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VII. Um die bolschewistische Agrarpolitik

Die bolschewistische Agrarpolitik, eine Grundbedingung der russischen Revolution / Die Entwicklung der russischen Agrarrevolution / Die Herausbildung einer umfangreichen Klasse von Mittelbauern und ihre Folgen / Der Zwang zur Befriedigung des bäuerlichen Landhungers / Die Bedeutung des Fehlens eines hoch entwickelten technischen Produktionsapparates und eines modernen Landproletariats für die Agrarrevolution / Der Einfluss der anfänglich schwachen revolutionären Zentralgewalt auf die Agrarrevolution / “Kriegskommunismus” und “Warenhunger” stärken die “altererbte Besitzpsychologie” / Wirtschaftliche und soziale Kräfte der Entwicklung in der Richtung zum Großbetrieb und Kommunismus / Der geschichtliche Unterschied zwischen der französischen und der russischen Bauernemanzipation / Die festgehaltene Nationalisierung des Grund und Bodens und Maßnahmen zur Eingliederung der Kleinbauernwirtschaft in die Gesellschaftswirtschaft / Der Gegensatz zwischen Proletariat und Mittel-Bauerntum in Sowjetrussland / Die wachsende Solidarität zwischen Arbeitern und Bauern

Paul Levi erblickt eine der Hauptursachen der bolschewistischen Konzessionspolitik in der vermeintlich fehlerhaften bolschewistischen Agrarpolitik von dem Tage der Machteroberung an. Und es besteht tatsächlich ein innerer, ursächlicher Zusammenhang zwischen beiden. Die Konzessionspolitik der Bolschewiki ist auch eine Auswirkung ihrer Agrarpolitik, allerdings nicht nur ihre Auswirkung. Die ursächliche Verknüpfung beider liegt jedoch meines Dafürhaltens nicht so oberflächlich, wie Paul Levi sie entdeckt hat: in dem “Abirren” der bolschewistischen Politik vom rechten kommunistischen Wege. Ihre gemeinsame Stammwurzel steckt vielmehr in den Tiefen der Wirtschaft, der sozialen Schichtung Sowjetrusslands. Die Agrarpolitik der Bolschewiki stand von Anfang an im Zeichen des unentrinnbaren Zwanges, sich vor diesen Wirklichkeiten zu beugen, sich realpolitisch zu geschichtlich gegebenen Tatbeständen zu stellen, in denen der Kommunismus noch nicht vorbereitet war, und die sich nicht über Nacht durch die tadellosesten Gesetze und Verordnungen und die klügsten Verwaltungsmaßnahmen umformen lassen. Es ist eine große innere Unkonsequenz, wenn man die russische Revolution “grundsätzlich” anerkennt, in den höchsten Tönen begrüßt und verherrlicht, jedoch die Agrarpolitik der Bolschewiki als schwersten Fehler verdammt. Jeder “marxistisch Denkende” musste sich klar darüber sein, dass unter den vorgefundenen und nicht frei gewählten Umständen in Russland die Revolution schlechterdings nicht möglich war, ohne eine Agrarpolitik, wie die Bolschewiki sie befolgten. Wer die Revolution in Russland wollte, der war gezwungen, auch diese Agrarpolitik “zu schlucken”. Wer den harten Bissen zurückwies, der musste auch auf die Revolution selbst verzichten. Konsequent sind daher jene reformistischen Sozialisten, die ihre “Grundsätze” hervorholen, — wie der Kleinbürger bei Festtagen sein bestes Porzellan aus dem Glasschrank — und um der bolschewistischen Agrarpolitik willen die russische Revolution überhaupt “prinzipiell” verwerfen. Ob sie dabei “Marxisten” sind, steht auf einem anderen Blatt. Konsequent und marxistischer Denker ist nicht Paul Levi, der die russische Revolution bei ihrem Ausbruch “als größtes Faktum des Weltkriegs” feierte, der jahrelang entschlossen mit ihr ging und behauptet, noch heute “grundsätzlich” zu ihr zu stehen, der aber nun, etwas reichlich spät, die Agrarpolitik der Revolution in Grund und Boden verurteilt, und das lediglich als fehlerhafte “bolschewistische Politik”.

Der “marxistisch Denkende” wird auch verstehen, warum die Agrarpolitik der russischen Revolution sich zwangsläufig in der gegebenen Richtung entwickeln musste. Eine neue, höhere Betriebsform lässt sich nicht durch Dekrete vom grünen Tisch aus schaffen. Sie muss sich entwickeln, und ihr Entstehen ist an bestimmte konkrete Voraussetzungen gebunden. Dem Kapitalismus ist es trotz seiner ungeheuren Machtmittel nicht gelungen, während der Periode seiner Herrschaft die kleinbäuerliche Wirtschaft durch eine leistungsfähigere Betriebsform zu ersetzen. Wohl hat er die kleinbäuerliche Bevölkerung weiter Gebiete proletarisiert, dagegen war er außerstande, die Kleinbauernwirtschaft durch eine höhere Betriebsform zu überwinden. Siehe den Umfang und die Bedeutung des Kleinbauerntums in Frankreich, in Deutschland, in Italien! Gewiss: wir sind davon überzeugt, dass der Sozialismus, der Kommunismus gewaltigere und fruchtbarere Kräfte als der Kapitalismus zielbewusst daran setzen kann, die kleinbäuerliche Wirtschaft durch eine vollkommenere Betriebsform abzulösen. In Russland war solche Kräfteentfaltung noch unmöglich. Hier musste sich die Revolution zunächst damit begnügen, den Weg für die gewollte Entwicklung der Landwirtschaft in der Richtung zum Kommunismus freizulegen. Aber hat die bolschewistische Agrarpolitik nicht geradezu diesen Weg verrammelt und die Entwicklung in die entgegengesetzte Bahn gelenkt? Diese sich aufdrängende Frage wird dadurch beantwortet, dass die Eroberung und Behauptung der politischen Macht durch das Proletariat der Ausgangspunkt des Wegs ist, der zum Kommunismus führt. Im Zusammenhang mit diesem Tatbestand ist die bolschewistische Agrarpolitik zu beurteilen.

Wohl die meisten unseres engeren Freundeskreises und der Sozialisten, die die unsterbliche Bedeutung der russischen Oktober/Novemberrevolution werteten, haben die Besorgnisse und Zweifel geteilt, die Rosa Luxemburg betreffs der bolschewistischen Agrarpolitik bedrängten. Unserer Auffassung nach schien diese im Widerspruch zu stehen zu den revolutionären Maßnahmen, die die Landwirtschaft — die Bauernwirtschaft inbegriffen kommunistisch umwälzen könnten. Trotz der subjektiven Zielrichtung der bolschewistischen Agrarpolitik wurden von ihr objektiv konterrevolutionäre Folgen befürchtet.

Der erste Abschnitt der Agrarrevolution schien die Befürchtungen vollauf zu rechtfertigen. Nach der Erklärung des Grund und Bodens als Nationaleigentum ging eine planlose, wilde Aufteilung des Großgrundbesitzes unter die Gesamtheit der Bauern vor sich, die auch zur Zerschlagung landwirtschaftlicher Großbetriebe führte und die Großbauern bereicherte, zu “Anarchisten” und nicht zu Kommunisten machte, wie Genosse Varga es treffend charakterisiert hat. Die zweite Periode der Agrarrevolution entkräftete nicht die bestehenden Zweifel. Sie brachte eine Neuverteilung des Grund und Bodens durch die “Komitees der Dorfarmut”, die sich auch auf den Besitz der Großbauern erstreckte und vervollständigt wurde durch eine “außerordentliche Besteuerung” in natura, die das Vieh, die Maschinen etc. der Großbauern zu Gunsten der “Dorfarmut” erfasste. Die Verteilung erfolgte nach “Seelen”, jede Seele bekam einen Anteil. Ihre Wirkung war die Nivellierung der Bauern, die jedoch überwiegend lokal begrenzt blieb. Wie Varga meint, weil sie nicht mit innerer Kolonisation verbunden war,* wahrscheinlich aber auch, wie mir scheint, weil die revolutionäre Zentralmacht nicht stark genug war und die Hände nicht frei halte, um in dem Riesenreich wirtschaftliche und soziale Maßnahmen planvoll allgemein durchzuführen. Die Periode schloss mit der Auflösung der “Komitees der Dorfarmut” in Zentralrussland und mit einem Regierungsdekret, das neue Verteilungen von Grund und Boden für zwölf Jahre verbietet.

