist es etwa die Schuld der bolschewistischen Taktik, dass in vier Jahren der Revolution, des Krieges und Bürgerkrieges die erdrückende Mehrzahl der russischen Kleinbauern noch nicht glühende Kommunisten geworden sind? Mehr als ein halbes Jahrhundert “marxistischer Theorie und Praxis” der Sozialdemokratie in Deutschland hat es mit den Proletariern dort noch nicht soweit gebracht. Der Niederschlag Jahrhunderte-, Jahrtausende alter Gesellschaftsverhältnisse in der Psyche der Menschen wird nicht über Nacht durch die Revolution davon geschwemmt.

Die Bolschewiki haben das deutlichst bei der Sabotage der Intellektuellen erfahren. Die Sowjetregierung musste vor dieser Rebellion des Interesses einer sozialen Schicht gegen die proletarische Gesellschaftsgestaltung kapitulieren. Sie konnte die von ihr festgelegte gleiche Vergütung aller gesellschaftlich notwendigen und nützlichen Arbeit nicht aufrecht halten und musste den Intellektuellen und den qualifizierten Arbeitern eine privilegierte Stellung einräumen. Paul Levi hat es mit keiner Silbe gemissbilligt, dass die Bolschewiki zunächst ihr großes Ziel “strichen”: Aufhebung des sozialen Gegensatzes zwischen Hand- und Kopfarbeit. Dagegen hat er es mit Recht als verfrüht und unklug erachtet, dass sie sofort nach der Aufrichtung der proletarischen Diktatur dieses Ziel in der angedeuteten Weise zu verwirklichen gedachten. Der Irrtum war, dass sie für die Mentalität der Intellektuellen “ideell” voraus nahmen, was Entwicklungsergebnis sein wird. Nämlich das Bewusstsein der “Intellektuellen” von ihrem solidarischen Verbundensein mit dem Proletariat in der Überwindung des Kapitalismus; die Erkenntnis, dass nur ihre Eingliederung in eine Gemeinschaft ausbeutungsbefreiter, gleichberechtigter und gleich verpflichteter Arbeiter ihnen Freiheit der Entfaltung und des Auswirkens verbürgt. Einzelne “Intellektuelle” haben in allen Perioden der russischen Revolution den höchsten Idealismus betätigt, die Schicht in ihrer Gesamtheit erwies sich als individualistisch eingestellt. Die Sowjetregierung sah sich gezwungen, die “persönliche Interessiertheit”, die wirtschaftliche Berechnung dieser sozialen Schicht auszunutzen, an sie anzuknüpfen, um die Kräfte der “Intellektuellen” für den Aufbau der kommunistischen Ordnung zu gewinnen. Auch damit baute sie eine Brücke, die vom Kapitalismus zum Sozialismus führen soll.

Das Fühlen, Denken und Wollen der kleinbäuerlichen Massen Sowjetrusslands ist überwiegend “kapitalistisch”, nicht kommunistisch. Es wird im Allgemeinen beherrscht von den eigensüchtigen Interessen des Einzelnen, nicht von der Rücksicht auf das Wohl aller, den Vorteil des Gesellschaftsganzen. Die Tatsache steht breit, drohend vor den Bolschewiki, in Gestalt vieler Millionen antikommunistischer Bauernschädel und vieler Millionen robuster Bauernfäuste, die Pflug und Schwert führen, eine wirtschaftliche, eine politische Macht. Sie lässt sich nicht wegdisputieren, sie muss beim wirtschaftlichen und sozialen Aufbau Sowjetrusslands in Rechnung gestellt werden.

Wie die Dinge liegen, kann sich der Sowjetstaat nicht der Notwendigkeit entziehen, das selbstsüchtige, persönliche Interesse der russischen Kleinbauern an dem Wiederaufbau der Wirtschaft, an der Steigerung ihrer Produktivität anzustacheln und auszunutzen. Es gilt, für diese Ziele die volle Energie und Leistungstüchtigkeit jedes Einzelnen zu mobilisieren. Das Rechnen mit dem kleinbäuerlichen Egoismus ist ein Ansatzpunkt für die wirtschaftliche Aufrichtung Sowjetrusslands, nicht mehr. Es ist nicht Inhalt, nicht Ziel. Das ist und bleibt der Kommunismus, eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, deren voll entfaltetes Wesen die Solidarität aller mit allen sein wird. Diese Solidarität begreift den harmonischen Ausgleich zwischen Einzelinteresse und Gesamtinteresse in sich. Sie bedeutet nicht Verleugnung und Missachtung des Einzelinteresses, sondern dessen Eingehen und Berücksichtigung im Gesamtinteresse.

