Vorwort

Vorwort

Die nachfolgende Arbeit ist schon zu Anfang dieses Jahres niedergeschrieben worden. In heißer Empörung über Paul Levis Versuch, die begonnene Fahnenflucht aus dem Lager der proletarischen Revolution in das Lager des Reformismus mit dem Namen Rosa Luxemburgs zu decken, der konsequenten Hasserin und Bekämpferin des Reformismus. Ein Zusammentreffen äußerer Umstände hat bewirkt, dass meine Abwehr solcher Schändung nicht sofort veröffentlicht werden konnte.

Seither ist es gekommen, wie es sich damals bereits zum Greifen deutlich ankündigte. Paul Levi ist seinen “Weg” weitergegangen. Von der Kommunistischen Partei, die sich, aus bitteren Erfahrungen lernend, in Arbeit und Kampf von Tag zu Tag allmählich zur Massenpartei emporringt, über die Unabhängige Sozialdemokratie hinweg und mit ihr zusammen zurück zu. der Mehrheitssozialdemokratie. Noch vor Gera und Nürnberg war Paul Levi reif für die “Vereinigung”‘ geworden, wie die Hilferding und Crispien längst reif für sie waren. Trotz Görlitz. In kürzester geschichtlicher Zeitspanne haben sich die sozialen Dinge so zugespitzt, dass sie nicht länger Zwittergebilde und Zwitterstellungen zwischen Revolution und Reformismus dulden. Es heißt wählen.

Der Herausgeber von Rosa Luxemburgs “Nachlassbroschüre” hat gewählt. Er hat sich damit selbst erledigt und erledigt sich bei jedem Waffenklirren auf dem geschichtlichen Schlachtfelde des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie immer unwiderruflicher. Er ist heute nicht mehr einer, auf dessen Stimme Freund und Feind wartet wie auf orientierendes Trompetengeschmetter, auf dessen Stimme man aufmerkt. Was verschlägt es also, dass er fortfährt, die bolschewistische Partei zu begeifern, ohne deren Führung die russische Revolution nicht zum “gewaltigsten Faktum des Weltkriegs” geworden wäre? Hat es da noch einen Sinn, gegen sein Tun und seine Tendenz zu polemisieren?

Ich habe mir diese Frage gestellt und sie bejaht. Die Papierkügelchen, die Zwerge anlässlich der veröffentlichten “Nachlassbroschüre” gegen die Riesin russische Revolution abgeschossen haben, sind platt zu Boden gefallen und zertreten. Geblieben jedoch sind die großen geschichtlichen Probleme, die die Revolution selbst mit jedem Tage ihres Lebens und Webens aufwirft. Rosa Luxemburg hat ernst mit ihnen gerungen, andere haben mit ihnen nur literarisch gespielt.

Diese Probleme sind nicht bloß Probleme der russischen Revolution, sondern der proletarischen Revolution, deren Donner langsam, aber sicher näher und näher zu. uns durch die Welt rollen. Wer wagt zu prophezeien, wie früh oder wie spät sie in ihrer Tragweite als brennende praktische Tagesfragen vor dem Proletariat noch nicht sowjetischer Staaten stehen werden? Wie sie als solche Fragen kurze Zeit vor der Arbeiterklasse Deutschlands gestanden sind, bis es der deutschen Bourgeoisie mit Hilfe reformistischer Führer glückte, die junge, unsicher daher schreitende proletarische Revolution abzuwürgen. Sicherlich wird das in den einzelnen Ländern entsprechend der verschiedenen, geschichtlich gegebenen Umstände geschehen, allein der Wesenskern der Probleme wird der gleiche bleiben. Denn wenn er auch innerhalb “nationaler Wände” wächst und sich entwickelt, so kann er doch seinen Ursprung nicht verleugnen: die bürgerliche Klassengesellschaft mit ihren unüberbrückbaren Gegensätzen, und diese ist international.

Probleme der proletarischen Revolution bilden den Inhalt meiner Darlegungen. Ich habe nichts an der polemischen Art geändert, in der diese vor Monaten niedergeschrieben worden sind. Sie tragen nach meiner Ansicht dazu bei, die grundsätzlichen Unterschiede der geschichtlichen Einstellung zwischen kleinbürgerlich-demokratischen Reformsozialisten und revolutionären Kommunisten scharf hervortreten zu lassen. Ich masse mir keineswegs an, mit meiner Arbeit die umstrittenen Fragen “gelöst” zu haben. immerhin hoffe ich, dass sie zum Verständnis der proletarischen Revolution Russlands und der Politik ihrer führenden Partei beiträgt.

Die Arbeit erscheint am Vorabend des fünften Jahrestags der Aufrichtung Sowjetrusslands. Ich lege sie nieder am Grabe Rosa Luxemburgs, der Unvergesslichen und Unersetzlichen, die die Eroberung der Staatsgewalt durch das russische Proletariat jubelnd begrüßte, eine sonnensehnsüchtige Seele, die endlich nach langer, dunkler Nacht den Morgen empordämmern sieht, ein forschender Geist, der das große, schöpferische Neue zu bewältigen strebt, ein starker Wille, der unwiderstehlich vorwärts drängt. Ich widme die Arbeit dem heldenhaften russischen Proletariat und seinen treuen Führern. Jenem Proletariat, das wundenbedeckt, von Feinden bedräut, vom Weltproletariat allein gelassen bis heute den ungebrochenen Mut bewahrt hat, an seine große geschichtliche Aufgabe zu glauben und im Bewusstsein internationaler Solidarität für ihre Erfüllung zu arbeiten und zu kämpfen. Jenen Führern, die der Größe dieses Proletariats ebenbürtig sind.

Clara Zetkin.

den 24. Oktober 1922.

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