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X. Die aufsteigende Entwicklung der Sowjets, ihre feste Verbindung mit dem Industrieproletariat und seiner Klassenpartei

Steigende Wahlbeteiligung zu den Allrussischen Sowjetkongressen, den Bezirks- und Gouvernementkonferenzen und Parteizugehörigkeit, Beruf, Bildung und Geschlecht der Erwählten / Parteizugehörigkeit und Beruf der Mitglieder der Räte-Vollzugsausschüsse / Die Tätigkeit der Sowjets als Ausdruck von Massenwillen und Massenaktion unter Führung der bolschewistischen Partei / Die Partei der Bolschewiki als bewusster Ausdruck des Willens, der Aktivität, der Vorwärtsbewegung des Proletariats

Die Behauptung ist eitel Gerede, dass die Sowjets ihre geschichtliche Rolle für die proletarische Revolution in Russland bereits ausgespielt hätten. Sie stehen noch im Anfang ihrer Entwicklung, nach Form und Wesen bis nun der vollkommenste Ausdruck sozialer Demokratie, deren Grundlage die gesellschaftliche Arbeit ist. Sie werden deshalb weiterhin der Boden sein, auf dem die Industrieproletarier und die Bauern der russischen Räterepublik ihre geschichtlichen Klasseninteressen und Klassenziele vertreten. Sicherlich auch im harten Zusammenprall von Meinungen und Interessen, und doch über die verschiedenen Ansprüche des Augenblicks hinweg geeint in dem einen großen Ziel aller Schaffenden: die Befreiung der Arbeit durch den Kommunismus. Neun Zehntel der gesamten bäuerlichen Bevölkerung Sowjetrusslands sind Werktätige, deren Existenz durch die Arbeit immer unlösbarer mit dem Industrieproletariat verknüpft wird, und die ihr Antlitz der kommunistischen Zukunft zuwenden müssen.

Die Sowjets haben sich in aufsteigender Linie entwickelt. Mehr und mehr sind sie zu Erweckern breitester städtischer und ländlicher Massen geworden, Mittelpunkte, in denen das neue politische, soziale Leben dieser Massen zusammenströmt, und von denen aus es sich ausdehnende Kreise erfasst. Dafür einige ziffernmäßige Beweise,* die zugleich die äußere Entwicklung der parteipolitischen Verhältnisse beleuchten. Zu dem 5. Allrussischen Sowjetkongress vom 4. Juli 1918 hatten 35.625.000 Wähler und Wählerinnen ihre Vertreter entsandt, zu dem 6. Kongress vom 6. September des gleichen Jahres jedoch rund 59.300.000, die größere Hälfte der gesamten Bevölkerung Sowjetrusslands. Zu den späteren Allrussischen Kongressen soll die Zahl der Wähler noch größer gewesen sein. Beim 4. Allrussischen Sowjetkongress vom 15. März 1918 waren die Kommunisten mit 69 auf 100 Delegierte vertreten, die “Linken Sozialrevolutionäre” mit 20, die “Parteilosen” mit 1; beim 5. Kongress war die Zahl der “Linken Sozialrevolutionäre” auf 32 von 100 Vertretern gestiegen, die der Kommunisten auf 60 zurückgegangen, und die der “Parteilosen” mit 1 unverändert geblieben. Ein erheblich verändertes Bild zeigt die Vertretung des 6. Kongresses. Sie bestand zu 90 Prozent aus Kommunisten, zu 1 Prozent aus “Linken Sozialrevolutionären” und erst auf 300 Delegierte entfiel ein “Parteiloser”. Die “Linken Sozialrevolutionäre” waren zu einer verschwindenden Minderheit geworden. Es war die Auswirkung ihrer wiederholten Attentate und ihrer Verschwörungen zum Sturz der Sowjetregierung, die Auswirkung sowohl auf die Wählermassen, die sich von der Partei abkehrten, wie auf die Regierung, die gezwungen war, in der Notwehr für Sowjetrusslands Existenz die Machtmittel der proletarischen Diktatur auch gegen die “Linken Sozialrevolutionäre” zu gebrauchen.

An den Bezirkskonferenzen von Sowjets, die zwischen dem 1. Januar 1918 und dem 1. Januar 1920 stattfanden, nahmen insgesamt 103.201 Vertreter von Arbeitern und Bauern teil. Im ersten Halbjahr 1918 stellten die Kommunisten im Durchschnitt auf 100 Delegierte dieser Konferenzen 42, die “Parteilosen” 38. In dem zweiten Halbjahr 1919 waren durchschnittlich die “Parteilosen” auf 45 und die Kommunisten auf 49 Prozent der Vertreter gestiegen. Zu den 74 Gouvernementkonferenzen von Sowjets in dem zweijährigen Abschnitt hatten Arbeiter und Bauern insgesamt 15.029 Vertreter delegiert. Bei den Tagungen dieser Art entfielen im ersten Halbjahr 1918 im Durchschnitt auf 100 Delegierte 53 Kommunisten, 33 Nichtkommunisten und 14 “Parteilose”. Im zweiten Halbjahr 1919 stellte sich das Verhältnis wie folgt: 74 Prozent Kommunisten, 22 Prozent “Parteilose”. Der Rest der Delegierten verteilte sich offenbar bei Bezirks- und Gouvernementkonferenzen von Sowjets auf Vertreter der verschiedenen nichtkommunistischen Parteien.