Unbeschadet seines hehren, idealen Inhalts und Ziels hat es der wissenschaftliche Sozialismus im Gegensatz zu dem Utopismus abgelehnt, die menschlichen Tugenden und Vollkommenheiten, “ewige sittliche Prinzipien” als Grundlage der künftigen höheren sozialen Ordnung zu betrachten. Ihre tragende Kraft erblickt er in der Entwicklung der Produktivkräfte, in der technischen Vervollkommnung und dem Charakter der Produktionsmittel und Arbeitsverfahren. Es gehört zu seinem ABC, dass die Menschen sich mit ihren wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen entwickeln und verändern, dass sie an der Arbeit und durch die Arbeit für die Gemeinschaft erzogen werden. Mit der gesellschaftlichen Umwelt steigt auch der eigensüchtige Nichts-als-Individualist der kapitalistischen Zeitläufte zum solidarisch empfindenden und handelnden Kommunisten auf. Marx verwies in seiner Polemik mit Max Stirner darauf, dass die proletarische Revolution ein langer, schwieriger Prozess sei, denn sie habe nicht nur die Aufgabe, neue soziale Verhältnisse zu schaffen, vielmehr auch die Menschen‚ die die neuen Verhältnisse aufzubauen hätten. Es ist eine Binsenwahrheit, dass es sich bei diesem tiefstfurchenden geschichtlichen Prozess um ein lebendiges Werden handelt, das keine mechanische Trennung der objektiven und subjektiven Triebkräfte zulässt, bei dessen Ablauf im steten, verketteten Wechsel Ursache in Wirkung und Wirkung in Ursache umschlägt.

Auch die Solidarität der Proletarier untereinander und ihre höchste Form, ihre Solidarität als Klasse, erwachsen nach und nach auf dem rauen Boden der proletarischen Klassenlage im Kampfe, sind Mittel, Kraft, Ergebnis, Ziel des Kampfes, alles in einem. Seiner geschichtlichen Einstellung entsprechend, hat es der Marxismus nie abgelehnt, dass auch die noch mächtigen selbstischen Instinkte und Eigenschaften der Menschen für die Zwecke des proletarischen Befreiungsringens und die Durchführung des Kommunismus “ausgenutzt” würden als Mittel, die Einzelnen zu den höchsten Leistungen anzuspornen. Je nach der Individualität und den sozialen Umständen in größerer oder verfeinerter Art. Allein über die Niederungen moralischen und sozialen Seins hinweg, aus denen die Menschheit vom Kapitalismus zum Kommunismus empordringt, hat er stets auf dessen leuchtende Höhen der Solidarität hingewiesen, die erklommen werden müssen. Alle sozialistischen Theoretiker, die sich mit der Agrarfrage befasst haben — auch die “orthodoxesten” — stimmen darin überein, dass der “kleinbäuerliche Egoismus” noch längere Zeit nach der sozialen Revolution fortleben werde, und dass er nur allmählich in dem Maße zu überwinden sei, als Erziehung und Erfahrung die Augen der Kleinbauern für die Vorteile der Gemeinwirtschaft öffnen. Weshalb also das Geschrei, wenn für die Agrarpolitik der Bolschewiki das Gleiche gelten soll?

Wäre Paul Levi nicht von dem Drange besessen, die Bolschewiki mit Sünden zu belasten, “zahlreicher als Sand am Meere”, so hätte er sich das Schmerzgestöhn über Lenins “konterideellen” Ausspruch erspart. Er würde dann überhaupt an die Stelle seiner unfruchtbaren theologischen Textkritik von Zitaten die fruchtbare Untersuchung der sozialen Zustände gesetzt haben, von denen die Konzessionspolitik erzwungen worden ist. Jemand braucht wahrhaftig nicht Paul Levis Talent und Bildung zu besitzen, um den Gegensatz zu erkennen, der zwischen Lenins Äußerungen von 1918 und 1921 besteht. Paul Levis Aufgabe aber hätte es sein müssen, dem großen geschichtlichen Widerspruch nachzugehen, der hinter diesen Äußerungen steht. Nur wenn man ihn im Auge behält, durchdenkt und begreift, enthüllen sich in ihm die historische Bedingtheit und der Charakter der russischen Revolution, wie ihr Verlauf während der verschiedenen Perioden. Enthüllen sich die ungeheure Größe und die ungeheure Tragik des Geschehens, das die russische Revolution zu der gewaltigsten Geistes- und Willenstat erhebt, die die Geschichte bis nun kennt.