Die nächste Entwicklungsperiode war gekennzeichnet durch das Bemühen, die individuellen kleinbäuerlichen Betriebe in die entstehende große Gemeinwirtschaft einzugliedern und ihre Träger zu erfüllen mit dem Bewusstsein ihres Verbundenseins mit dem Staat des schaffenden Volks, dem Proletariat der Industrie. Die Eingliederung sollte durch die “Kontingente” herbeigeführt werden. Jede bäuerliche Gemeinde musste danach eine bestimmte Menge landwirtschaftlicher Erzeugnisse gegen festgesetzte Preise in gewerblichen Gütern und in Geld an den Staat abliefern. Die Festsetzung eines Lieferungssoll wurde ergänzt durch Vorschriften, nach einem bestimmten Plan die Felder zu bestellen und zu wirtschaften. Eine großzügige, gut organisierte berufstechnische und soziale Aufklärungsarbeit sollte die verstandene, freiwillige Durchführung der Neuerungen sichern und die Kleinbauern für die Gemeinwirtschaft des Kommunismus erziehen. Die Agrarpolitik Sowjetrusslands steht jetzt in einem neuen Entwicklungsabschnitt. An die Stelle der “Kontingente”, des staatlichen Rechts auf die gesamte landwirtschaftliche Produktion, sind die “Naturalsteuer” und der freie Handel getreten, ein offensichtlicher Rückschritt, eine Konzession an das Privateigentum, an die kapitalistische Wirtschaft und Gesinnung. War der Rückzug unvermeidlich oder wurde er wirklich nur durch die bolschewistische Politik heraufbeschworen? Bedeutet er die Preisgabe des kommunistischen Aufbaus oder soll, kann er ihm dienen? Das sind die beiden Fragen von weittragender Bedeutung, um deren Klärung es geht.

Rosa Luxemburg konnte nur über die erste Periode der bolschewistischen Agrarpolitik urteilen. Scharf traten die Gefahren hervor, die der kommunistischen Entwicklung von der regellosen Besitzergreifung und Aufteilung des Großgrundbesitzes durch die Bauern drohten: Die Umwandlung technisch fortgeschrittenen, rationellen landwirtschaftlichen Großbetriebs in rückständige Kleinbauernwirtschaft. Die Verschärfung des Klassengegensatzes zwischen reichen und armen Bauern statt ihres Ausgleichs durch den Kommunismus und damit eine Verschärfung des Gegensatzes zwischen Bauernschaft und Proletariat. Schließlich als Frucht der Stillung des bäuerlichen “Landhungers” eine außerordentliche Steigerung des Eigentumssinnes, der kapitalistischen Einstellung breitester ländlicher Massen und ihr Verkriechen in die Wirtschaft, ihre völlige Abkehr vom öffentlichen Leben, ihre stumpfsinnige Gleichgültigkeit gegen die Sowjetrepublik, die Revolution. In der Folge also: Verminderung der materiellen, wirtschaftstechnischen Voraussetzungen für die kommunistische Umwälzung der Landwirtschaft; Verbreiterung und Stärkung der sozialen Klassen, die vom Geiste des Privateigentums beherrscht, sich der Durchführung des Kommunismus mit allen ihnen verfügbaren Machtmitteln widersetzen, die vom Erdgeruch “ihrer” Scholle berauscht die Sowjetrepublik vergessen und kampflos ihren Feinden preisgeben würden. Rosa Luxemburg betrachtete die Auswirkung der bolschewistischen Agrarpolitik im Lichte der Entwicklung, die die Agrarverhältnisse Frankreichs seit der großen Revolution genommen haben.

Paul Levi muss feststellen, dass die Geschichte die eine Befürchtung Rosas widerlegt hat. “Der russische Muschik kroch nicht, nach getaner Landesverteilung, hinter den hohen Ofen und ließ die Republik Republik und Revolution Revolution sein. Als die Revolution bedroht war, die ihm, dem Bauern, das Land gegeben hatte, stand der russische Bauer auf und verteidigte sie mit nicht minderem Heroismus, als der französische Bauer von 1793 die seine verteidigte. Insofern hat er sich als brauchbare Stütze der Sowjetrepublik erwiesen.” Paul Levi muss ferner zugeben, dass die Geschichte auch noch eine andere kritische Ansicht Rosa Luxemburgs von den Folgen der bolschewistischen Agrarpolitik nicht bestätigt. Diese hat die Gegensätze innerhalb des Bauerntums nicht verschärft. Es blieb nicht bei der anfänglichen “chaotischen, rein willkürlichen Art der Bodenverteilung”. Rosa Luxemburg hat die Zeiten nicht erlebt, da die “Komitees der Dorfarmut” eine Neuaufteilung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes vornahmen, die auch das Großbauerntum in sehr erheblichem Umfange enteignete und zum Aufkommen eines zahlreichen, ziemlich gleichmäßig begüterten mittleren Bauerntums führte. Allein diese Verwischung der Klassengegensätze auf dem Lande wirkte trotzdem nicht revolutionär, sondern konterrevolutionär. Paul Levi unterstreicht richtig, dass mit Rosa Luxemburgs Befürchtung zugleich auch eine bolschewistische Hoffnung auf die Konsequenzen der Landverteilung dahin gesunken ist. Die Bolschewiki waren überzeugt, dass der erwarteten Verschärfung der Klassengegensätze auf dem Lande eine Verschärfung des Klassenkampfes zwischen reichen und armen Bauern folgen müsse, die die nichts und wenig besitzenden bäuerlichen Massen zwangsläufig an die Seite des Industrieproletariats treiben werde. Von dem revolutionären Bunde dieser beiden Klassen hofften die Bolschewiki die Überwindung des Gegensatzes zwischen Bauernschaft und Proletariat.

Die Entwicklung hat nichts nach diesen Perspektiven gefragt. Sie ist andere Wege gegangen. Heute ist für die Agrarverhältnisse Sowjetrusslands charakteristisch und ausschlaggebend eine sehr umfangreiche Klasse der Mittelbauern. Paul Levi sieht die Auswirkungen dieses Wandels also: “Wo das Industrieproletariat vor drei Jahren noch Verständnis und Hilfe auf dem Lande finden konnte, findet es heute in breiter einheitlicher Schicht den Mittelbauern mit seiner — wenn er auch bisher nichts hatte, um sie daran zu erproben — ererbten Besitzpsychologie und seiner heiligen Scheu vor jeder Antastung des jung erworbenen Besitzes, mag die Antastung von Lenin oder von Denikin kommen … der Gegensatz zwischen Industrieproletarier und Landbesitzer ist unendlich vertieft, das Gemeinsame, das Stadt- und Landproletarier verband, ist dahin, und geblieben ist nur der Wille zum Besitz auf der einen, der Wille zum Sozialismus auf der anderen Seite.” Paul Levi ruft Lenin als Zeugen dafür auf, dass mit dem Aufkommen der zahlreichen Mittelbauernschaft eine sehr feste und tief liegende Basis geschaffen ist, “auf der sich der Kapitalismus erhält und im heftigsten Kampfe gegen den Kommunismus aufs neue entsteht. Die Formen dieses Kampfes sind Schleichhandel und Spekulation.” Paul Levi fügt hinzu: “Schleichhandel und Spekulation sind lästige und gefährliche Waffen, die das Bauerntum besitzt, aber keine tödlichen. Das Bauerntum in Russland (wie überhaupt in allen Ländern mit ausschlaggebender Bauernschicht) besitzt gefährlichere. Die eine Waffe, die als Hammer, die andere, die als hydraulische Presse wirkt, die eine, die sofort zerschmetternd, die andere, die langsam, aber sicher erdrückend wirkt. Diese ist die Abtrennung der Bauern und der bäuerlichen Produktion vom Markte. … Der Bauer zieht sich wie die Schnecke in die Hauswirtschaft zurück. Diesem Druck kann auf die Dauer ein Staat, der große Städte mit Industrie und industriellem Proletariate hat, nicht Stand halten. Der Hammer aber, den die russischen Bauern in Händen halten, das ist der Aufstand.”

Paul Levi ist der Meinung, “dass die Anwendung beider Mittel drohte, als die Bolschewiki im Frühjahr 1921 sich zu der radikalen Anordnung ihrer Politik entschlossen. … In ihrem geschichtlichen Zusammenhang, in ihrer Tendenz, objektiv, waren die Maßnahmen der Bolschewiki gegenüber oder vielmehr entgegen den Bauern nicht revolutionär, sondern gegenrevolutionär, getroffen zur Besänftigung einer Klasse, die alle Bande mit ihren Waffengenossen von 1918 gelöst hat, die einheitlich, geschlossen, unerschütterlich antisozialistisch, konterrevolutionär ist.” Das von der bolschewistischen Agrarpolitik geschaffene Mittelbauerntum war zahlreich und stark genug, um dieser Auffassung gemäß zu erzwingen, dass nicht nur die bäuerliche Wirtschaft von der kommunistisch gerichteten Gemeinwirtschaft wieder losgelöst wurde und ihren kapitalistischen Charakter zurückerhielt. In innerem Zusammenhang damit hielt vielmehr der Kapitalismus überhaupt seine Auferstehung in dem Sowjetstaat. Das “Ziel der Bolschewiki” war 1921: “Bedingungen zu schaffen, unter denen der Kapitalismus, wenn möglich als Staatskapitalismus und, wenn nicht möglich, als Privatkapitalismus der gewöhnlichen Feld-, Wald- und Wiesenart wieder auflebe.” An der bolschewistischen Agrarpolitik bei der Machtergreifung hat sich also “der Fluch der bösen Tat” erfüllt, “dass sie fortzeugend Böses muss gebären”. Von Anfang an falsch eingestellt, auf die “Besänftigung” der Bauern abzielend, musste sie mit der Kapitulation vor dem Kapitalismus enden.

Man darf wohl annehmen, dass es unter den führenden Bolschewiki Genossen gab, die sich seit langen Jahren sehr gründlich mit der Agrarfrage beschäftigt halten, und die auch in der sozialistischen Literatur darüber so bewandert waren, wie alle Kritiker der Agrarpolitik ihrer Partei, Paul Levi selbst eingeschlossen. Diese Annahme ist gewisslich keine Schmeichelei nach der einen Seite, keine Majestätsbeleidigung nach der anderen Seite. Sie ist der schlichte Ausdruck des Selbstverständlichen. Bei dem agrarischen Charakter Russlands waren die Bolschewiki gezwungen, der Agrarfrage ganz besondere Aufmerksamkeit zu schenken, Hätten sie aus “Doktrinarismus” darauf verzichten wollen, so würden ihnen das die leidenschaftlichen und tief fassenden Auseinandersetzungen mit den anderen sozialistischen und revolutionären Parteien, insbesondere mit den Sozialrevolutionären, nicht erlaubt haben. Wie kam es, dass trotz alledem die Bolschewiki bei Übernahme der Macht und Regierung eine Agrarpolitik begannen, die im Hinblick auf den Kommunismus äußerst gefährlich werden konnte, und die oben gekennzeichneten Folgen in ihrem Schoße trug? Wie kam es, dass sie nicht sofort alle Maßregeln ergriffen, um die Zerschlagung des landwirtschaftlichen Großgrundbesitzes zu verhindern, die agrarischen Großbetriebe auszubauen, die zersplitterten, leistungsuntüchtigen Kleinbauernwirtschaften zu rationellen Großwirtschaften zusammenzufassen, das Entstehen und die Ausbreitung eines Mittelbauerntums unmöglich zu machen? Wie kam es, dass die bolschewistische Agrarpolitik sich in der Hauptsache zunächst darauf beschränkte, den “Landhunger” der Bauern Russlands zu befriedigen oder richtiger: den Bauern freie Hand zu lassen, ihrem “Landhunger” selbst auf “chaotische, rein willkürliche Art” Genüge zu tun?

Die bolschewistische Agrarpolitik schob tatsächlich die tiefgründigsten und scharfsinnigsten Beweisführungen der besten sozialistischen Theoretiker darüber bei Seite, wie das Proletariat nach seiner Machteroberung die Landwirtschaft zu sozialisieren, die Agrarfrage zu lösen habe. Dafür ließ sie den analphabetischen, vorsintflutlich wirtschaftenden und denkenden Muschik “mit dem Hammer philosophieren”. Als die Bolschewiki die Macht ergriffen, forderte die Geschichte von ihnen nicht Theorie, sondern Tat, die ungeheure Tat der proletarischen Revolution. Die Revolution lässt sich aber nicht mit den vollkommensten Rezepten und der blauen Luft “machen”. Handeln, rasches Handeln, entschlossenes Handeln ist ihr Gebot. Die bolschewistische Gesamtpolitik wurde zunächst und vor allem durch die historische Notwendigkeit bestimmt, den Sieg der proletarischen Revolution, ihr Fortdauern, ihr Weitertreiben sicher zu stellen. Entscheidend dafür war die Behauptung der Staatsgewalt. Die Agrarpolitik der Partei hatte sich diesem Ziel unterzuordnen.

Die soziale Struktur Russlands schloss es aus, dass die soziale Revolution das Werk des Proletariats allein sein konnte. Bei ungefähr 80 Prozent bäuerlicher Bevölkerung war diese unmöglich ohne die Bauern, geschweige denn gegen die Bauern. Die Revolution konnte nur das gemeinsame Werk des Proletariats und des Bauerntums sein, wobei das Proletariat als die geschichtlich übergeordnete — weil am stärksten und weitesten vorwärts drängende — Klasse Richtung und Ziel gebend bleiben musste. Wie die Bauern an das rote Banner der proletarischen Revolution fesseln? Die Geschichte hatte diese Frage bereits beantwortet, ehe die Bolschewiki als Beauftragte des Proletariats das Staatsruder mit kühner Faust packten. “Frieden und Land”, das waren eng verquickt die revolutionären Forderungen der Bauern. Der Friedensschrei der Muschiks war letzten Endes der Ruf der Scholle.

Der bäuerliche Boden konnte nicht länger des Pflügenden, Säenden und Erntenden entbehren. Die Landfrage war so die feste Kristallisationsachse im bäuerlichen Denken, einzig und allein sie konnte in den Bauernmassen unwiderstehliche revolutionäre Impulse erwecken, konnte die Bauernmassen in Bewegung setzen.

Jedoch die Geschichte halte den Bolschewiki noch ein anderes gezeigt. Die Bauern forderten von der Revolution nicht Verheißungen, Grundsätze, Programme, sondern die Tat: das greifbare, nährende Land. Eine der Hauptursachen des Sturzes der Kerenskiregierung war deren Versagen, praktisch an die Lösung der Agrarfrage heranzutreten. Ich glaube gern, dass die regierenden Menschewiki und Sozialrevolutionäre mit wissenschaftlichem Ernst und Eifer drauf und dran gegangen waren, ein theoretisch hieb- und stichfestes Programm dafür auszuarbeiten. Allein der Bauer — auch der russische Muschik — ist vor allem “Realpolitiker”, wenn man will “grober Materialist”. Er zieht im Allgemeinen ein “Hab ich” einem “Hätt' ich” vor. Im Sommer 1917 dünkte den russischen Bauernmassen der Besitz der erträumten Scholle, auf der sie im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot zu essen hofften, zweifellos weit wertvoller, als die größten Zukunftswechsel der Kerenskiregierung auf einen ertragsreicheren und müheärmeren rationellen Wirtschaftsbetrieb.

Der ungestillte “Landhunger” der Muschiks trug Entscheidendes dazu bei, dass das städtische Industrieproletariat die Herrschaft der “Demokratie” brechen konnte. Zur selben Zeit schützte er vor der Militärdiktatur der “‚Weißen”. Er verhütete, dass den zaristischen Generälen, die das städtische, revolutionäre Proletariat blutig niederzuwerfen gedachten, aus russischen Vendéen Chouanenheere zuströmten. Wie hätte auch der Bauer für die Verteidiger der “Herren” kämpfen mögen, die ihm Land und Brot vorenthielten? So erwiesen sich die Bauern nach zwei Seiten hin als eine revolutionäre Kraft. Die Sowjetwahlen und Sowjetbeschlüsse bestätigten, dass sie die Schlüsse aus der damaligen Situation zogen. Mit den Proletariern zusammen übertrugen die Muschiks den Bolschewiki die Staatsgewalt, als der Partei der ungebrochenen Eide für eine Agrarreform. Die bolschewistische Losung: alle Macht den Sowjets begriff die Forderung in sich: die Fabrik den Arbeitern, das Land den Bauern. Die Bolschewiki mussten den moralischen Fonds des Vertrauens bewahren, das die ländlichen Massen in sie setzten. Es war elementarste Lebensnotwendigkeit der Revolution, dass dem Proletariat die Bundesgenossenschaft der Muschiks erhalten blieb. Der Preis dafür war schnellste Verwirklichung der Forderung: das Land den Bauern. Aller Grund und Boden wurde für Nationaleigentum erklärt und sollte zur Nutznießung jenen gehören, die ihn bestellen.