Eine winzige Minderheit, klar in ihrer Erkenntnis von Richtung und Ziel der geschichtlichen Entwicklung, kühn in ihrem Wollen, grenzenlos in ihrer Hingabe, ruft in glühendem, stürmischem Schöpferdrange in das gärende, wogende Chaos von Neuem und Altem, Vergehendem und Keimendem: Es werde! Sie unterfängt sich, eine Welt zu stürzen und eine neue zu bauen im Widerspruch zu der Unreife der wirtschaftlichen und sozialen Dinge und damit auch im Widerspruch zu der Unreife der erdrückenden Mehrzahl der Menschen im Lande. Wird ihre Kraft aushalten, Dinge und Menschen zu formen, bis wachsende erweckte, entscheidende Massen aus geknetetem Ton der Geschichte zu bewussten Gestaltern der Geschichte, zu Mitschöpfern neuen gesellschaftlichen Lebens werden? Das ist die schicksalsschwere Frage, um die es in der russischen Revolution geht. Und nicht bloß für die Bolschewiki, auch nicht bloß für Sowjetrussland, sondern für das Weltproletariat, die Menschheit.

Der Untergrund der bolschewistischen Kompromisspolitik seit 1921 ist der ungeheure historische Widerspruch, der darin besteht, dass die russische Revolution, dank der wagemutigen, überzeugten bolschewistischen Führung, trotz der Rückständigkeit der sozialen Umwelt, einen entschieden proletarischen Charakter annahm und wuchtig proletarische Ziele proklamierte. Nur bei richtiger Wertung dieses Widerspruches ist die bolschewistische Taktik als Ganzes zu verstehen, mit ihrer Rauheit und Härte, ihren “Überraschungen”, ihrem ungestümen Vorwärtsstürmen und plötzlichen Zurückweichen, mit ihrer großen, konsequent aufs Ziel gerichteten Linie, trotz aller einzelnen Abweichungen davon. Wer wie Paul Levi die Fragen aufwirft, “ob und welche Abirrungen und Fehler in Russland seien”, war verpflichtet, diesen Widerspruch in seiner Auswirkung auf die bolschewistische Politik zu prüfen. Er durfte sich nicht damit begnügen, die Ursache der kritischen “Abweichungen” und “Fehler” einzig und allein in der Taktik zu suchen, und in dieser Taktik selbst nichts anderes zu erblicken, als das Weiterleben und Weiterweben alter Einstellungen der Bolschewiki in den Zeiten der Emigration. In den charakterisierten Widerspruch verstrickt, mit ihm “organisch behaftet”, als mit einem unentrinnbaren Geschick, trifft auf die russische Revolution und die bolschewistische Politik in ihr im höchsten Maße, ja vielleicht mehr als sonst jemals die ebenso glänzende als scharfsinnige Kennzeichnung zu, die Marx im “Achtzehnten Brumaire” vom Wesen und Verlauf proletarischer Revolutionen gegeben hat:

Proletarische Revolutionen …‚ wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen:

Hic Rhodus, hic salta!”1

Nach der marxistischen Geschichtsauffassung ist objektive Voraussetzung der kommunistischen Ordnung eine technisch höchst entwickelte moderne Großindustrie als bestimmende Kraft der gesellschaftlichen Wirtschaft; ist subjektive Voraussetzung ein zahlreiches, in klarem Zielwillen der Klasse zusammengeschweißtes modernes Proletariat, das — im ökonomischen und politischen Kampf erprobt und geschult — mit starker Faust die Leitung der Wirtschaft und des Staates der Bourgeoisie entreißt und seine Diktatur aufrichtet. Der kommunistische Aufbau Sowjetrusslands musste nach der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der Arbeiter- und Bauernrepublik einer auf die Spitze gestellten Pyramide gleichen. Unten, wo die tragende Grundlage sein soll, eine junge, gering entfaltete, noch nicht völlig bodenständig gewordene Grosindustrie und ein junges, ziffernmäßig wie seiner ganzen Entwicklung nach schwaches Proletariat. Darüber aber die massiven Schichten einer kleinbäuerlichen und handwerklichen Wirtschaft — eine riesenhafte Sammlung aller möglichen rückständigen und ruckständigsten Betriebsweise”, und dementsprechend eine erdrückend starke Kleinbauernschaft, die mindestens 80 Prozent der Bevölkerung ausmacht, und deren ungeheure Mehrzahl mit ihrer kulturellen Entwicklung, ihrer sozialen Einstellung noch tief im Mittelalter steckt, ja in noch länger entschwundenen Zeiten.