Die vielen Millionen Kleinbauern “expropriieren” zu wollen, wäre unmöglich, wäre der helle Wahnsinn gewesen. Das geben selbst die unversöhnlichsten sozialistischen Gegner der bolschewistischen Agrarpolitik zu. Allein warum hat diese nicht weit zielende Maßnahmen ergriffen und mit eiserner Konsequenz durchgeführt, die binnen kurzem zur Vorherrschaft des landwirtschaftlichen Großbetriebs, zur genossenschaftlichen Zusammenballung und Bewirtschaftung und schließlich zum Aufgehen des kleinbäuerlichen Schollenbetriebes in der Gemeinwirtschaft führen mussten? Das Ergreifen solcher Maßnahmen wäre leicht gewesen — auf dem Papier, die konsequente Durchführung auch — auf dem Papier, sie war jedoch unmöglich in der Praxis. Sie hätte die Muschiks gereizt, erbittert, in Gegner verwandelt, ohne in Wirklichkeit die Entwicklung der Agrarverhältnisse in der Richtung zum Kommunismus ausschlaggebend vorwärts zu treiben.

Die russische Landwirtschaft ist nicht soweit vorgeschritten und “industrialisiert”, dass der moderne, rationelle Großbetrieb ihren Charakter prägen würde. Der Großgrundbesitz trug der Betriebsform nach noch feudalen Charakter, der modern wirtschaftende Gutsherr war alles in allem eine seltene Erscheinung. Landwirtschaftliche Großbetriebe in größerer Zahl gab es nur in Polen, in den Ostseegebieten und in manchen Teilen der Ukraine. So war der Charakter der Landwirtschaft durch die kleine Bauernwirtschaft bestimmt, auf deren Rückständigkeit wiederholt hingewiesen worden ist. Als die Bolschewiki die Macht übernahmen, war der landwirtschaftliche Großbetrieb verschwindend gering. Soweit er sich unter dem Zarismus zu entwickeln begonnen hatte, lag er zum größten Teil in nun abgetrennten Gebieten. Die Folgen davon: Sowjetrusslands Landwirtschaft fehlte der technische Produktionsapparat — Qualitätssämereien, hochwertiges Zuchtvieh etc. eingerechnet — um die gewaltige Betriebsrevolution rasch durchzuführen. Die schwache, zerrüttete Industrie — die zunächst die ungeheure Aufgabe bewältigen musste, die Rote Armee auszurüsten — war außer Stande, dem Mangel abzuhelfen. Bei aller Begeisterung der Arbeiter für den Kommunismus konnten sie nicht Dampfpflüge, Sä-, Mäh- und Dreschmaschinen etc. aus der Erde stampfen, ja nicht einmal die landläufigen Betriebswerkzuge der Muschiks in genügender Menge liefern. Die kapitalistische Blockade des Arbeiter- und Bauernstaats verhinderte die Zufuhr von Produktionsmitteln aus dem Ausland. Den russischen Agrarverhältnissen entsprechend konnte sich die bolschewistische Agrarpolitik nicht auf ein beruflich und sozial geschultes Landproletariat stützen, als Träger der neuen, höheren Wirtschaftsweise. Wohl gab es in Russland eine millionenköpfige “Dorfarmut”, jedoch — von den oben angeführten Teilen des vorrevolutionären Reiches abgesehen — kaum ein eigentliches modernes Landproletariat, das als sozial revolutionäre, wirtschaftlich revolutionierende Macht in Erscheinung getreten wäre.

Last not least erklärt sich der Charakter und Verlauf der bolschewistischen Agrarpolitik in ihren — Anfängen auch aus der großen Schwäche der damaligen revolutionären Zentralgewalt. Diese Schwäche war keineswegs der Ausflug eines Mangels an historischer Einsicht, am Fehlen feiner Revolutionsrezepte und eiserner Konsequenz der führenden Bolschewiki, wie die Klugmeier es ganz genau im Stillen wissen. In ihr kam zum Ausdruck die Schwäche der Klasse, des Proletariats, die die wichtigste treibende Kraft der Revolution und die festeste Stütze der Zentralgewalt war. In dem Riesenreich mit seinen gering entwickelten und gestörten Verkehrsmöglichkeiten wurde sie gesteigert durch die noch ungenügende, zum Teil ganz fehlende Verbindung zwischen den großen städtischen Mittelpunkten der Revolution und den Provinzorten. “Der Himmel ist hoch und der Rat der Volkskommissare ist weit”, sagten sich die Muschiks, wenn sie planlos den oder jenen landwirtschaftlichen Großbetrieb “aufteilten”, und nicht bloß ausgedehnte, maschinenbestellte Ackergründe zerschlugen, sondern auch das Vieh forttrieben, die Arbeitsmittel fortschleppten etc. Auch der Nationalisierung der Industrie Sowjetrusslands ging infolge der anfänglich schwachen revolutionären Zentralgewalt eine Periode voraus, in der die Proletarier mit “chaotischen, rein willkürlichen” Fabrikbesetzungen “die Expropriation der Expropriateure” begannen.

Nicht im tiefgründigen geschichtlichen, im hausbackenen buchstäblichen Sinne musste unter den gegebenen Umständen der Anfang der russischen “Agrarrevolution das Werk der Bauern selbst sein”. Sie setzte mit einem theorie- und programmwidrigen Vorspiel ein, das ein Plagiat aus der großen französischen Revolution schien. Die Muschiks zerstörten aufs gründlichste das feudale Grundeigentum, das jungen kapitalistischen Großbesitz und Großbetrieb in seinem Schoße trug. Die bolschewistische Agrarpolitik konnte sie nicht daran hindern und durfte es nicht tun. Sie musste auf freien Baugrund für die neue Gesellschaft und auf freie Hände für die Revolution bedacht sein. Sie musste sich darauf beschränken, für den Anfang die rechtlichen und politischen Schranken zu beseitigen, die das zu stürzende Alte schützten, und aus dem wilden, elementaren Ansturm der dagegen rebellierenden Kräfte für das Neue zu erobern und zu sichern, was nur erobert und gesichert werden konnte.

War in der weiteren Auswirkung der bolschewistischen Agrarpolitik der gesättigte “Landhunger” der Muschiks und die Herausbildung eines Mittelbauerntums allein, und nur allein, der Grund dafür, dass “die altererbte Besitzerpsychologie” als unabwendbares Schicksal mit einer Unwiderstehlichkeit zum Durchbruch kam, die von den regierenden Bolschewiki das Paktieren mit dem Kapitalismus erzwang? Ich verneine das. Die Dinge so betrachten, läuft auf die marxistisch aufgeschminkte Auffassung der Bibelgläubigen hinaus: wenn Gott nicht den Baum der Erkenntnis in den Garten Eden gepflanzt hätte, so würde die Menschheit nicht mit soviel Fehlern behaftet und mein Freund August Wilhelm Schulze nicht solch alter Sünder sein! Unbestritten, dass der neue Landbesitz eine Grundlage abgab, auf der im ersten Rausch der Erfüllung die antikommunistischen oder vielleicht richtiger unkommunistischen Triebe und Wertungen des Bauern üppig emporwuchern konnten. Dass dies jedoch in erheblichem Umfange tatsächlich der Fall war, wurde durch anderes bedingt.

Der Kommunismus kam zum Muschik als “Kriegskommunismus”, der ihm den Ertrag seines Mühens abforderte, ohne ihm dafür seinen Bedarf an industriellen Gütern zu bringen. Die “Solidarität mit dem lndustrieproletariats” lernte das Dorf kennen in Gestalt der Einhebungskommissionen, die Korn, Butter, Schlachtvieh etc. abholten, und in Gestalt leerer oder unzulänglich gefüllter Verteilungsstellen gewerblicher Erzeugnisse. Die Erfahrung war nicht gerade dazu angetan, den Bauern mit heller Begeisterung für den Kommunismus zu erfüllen. Trotzdem schickte er sich in den Stand der Dinge, opferte, entbehrte und kämpfte für die Sowjetrepublik, wenn immer und solange sie von den Heeren der Gegenrevolution bedroht war. In ihr verteidigte er “seinen” Acker. Als er diesen heldenmütig mit seinem Blut bezahlt hatte und gesichert glaubte, als er in das Alltagsdasein zurücktrat, begann er störrisch und rebellisch wider die neue Ordnung zu werden. Wucher und Schleichhandel nahmen auf dem Lande einen ungeheuren Umfang an. Nicht bloß, weil die “altererbte Besitzerpsychologie” zum Verkauf und zur Aufhäufung heimlichen Reichtums reizte, vielmehr, weil der tägliche Lebensbedarf zum Ankauf von Notwendigem trieb, das auf normalem Wege nicht zu haben war. Schließlich zwang das Bauerntum die Sowjetregierung, ihm durch den Kapitalismus zu verschaffen, was ihm der Kommunismus noch nicht gewähren konnte.

Unzweifelhaft steckt in dieser rückläufigen Entwicklung mehr oder mindestens ebensoviel unerträglich gewordene Tagesnot, als bewusste, hartnäckige antikommunistische Gesinnung und feindseliger Gegensatz zum Industrieproletariat. Der ungestillte “Warenhunger” der Bauern hat in reaktionärer Richtung vorwärtsgetrieben, wie früher der unbefriedigte “Landhunger” in revolutionärer Richtung. Die Schwäche und Rückständigkeit der Industrie, der Wirtschaft Sowjetrusslands — ihre Wirkungen verschärft durch Blockade, Krieg und Bürgerkrieg — ist vor der Geschichte die “große Schuldige”, die die Bauernschaft zurückdrängte zur kapitalistischen Produktion. Wenn man das im Auge behält, so tut sich neben der düsteren Entwicklungsperspektive, die Paul Levi für den Kommunismus in Sowjetrussland gezeichnet, eine andere, hoffnungsreiche für die Zukunft auf. Der Wiederaufbau und Aufschwung der Agrar- und Industriewirtschaft der Räterepublik wird Zoll für Zoll den festen Boden schaffen, auf dem der individualistische Besitzfanatismus der Muschiks durch die Erkenntnis der Solidarität in der großen Gemeinschaft niedergerungen und der Gegensatz zwischen Bauerntum und Industrieproletariat aufgehoben wird.

Die verfemte bolschewistische Agrarpolitik hat die Dinge und Menschen zu diesem Ziel zu führen gesucht. Zugegeben: die offiziellen Sowjetwirtschaften, die landwirtschaftlichen Genossenschaftsbetriebe und “rote Kommunen”, freie, kommunistische Siedlungen Gleichgesinnter, sind Inselchen im Ozean der bäuerlichen Kleinwirtschaft. Unter dem Druck der allgemeinen Wirtschaftsverhältnisse konnten sie sich weder so rasch, noch so stark und blühend entwickeln, dass sie einen entscheidenden Einfluss auf die Umwälzung der Landwirtschaft Sowjetrusslands zur Großwirtschaft auszuüben vermocht hätten. Die und jene Sowjetwirtschaft krankt an dem allgemeinen Gebrechen der Produktionsunternehmungen des Arbeiter- und Bauernstaats: an der mangelnden Organisation und Arbeitsdisziplin, an lähmendem Bürokratismus. Gar manche “Kommune” ist zusammengekracht oder krüppelt jämmerlich dahin. Von allen Arten der neuen landwirtschaftlichen Großwirtschaften sollen sich im Allgemeinen die “Kommunen” am wenigsten günstig entwickelt haben. Zum großen Teil wohl deswegen, weil sie zwar mit sehr viel Begeisterung für den Kommunismus, aber ohne Sachkenntnis, Erfahrung und praktischen Sinn gegründet worden sind. Alles in allem erweisen sich die landwirtschaftlichen Groß- und Gemeinwirtschaften als feste Stützpunkte für die staatliche Regelung der Produktion im Dorfe, zeigt es sich, dass ungeachtet aller Schwierigkeiten gesunde Ansätze für ihre Entwicklung zu technischen und sozialen Musterbetrieben vorhanden sind. Schon jetzt sind diese Großwirtschaften nicht ohne Einfluss auf die Betriebsweise der benachbarten Muschiks und ihre soziale Einstellung.

In beiden Richtungen wirkt auch erfolgreich die großzügige Bildungs- und Agitationsarbeit der Sowjetregierung und der verschiedenen Sowjetorgane. Es ist keine Redeblume, es ist schlichte Tatsache, dass sie ohne Beispiel dasteht in der Geschichte, das Werk von Jahrhunderten anderer Länder und anderer Zeiten in wenige Jahre zusammengedrängt. Propagandazüge durchquerten das weite Reich, die mustergültig zusammengestellte landwirtschaftliche Ausstellungen trugen, wie theoretisch und praktisch geschulte Fachleute, die das Anschauungsmaterial erläuterten, Kurse abhielten etc. Die Zahl der für die Landbevölkerung organisierten Abend- und Fortbildungsschulen, Analphabeten- und Fachkursen und ähnliche Institutionen war außerordentlich groß. Die “Rote Armee” sendete ungezählte Tausende Bauernsöhne mit Wissen und gewecktem sozialen Empfinden in die Heimat zurück, denn sie ist ein ebenso riesiger Bildungs- wie vorzüglicher Verteidigungsapparat. Bis in die entferntesten Gouvernements und die abgelegensten Dörfer wurden höhere berufliche Kenntnisse, aber ebenso zahlreiche fruchtbare Keime sozialer Solidarität unter die bäuerlichen Massen getragen. Auch diese Keime fielen durchaus nicht immer auf steinigen Boden.

Noch ist unter den Muschiks die Erinnerung an die alte Gemeinde nicht völlig erloschen, und bei vielen schlummert unter der Schwelle des Bewusstseins ein unklares kommunistisches Empfinden, durch naive Religiosität und Bibelgläubigkeit genährt. Die Propaganda der “Volkstümler” und der Sozialrevolutionäre verschiedener Perioden und Spielarten ist durchaus nicht überall spurlos verweht. Die Stimme des größten revolutionären Künstlers unserer Zeit, die Stimme Tolstois, des grimmigen Hassers des Privateigentums, des Kapitalismus ist durch werbende Jünger und “einfältige Pilger” in Bauerndörfer gedrungen. Die Neigung der russischen Bauern zur Bildung von “Artels”, von Zweckverbänden, ist lebendig. So ist unter den bäuerlichen Massen das Erdreich gelockert für das Aufkommen genossenschaftlicher und gemeinwirtschaftlicher Betriebe und die Entwicklung einer Solidaritätsgesinnung, die sich wider den kapitalistischen Geist auflehnt.

Die Hungersnot, der Kampf um das nackte Leben hat in manchen Dörfern Familien- und Nachbargenossenschaften entstehen lassen für Beschaffung und Ausnützung des Nötigsten, für gemeinsame Bodenbestellung mit gemeinsamen Zugtieren etc. In den Gouvernements, die in den letzten Jahren nicht von Dürre und Misswachs heimgesucht worden sind, betätigen die Bauern gebefreudige Solidarität mit ihren Brüdern in den Notstandsgebieten. “Man muss nur einfach und herzlich mit ihnen reden, als wahrer Kommunist”, erklärte ein zuverlässiger Gewährsmann, der als “Sammler auf dem Lande” große Erfahrung hat. In mehreren Gouvernements haben die Bauern und Bäuerinnen durch freiwillige Naturalabgaben bereits über 50 Prozent der Unterhaltungskosten für die Schulen und Bildungseinrichtungen ihrer Dörfer sicher gestellt, um das Budget der Zentralmacht zu entlasten. Bemerkenswert ist, dass überall die Bäuerinnen mit besonderem Nachdruck für die Maßregel eintreten. Ich wage nicht zu beschwören, dass eine einschlägige Abstimmung unter der bäuerlichen Bevölkerung in Deutschland oder Frankreich das gleiche Ergebnis haben würde. Niemand wird Erscheinungen solcher Art als Beweise ansehen, wie stark der Drang der Bauern Sowjetrusslands nach dem Kommunismus ist. Aber immerhin gleichen sie den in der Luft wirbelnden Strohhalmen, die erkennen lassen, woher der Wind kommt, und wohin er geht.