Auch der gläubigste Revolutionär konnte nicht naiv wähnen, dass wenige Jahre der proletarischen Diktatur das Wunder zu vollbringen vermöchten, eine Entfaltung der Wirtschaft und eine Umstellung des Bewusstseins der vielmillionenköpfigen Bauernmassen zu bewirken, die einen vollkommenen kommunistischen Aufbau gesichert hätten. Es war wahrhaftig des Wunders genug, dass die Pyramide auf ihrer Spitze stehen blieb, während der Bürgerkrieg und der Ansturm der internationalen Gegenrevolutionäre an ihr rüttelten. Allein auf die Dauer war der Zustand unhaltbar. Nur eins wäre imstande gewesen abzuwehren, dass die auf der Spitze balancierende Pyramide umstürzte, oder dass die winzige Basis von den überlagernden Zyklopenblöcken zusammengedrückt und zermalmt würde. Die Stärkung und Verbreiterung der schwachen, schmalen wirtschaftlichen und sozialen Grundlage von außen her. Die rasch fortschreitende proletarische Weltrevolution hätte einen internationalen Ausgleich zu schaffen vermocht für die Rückständigkeit der russischen Industrie und die Schwäche des russischen Proletariats. Das alles anerkennt Paul Levi. Warum zieht er nicht die Schlussfolgerungen daraus für die bolschewistische Politik?

Die proletarische Weltrevolution geht nach ihrem stürmischen Anlauf in Russland in schleppendem, stockendem Gang weiter. Sowjetrussland, der einzige Staat, in dem das Proletariat die Macht erobert hat, gleicht einer einsamen Insel. Rings wird es von den wirtschaftlichen und politischen Gewalten des Kapitalismus umbrandet und bedroht — gestern noch und vielleicht morgen schon wieder auch von seinen militärischen. Kein proletarischer Staat auf höherer wirtschaftlicher und kultureller Stufe half in brüderlicher Solidarität die Produktion in der Richtung auf den Kommunismus entwickeln, so dass sie in den Stand gekommen wäre, die Bedürfnisse der kleinbäuerlichen Massen zu befriedigen und ihnen durch Erfahrung das Bewusstsein ihrer Solidarität mit dem Industrieproletariat zu vermitteln. Welches war im Gegenteil das bittere Erlebnis der russischen Proletarier, die mit der Kraft der Begeisterung und Verzweiflung zugleich den Kommunismus verteidigen? Die sich ihrer überlegenen Kultur rühmenden Arbeiter der großen kapitalistischen Staaten standen in der Entwicklung ihres revolutionären Bewusstseins als Klasse noch so niedrig, dass sie auf Befehl ihrer Ausbeuter und in deren Interesse zuerst Mitschuldige, Mittäter der Versuche waren, Sowjetrussland militärisch niederzuwerfen, dass sie dann die wirtschaftliche und politische Blockade zuließen.

Sowjetrussland war für den wirtschaftlichen Aufbau der zurückgebliebenen und zerrütteten Wirtschaft einzig und allein auf die eigene Kraft angewiesen. Und damit sollte es das Titanenwerk vollbringen, das Versäumnis von Jahrhunderten nachzuholen, die Schuld des miteinander verquickten Zarismus und Kapitalismus gut zu machen, und Neues, Wegweisendes, Vorbildliches zu schaffen. Es sollte mit einem einzigen sicheren, weit zielenden Satz Entwicklungsperioden von langer Dauer und Entwicklungsergebnisse von bodenständiger Kraft überspringen. Wie kühn und fest auch der Anlauf auf das Ziel gerichtet war, der eine Sprung konnte nicht zu ihm tragen. Die geschichtliche Perspektive hatte den Weg zum Ziel verkürzt gezeigt, es konnte nur etappenweise erreicht werden, mit Überwindung schwerster Hemmnisse und lauernder Gefahren. Sollte die Revolution weiter treiben, die Sowjet-Ordnung erhalten bleiben, sollte das Proletariat die politische Macht bewahren, um das kommunistische Ideal zu verwirklichen, so musste die bolschewistische Politik sich zu einem wirtschaftlichen und sozialen modus vivendi mit der Bauernschaft entschließen. Dieser modus vivendi war aber nicht selbst schon von Anfang an eine Konzession an den Kapitalismus, er begriff auch einen anderen modus vivendi in sich mit den eigentlichen Kapitalisten des In- und Auslandes.

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