Bei der Betrachtung der Agrarumwälzung in Sowjetrussland drängt sich unwillkürlich die an der Oberfläche liegende Parallelität mit der Bauernemanzipation in Frankreich auf. Daraus über die weitere Entwicklung der Dinge in der Räterepublik mit Prophetenmiene zu prophezeien, verbietet der historische Wesensunterschied zwischen der proletarischen Revolution hier, der bürgerlichen Revolution dort. Das Ziel der großen französischen Revolution war die Emanzipation der Bourgeoisie durch die Gleichberechtigung des bürgerlichen beweglichen Eigentums mit dem feudalen Grundbesitz. Hinter dem schillernden Schleier der Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit grinste die scheußliche Farbe des kapitalistischen Eigentums. Die allgemeinen Menschenrechte, als eingeborene Naturrechte, begannen und endeten mit dem Recht und Vorrecht des Besitzes. Der Einzelne wurde aus den alten sozialen Bindungen gelöst und auf sich selbst gestellt. Die Ausstrahlungen der Begriffe Besitz und Eigentum erfüllten die soziale Atmosphäre.

Die proletarische Revolution Sowjetrusslands gilt der Emanzipation des Proletariats, der letzten unterdrückten Gesellschaftsklasse, durch die Verwirklichung des Kommunismus. Die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln soll den lebendigen Menschen von der knechtenden und verkümmernden Macht des toten Besitzes befreien. Das schlichte Gewand des Arbeitenden soll den allseitig und harmonisch entwickelten starken und schönen Menschen bergen. Gemeinschaft ist des Einzelnen Pflicht und Recht. Die Begriffe Arbeit und Solidarität beherrschen die soziale Atmosphäre. Diesem Einfluss kann sich die Bauernschaft Sowjetrusslands je länger umso weniger entziehen. Das neue Kommunistische wird das alte Kapitalistische überwinden, weil ihm aus der sozialen Umwelt des sich befreienden Proletariats sichtbare und unsichtbare Entwicklungsquellen zufließen.

Mit der “neuen Politik” haben die Bolschewiki nicht die Grundlage der kommunistischen Agrarpolitik preisgegeben. Das Land, das wichtigste bäuerliche Produktionsmittel, ist nicht Privateigentum geworden, ist Staats- und Gemeineigentum geblieben. Der Bauer hat nur das Recht auf individuelle Nutznießung daran und auf individuelle Verfügung über den Ertrag, nach Abzug der zu entrichtenden Naturalsteuern. Es sind aber nicht bloß diese Lieferungen, die ihm an seine Abhängigkeit vom Staat, an sein Verbundensein mit der großen Gemeinschaft erinnern. Stärker noch wirkt wahrscheinlich in dieser Hinsicht die allgemeine Arbeitspflicht — nur die Bewirtschaftung des Grund und Bodens gibt Anrecht auf seine Nutznießung — und das Einmischungsrecht des Staates, vertreten durch die betreffenden Sowjetorgane, in die landwirtschaftliche Produktion. Dank diesem Recht übt der Staat Einfluss aus auf die Verwendung des Landes, die Wirtschaftsart, die Größe der Saatfläche, die Auswahl der zu bauenden Körner- oder Hackfrucht etc. Es wird meist durch eine Mischung von Agitation, Unterricht und Beratung betätigt, kann aber auch bis zum verschärft werden.

Mit Maßregeln dieser Art schafft die bolschewistische Agrarpolitik noch nicht den Kommunismus auf dem Lande, aber sie bereitet ihn vor. Sie gewöhnt die bäuerlichen Massen an eine Gemeinsamkeit des Wirtschafts- und Arbeitsplanes, die der Ausdruck einer Interessensolidarität ist, die über die Dorfmarkung und das Gouvernement hinausgeht zu der großen Staatsgemeinschaft. Sie erweist sich damit als Kind einer proletarischen Revolution, denn eine solche kann im Gegensatz zu einer bürgerlichen Umwälzung sich nicht darauf beschränken, die politische Macht der emporsteigenden Klasse zu organisieren, sie muss vielmehr das unendlich tiefer gehende und schwierigere Werk vollbringen, die Produktion in der Gesellschaft zu organisieren. Die bürgerliche Revolution, die Bourgeoisie überließ dieses Werk den einzelnen Kapitalisten, aus deren Hände es heute immer mehr an Syndikate, Trusts etc. übergeht, jedoch nicht an die Gesellschaft, weil das die produzierenden und ausgebeuteten Habenichtse einschließen würde.

Was in Sowjetrussland unter der Führung der Bolschewiki zur Umorganisierung der Landwirtschaft erreicht ist, scheint wenig, gemessen an dem Ziel, und ist viel, gemessen an dem gegebenen Stand der Wirtschaft als Ganzes, der Agrarwirtschaft im Besonderen. Es verkörpert eine Riesensumme von Willenskraft, Hingabe und Einsicht. Das Werk der Umstellung musste die widerspruchsvollsten Erscheinungen zeitigen, die einen vom übermächtigen, widerstrebenden Alten gestaltet, die anderen vom noch schwachen, empordrängenden Neuen. Denn die Revolution zerschlug die alten Produktionsverhältnisse auf dem Lande, ehe dass die neuen Produktionsverhältnisse fertig waren, fertig sein konnten, ja, als der Abstand zwischen beiden noch ungeheuer groß war und ganz andere, festere Realitäten sie trennten, als die dünne, papierne Scheidewand geschriebener Rechtstitel. Nachdem der Krieg vorüber war mit seinen ehernen Notwendigkeiten auch für den Muschik, sah sich die bolschewistische Politik gezwungen, zurückzuweichen und für den Augenblick an ökonomischen Neuerungen preiszugeben, was vorzeitig unternommen worden war und sich nicht dank der Wirtschaftsentwicklung halten ließ.

Paul Levi hat die bolschewistische Agrarpolitik als “Ding an und für sich” behandelt, ohne nach dem geschichtlichen Boden zu fragen, auf dem sie sich durchsetzen muss. Bei seiner Beurteilung knüpfte er an ihre Anfänge sofort ihre neueste Periode, alles was dazwischen liegt, war ihm Hekuba. Er zog in den Kreis seiner Betrachtung lediglich Erscheinungen, die das Wiederaufleben, das Fortleben des Kapitalismus anzeigen, das keimende und sprossende Neue, dem Kommunismus entgegen, ließ er unbeachtet. Ich glaube, die vorstehenden Darlegungen lassen mit genügender Deutlichkeit erkennen, wie unzulänglich und unfruchtbar diese Art der Behandlung eines der schwierigsten Probleme der proletarischen Revolution ist. Die darauf aufgebaute Kritik muss rein negativ bleiben. Tatsächlich hat denn auch Paul Levi nicht eine einzige Perspektive gezeigt, die zur kommunistischen Umwälzung der Landwirtschaft Sowjetrusslands führt, befreit von den “Abirrungen” und “Fehlern” der bolschewistischen Agrarpolitik. Der Sehnsuchtsschrei nach der “Demokratie” als Allheilmittel am Schluss der Einleitung besagt doch gar zu wenig. Am Ende seiner Kritik gähnt das Nichts.

Es ist begreiflich, dass gegenwärtig sich all die Erscheinungen in den Vordergrund drängen, die im schroffen Widerspruch zum Ziel der russischen Revolution, zu ihren ersten, himmelstürmenden Schritten stehen. Der Kontrast ist zu groß, zu schmerzlich. Die russischen Genossen selbst rücken diese Erscheinungen in helles Licht, denn sie müssen sie klar erkennen, um zu lernen, mit ihnen fertig zu werden. Allein wer ein Urteil über die Agrarrevolution in Sowjetrussland und die Agrarpolitik der Bolschewiki gewinnen will, darf sich nicht damit begnügen, nur Erscheinungen der gekennzeichneten Art zu beachten und ihr Wachstum festzustellen, um daraus allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen. Aus dem noch in der Erde stechenden Wurzelwerk eines alten, großen Baumes schieben rasch üppige, grüne Zweige empor, denn aus tausend verborgenen Fäserchen strömt ihnen Nahrung zu. Wie langsam entwickelt sich dagegen aus dem Samenkern ein Baum. Und doch! Die üppigen Zweige werden sich höchstens zu Buschwerk auswachsen, es fehlt ihnen die stammbildende Kraft. Das schwache, unscheinbare Gewächslein daneben wird mit den Jahren zum mächtigen Baum, dessen starker Stamm das weit ausladende Geäst und Gezweig mit dem reichen Blätterschmuck trägt. Die Novemberrevolution hat in Russland den Baum des Kapitalismus gefällt, aber noch stecken seine Wurzeln in der Wirtschaft fest, und Zweige auf Zweige wachsen aus ihnen auf. Langsam, sehr langsam entwickelt sich daneben der junge Baum des Kommunismus, dem die Wurzeln des gefällten Riesen die Nahrung streitig machen. Kann uns das entmutigen? Sind wir berechtigt, aus dem, was Entwicklungsgesetz ist, ohne weiteres zu schlussfolgern: “Der Gärtner taugt nichts, der das Bäumchen hegt und pflegt? Er weiß nicht, wie er es behandeln muss.”

Nur im Zusammenhang mit einer gründlichen Untersuchung der gesamten Wirtschaft Sowjetrusslands kann der bolschewistischen Agrarpolitik zugerufen werden: gewogen und zu leicht befunden! oder bestanden! Eine solche Untersuchung wäre zweifellos eine dringende und äußerst dankbare Aufgabe. Nicht bloß im Hinblick auf das Verständnis der russischen Revolution und der Politik ihrer vornehmsten Führer, sondern auch im Interesse der kommenden proletarischen Revolution der anderen Länder. Auf Grund einer solchen Untersuchung wird sich erst herausstellen, welche Wesenszüge der bolschewistischen Agrarumwälzung in den spezifisch russischen Verhältnissen begründet oder auch fehlerhaft sind und nicht die Gültigkeit allgemeiner Normen der proletarischen Revolution beanspruchen können. Es wird sich aber auch zeigen, dass Probleme schwierigster Natur auftauchen, mit denen sich die Arbeiterklasse jedes Landes auseinandersetzen muss, die die politische Macht erobert. Die in dieser Beziehung vorliegende Aufgabe harrt noch ihrer Lösung. Sie kann nicht im Nebenbei und Zwischendrin des politischen Tageskampf es erfüllt werden, denn sie fordert sowohl die Durcharbeitung eines weitschichtigen Quellenmaterials, wie ein tief dringendes Studium der ökonomischen und sozialen Verhältnisse an Ort und Stelle, und ihrer Auswirkung auf die Menschen, die ihre Objekte und Subjekte sind. Die Aufgabe wird ihrer Lösung nicht dadurch näher geführt, dass jemand im Zorn durch den Garten der “Russischen Korrespondenz” und etlicher Broschüren spazieren rast und statt aus dem dort enthaltenen, reichen Tatsachen- und Studienmaterial zu lernen, Zitatenblumen abrupft, die seinem kritischen Blick besonders schmeicheln.

Die “neue Politik” der Bolschewiki ist Kompromiss, nicht Bankrott. Der Kapitalismus, zu dem Lenin die zum Teil vorsintflutliche russische Wirtschaft führen will, ist nicht der Kapitalismus der hoch entwickelten deutschen Wirtschaft, dessen Ausbeutung und Knechtschaft Stinnes das deutsche Proletariat zu unterwerfen trachtet. Beide sind nicht — wie es Paul Levi zu fürchten scheint — linker Stiefel und rechter Stiefel eines Stiefelpaares. In Sowjetrussland ein Kapitalismus als Durchgangsstadium, der Helfer des Fortschreitens zum Kommunismus sein soll, im Westen ein Kapitalismus als dauernde Ordnung, bestimmt, dem Kommunismus den Weg zu verlegen. Der Kapitalismus, der auf Sowjetrusslands Boden auflebt und Profite sucht, kann sich nicht als “Feld-, Wald- und Wiesenkapitalismus gewöhnlicher Art” entwickeln. Der “Staatskapitalismus” der Arbeiter- und Bauernrepublik wird recht verschieden von dem “Staatskapitalismus” einer Bourgeoisdemokratie sein. Zwischen dem einen und anderen, zwischen dem Hier und Dort steht entscheidend, Leben und Ziel gebend, die im Staat organisierte politische Macht des Proletariats. Das nämliche Wort wird soziale Dinge verschiedener Natur decken, alte Begriffe werden einen veränderten, neuen Inhalt empfangen. Paul Levi hat recht: “Es ist nicht nur Maß und Zahl in den Dingen. Es ist ein Geist.” Der Geist des Proletariats, das sich den Klauen des Kapitalismus entwinden will, um volles Menschentum zu gewinnen, und das dieses Ziel nur erreichen kann, indem es den Kapitalismus Zoll für Zoll ganz überwindet und alle Gesellschaftsklassen von seinem Bann erlöst. Der Geist und Wille des Proletariats, das eine führende Klassenpartei hat, die die politische Macht in Händen hält, im Bewusstsein des schöpferischen Werts der Macht und ihrer eigenen Verantwortlichkeit dafür.

Aus Sowjetrusslands gesellschaftlichem Werden — das Wiedererstarken des Kapitalismus inbegriffen — kann es nicht ausgetilgt werden, dass es von der proletarischen Revolution mit gewaltiger Faust in neue Bahnen gelenkt worden ist und in ihnen durch die Macht des Proletariats gehalten und weitergeführt wird. Deshalb scheint es mir auch nicht begründet, dass Paul Levi mit apodiktischer Sicherheit eine Entwicklung des Gegensatzes zwischen Proletariat und Bauerntum voraussagt, die sich bis zum schärfsten Klassenkampf steigern und die heutige Sowjetordnung sprengen wird. Die Verwirklichung dieser Auffassung hätte eine Voraussetzung: dass in Räte-Russland ein Großbauerntum aufkommt und sein Gegenstück, ein landwirtschaftliches Proletariat. Damit würde der Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten auf dem Lande in seiner ganzen Schärfe sich herausbilden. Damit musste aber auch ein modernes Landproletariat emporwachsen, das als Bundesgenosse unaufhaltsam an die Seite des Industrieproletariats getrieben wird. Doch davon abgesehen, ist die bolschewistische Wirtschaftspolitik als Ganzes entschieden darauf gerichtet, dass in den wichtigsten Produktionszweigen der Staat die Großbetriebe in die Hand nimmt, dass er sie nur unter bestimmten, eng und fest umgrenzten Kautelen an Produzentengenossenschaften oder auch an Einzel- und Kollektivkapitalistenbetriebe zur Bewirtschaftung überlässt. Sie hat den Weg zum landwirtschaftlichen Großbetrieb über die Sowjetwirtschaft, die “Genossenschaft, die “Kommune” gesucht. Soweit ich urteilen darf, fehlen bis jetzt alle Anzeichen dafür, dass sie sich die Züchtung von Großbauern als Ziel wählen wird.

Das Mittelbauerntum, wie es die Agrarumwälzung in Sowjetrussland geschaffen hat, steht zwar auf der Grundlage der kleinkapitalistischen Warenproduktion, allein sein Gegensatz zum Industrieproletariat ist nicht der gleiche, wie jener zwischen Industrieproletariat und Bourgeoisie. Der russische Mittelbauer hat im Allgemeinen nicht mehr Grund und Boden zur Nutznießung, als er mit seinen Familienangehörigen bewirtschaften kann. Er beschäftigt keine fremden Arbeitskräfte gegen Lohn und ist nicht Aneigner fremden Mehrwerts. Der Gegensatz zwischen ihm und dem Industrieproletarier liegt nicht in der Sphäre der Produktion, sondern der der Zirkulation, des Handels. Das Verhältnis zwischen den beiden ist das des Verkäufers und Käufers von Waren, wobei die Rollen wechseln. Es geht bei ihrem Geschäft nur um den “Warenpöbel”, wie Marx sich ausdrückt, um landwirtschaftliche und gewerbliche Erzeugnisse, nicht aber um “die Ware der Waren”: menschliche Arbeitskraft. Der Bauer sucht Profit und nicht das Recht zur Ausbeutung von Menschen, zur Aneignung des Mehrwerts, den Proletarier ihm schaffen.

Er will seine landwirtschaftlichen Waren so teuer als möglich verkaufen und die gewerblichen Erzeugnisse so billig als möglich einkaufen. Er lernt aber auch, dass er Wert gegen Wert rechnen muss, und dass das “teuer” und “billig” seine Grenzen hat. Die Preishöhe seiner Waren an der Kaufkraft der Industrieproletarier, die Billigkeit der gewerblichen Güter an der Existenzmöglichkeit ihrer Erzeuger, und die soll in der Räterepublik kulturwürdig sein. Der Mittelbauer Sowjetrusslands hat daher kein unmittelbares Interesse an der Ausbeutung und Unterdrückung des Industrieproletariats. Als Selbstproduzent — ohne Eigentümer zu sein — steht er diesem näher, fühlt er sich mit ihm verwandter als mit den Großkapitalisten, die arbeitslos vom Einsäckeln fremden Mehrwerts Reichtum aufhäufen.

Um den wirtschaftlichen Boden des Verhältnisses zwischen Mittelbauer und Proletarier flutet die neue soziale Atmosphäre der Wertung von Arbeit und Solidarität, die — wie bereits betont — mit der proletarischen Revolution entstanden ist. Und Sowjetregierung, Sowjetmacht besagt nicht bloß Bauernmacht, sondern auch vor allem Arbeitermacht. Die politisch organisierte Arbeitermacht wird mit der Entwicklung der Industrie, der Wirtschaft in steigendem Maße Kraft und Bedeutung gewinnen, um die ökonomischen und gesellschaftlichen Dinge zu beeinflussen und zu formen. Auch auf dem Lande. In der Tat! Nur wenn Sowjetrusslands Industrie aus ihrer jetzigen Zerrüttung und Ohnmacht sich erhebt und aufzublühen beginnt, kann auch seine Agrarwirtschaft sich gesund entfalten und eine höhere Entwicklungsstufe erreichen. Im Zusammenwirken mit dem altväterischen Handwerk, dem zersplitterten Kleingewerbe vermag der Muschik zwar seine Existenz zu fristen, recht und schlecht, wie es seine Vorderen getan, allein er bleibt unvermögend, dank gesteigerter Produktivität seiner Arbeit zu vollkommenerer Lebensgestaltung emporzusteigen. Je rationeller der bäuerliche Betrieb wird, je kulturreicher das Dasein der Bauern, umso fester und inniger wird die Verknüpfung mit der Industrie, dem Proletarier. Gegenwärtig, in der Wonne des gestillten “Landhungers” und unter der Wirkung der anormalen Situation mag dem Muschik seine Interessengemeinschaft mit dem Industrieproletarier nicht voll und klar zum Bewusstsein kommen. Das wird anders werden, wenn in Sowjetrussland das Wirtschaftsleben regelmäßig und kraftvoll pulsiert, wenn die moderne Industrie imstande ist, dem Bauern viel, sehr viel und Wichtigstes für seinen Betrieb zu geben. Die unausbleibliche “Industrialisierung” der Landwirtschaft wird Bauerntum und lndustrieproletariats als schaffende, produzierende Mächte unlöslich miteinander verketten und den sozialen Gegensatz zwischen Stadt und Land mildern und überwinden helfen — gewiss nicht konfliktsfrei — bis er im vollentwickelten Kommunismus ganz verschwindet. Die von der Sowjet-Regierung geplante und begonnene Elektrifizierung der Wirtschaft ist in diesem Hinblick auch bestes, großzügiges Agrarprogramm, erfolgreichste Agrarpolitik.

Der Gegensatz, der jetzt Sowjetrusslands Entwicklung beherrscht und vermutlich in nächster Zukunft beherrschen wird, ist keineswegs der zwischen Bauerntum und Industrieproletariat. Es ist der ihm übergeordnete, unendlich tiefere und weiterfassende Gegensatz zwischen Kapitalismus und Arbeit, zwischen Proletariat und Bourgeoisie, unter Bourgeoisie die machtvolle Weltbourgeoisie verstanden, und nicht allein die alles in allem ziemlich belanglosen russischen Großkapitalisten. Das Kräfteverhältnis zwischen diesen beiden Todfeinden kann kaum ungleicher sein, als es ist. Wohl halten und verteidigen die russischen Proletarier mit unerschütterlichster, heldenmütigster Treue die Sowjetrepublik, die erste und einzige große, entscheidende Machtposition, die die aufgrollende Weltrevolution dem Wellproletariat gebracht hat. Jedoch dieses selbst ist noch nicht zu der einen, unbezwinglichen Macht zusammengeschweißt, die das Vorrücken der Weltbourgeoisie gegen den Arbeiter- und Bauernstaat zurückzuschlagen vermöchte, um ihrerseits zum Ansturm gegen den Kapitalismus überzugehen. Noch trägt Sowjetrussland allein die ganze Last des Kampfes. Es hat dem Kleinkapitalismus im Lande und dem Großkapitalismus im Auslande Konzessionen machen müssen. Die Macht der Freiheits- und Rechtsidee, die in seinen Arbeiter- und Bauernmassen Leben und Gestalt gewonnen, hat es aber stark genug erhalten, bis jetzt die Schlüsselposition für den Sieg des Kommunismus zu behaupten. Es ist die Großindustrie der ausschlaggebenden Produktionszweige. Noch ist sie fest in der Hand des Sowjetstaates. Um sie tobt der Kampf heiß, erbittert, zäh. In ihm sind nicht die Mittelbauern die Feinde des russischen Proletariats, sondern die Cliquen der internationalen ausbeutungstollen Industrie- und Finanzkapitalisten, hinter denen die Macht ihrer Staaten steht.

Dieser Kampf wird heute — nach den militärischen Niederlagen der “Weißen” — nicht mehr an den Fronten mit Waffen geführt. Er geht weiter mit “friedlichen Mitteln”, die nicht weniger gefährlich sind, auf den Kongressen und Konferenzen der kapitalistischen Regierungen, in den Beratungszimmern der Bank-, Handels- und Industriegesellschaften, überall da, wo die Weltbourgeoisie Pläne schmiedet und Schritte unternimmt, um Sowjetrussland in ein Kolonialdorado internationaler Ausbeutung zu verwandeln. Er soll, dafern dem Sehnen und Trachten der Weltbourgeoisie Erfüllung reifen würde, morgen schon auf dem Boden des Arbeiter- und Bauernstaats, in seiner Wirtschaft ausgefochten werden. Hie Kapitalismus, hie Kommunismus! Hie Privateigentum, hie Staats-, Gesellschaftseigentum! Das ist das Feldgeschrei, unter dem der Kampf um Sowjetrusslands Großindustrie geführt wird, d. h. um Sowjetrusslands Existenz selbst. Die Räteordnung würde die Zurückeroberung der Großindustrie durch den Kapitalismus kaum überleben, für jeden Fall wäre ihr damit das Rückgrat gebrochen.

In dem hartnäckigen Kampf der Sowjetrepublik mit der Weltbourgeoisie wird der Muschik wie in den blutigen Schlachten gegen die Judenitsch und Wrangel an der Seite der Proletarier kämpfen. Er weiß, dass mit der Sowjetmacht auch seine eigene Macht stürzen würde. Er weiß, dass wenn es heute um die große Fabrik geht, in der der Proletarier seine Freiheit schmiedet, es morgen um den Äcker gehen würde, den er mit seinem Schweiße befruchtet. Der Gegensatz zwischen Bauerntum und Industriearbeiterschaft tritt in den Hintergrund vor dem weltgeschichtlichen Kampf zwischen dem Sowjetstaat, als der Vorhut des Weltproletariats und der Weltbourgeoisie.

Niemand wird bestreiten, dass neben den aufgezeigten Entwicklungstendenzen andere laufen, in denen die “Besitzerpsychologie” des russischen Mittelbauern triumphiert. Wie im Frühjahr 1921, so können auch künftig Situationen entstehen, in denen die Forderungen des Bauerntums und die des Proletariats gegensätzlich auseinander klaffen. Für die führende Partei des russischen Proletariats wird dann die gleiche Erwägung maßgebend sein müssen, die in der damaligen kritischen Lage ihren Entschluss bestimmte. Die als Sowjetstaat organisierte politische Macht des Proletariats muss behauptet werden, auch um den Preis empfindlicher Opfer. Denn diese Macht zur Diktatur ist und bleibt die conditio sine qua non dafür, dass das Proletariat “sozialisiert”, dass es die kapitalistische zur kommunistischen Ordnung umformt.

1921 befand sich die bolschewistische Sowjetregierung um dieses Zieles willen in der Notlage, sich für die “größeren Bataillone” der Bauern entscheiden zu müssen, wie Paul Levi höhnt. Jedoch die größeren Bataillone werden nicht immer die stärkeren bleiben. Das verbürgt die Entwicklung, die die entscheidende gesellschaftliche Macht nach dort verschiebt, wo die vorwärts treibenden wirtschaftlichen Kräfte sind. Das Problem der einander widerstreitenden Interessen der beiden Klassen, die in einer Sowjetmacht vereint sind, wird folglich keineswegs dauernd unter den gleichen Bedingungen zur Lösung stehen, wie damals, als die Situation die Konzessionen erzwang. Trotz der aufs höchste verschärften Gegenwartsleiden des russischen Proletariats schreibt die Geschichte mit fester Hand die Rechtfertigung der bolschewistischen “neuen Politik”. Sie hat den Blick der Zukunft zugewandt.

* Varga: “Die Agrarfrage im revolutionären Russland”, Russische Korrespondenz 1921, Heft 1 und 3, S. 99.

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