Nach den angegebenen Ziffern tritt auf den Tagungen beider Art ein gemeinsamer Entwicklungszug hervor. Sowohl die kommunistischen wie die “parteilosen” Delegierten haben zugenommen. Das besagt gleichzeitig, dass die Vertreter der nichtkommunistischen Parteien in den Sowjetkonferenzen zurückgegangen, ja fast verschwunden sind. Bei den Bezirkskonferenzen überwiegend zu Gunsten der “Parteilosen”, bei den Gouvernementkonferenzen mehr zu Gunsten der Kommunisten. Dieser Unterschied spiegelt die soziale Schichtung der Wählermassen wieder. Die Bezirkskonferenzen sind in der Hauptsache Tagungen von Bauern, deren “Politisierung” begonnen hat, die sich abwartend und prüfend erst ein Urteil über die Parteien bilden wollen und als “Parteilose” mit den Kommunisten “sympathisieren”. Auf den Gouvernementkonferenzen dagegen überwiegen die industriellen Proletarier, die durch ihre Klassenlage rascher zum Kommunismus geführt werden und auch der Agitation leichter erreichbar sind. Die für die Gouvernementkonferenzen von lwanowo-Wossnessensk vorliegenden Durchschnittszahlen für die zwei Jahre bestätigen diese Deutung. Vom ersten Halbjahr 1918 bis zum Schluss des zweiten Halbjahres 1919 stiegen die kommunistischen Delegierten von 55 auf 88 Prozent, die “Parteilosen” hingegen gingen von 26 auf 11 Prozent der Vertretung zurück. Über die Zusammensetzung der Sowjetkongresse im ersten Halbjahr 1921 liegen in der Tagespresse die folgenden Zahlen vor: Die Delegierten der Gouvernementskongresse bestanden aus 74,7 Prozent Kommunisten und 25,3 Prozent “Parteilosen”, diejenigen der Bezirkskongresse dagegen aus 41,5 Prozent Kommunisten, 58,3 Prozent “Parteilosen” und 0,2 Prozent Anhängern anderer Parteien. Diese Ziffern bestätigen die oben gezogenen Schlussfolgerungen. Sie lassen außerdem hervortreten, dass die Zusammensetzung der Tagungen Entwicklungsergebnis, Ausdruck der Lage ist und nicht die Frucht äußeren Drucks. Die Zahl der kommunistischen Vertreter in den Gouvernementkongressen ist nur wenig gestiegen, ihre Zahl in den Bezirkskongressen ist sogar zurückgegangen und die der “Parteilosen” hat eine starke Zunahme erfahren. Es liegt auf der Hand, dass die Zusammensetzung der Sowjetkongresse jener Monate die damalige Situation widerspiegelt.

Von besonderer Wichtigkeit für das Leben, die Betätigung der Sowjets ist auch die Zusammensetzung ihrer Kongresse nach dem Berufe der Delegierten. Die Rätekongresse im ersten Halbjahr 1921 zeigen das große Gewicht der Bauern. Diese stellten zu den Bezirkskongressen fast zwei Drittel, zu den Gouvernementkongressen über ein Drittel der Delegierten. Bei den Gouvernementkongressen waren von 100 Vertretern 35,9 Bauern, 31,2 Arbeiter, 23 Angestellte und 9,9 Angehörige verschiedener Berufe, wie Ärzte, Lehrer etc. Von 100 Delegierten der Bezirkskonferenzen entfielen auf die Bauern 63,2, auf die Arbeiter 14,4, auf die Angestellten 16,2 und auf die Angehörigen verschiedener Berufe 6,2. 79 Prozent der Delegierten zu den Gouvernementkongressen und 80,8 Prozent jener der Bezirkskongresse hatten “Schulbildung” genossen, “Fortbildungsunterricht” 20,3 bzw. 16,5 Prozent, Analphabeten befanden sich unter den Vertretern der Gouvernementskongresse 0,7 Prozent, unter denen der Bezirkskonferenzen 2,7 Prozent. Von 100 Delegierten waren Frauen bei den Gouvernementkongressen 4,4, bei den Bezirkskongressen nur 2,2. Diese Ziffern kommentieren sich selbst, sie künden einen Anfang.

Der Pulsschlag des Massenlebens in den Sowjets kommt ebenfalls in der Zusammensetzung ihrer Vollzugsausschüsse zum Ausdruck. Es liegt darüber für das Jahr 1921 die nachstehende Aufstellung vor. Von den Mitgliedern der Vollzugsausschüsse waren nach Prozenten in den:


städtischen Sowjets

Gouvernementsowjets

Bezirkssowjets

Arbeiter

43,9

35,4

27,2

Bauern

10,7

15,4

29,5

Beamte

26,8

29,3

24,5

Ärzte

2,4

1,1

1,1

Juristen

0,9

0,1

Lehrer

3,9

8,7

7,1

Techniker

2,0

2,8

1,3

Studenten

4,9

3,7

3,8

Verschiedene

5,4

2,7

5,4

In den Vollzugsausschüssen der Stadt-, Gouvernements- und Bezirkssowjets machen also die Arbeiter und Bauern zusammen über die Hälfte der Mitglieder aus. Beachtung verdient der starke Prozentsatz der Arbeiter nicht nur in den städtischen Räten, sondern auch in den Gouvernementsowjets und in den rein bäuerlichen Bezirksräten, wo er nahe an den der Bauern herankommt. Die Beamten stellen in den Vollzugsausschüssen der verschiedenen Sowjets fast ein Viertel der Mitglieder, ja etwas darüber. “Die Bürokratisierung mit allen ihren Gefahren für das Eigenleben der Sowjets als Massenleben, wie wir das prophezeit haben”, werden ängstliche Gemüter behaupten. Mich will bedünken, dass der Umstand sich aus den weiter oben dargelegten Verhältnissen erklärt und nicht aus einer angeblichen “Erstarrung” der bolschewistischen Partei. Die Vollzugsausschüsse können der Mitarbeit erfahrener, geschulter Verwaltungskräfte nicht entraten. Die Arbeiter und Bauern in ihnen sind zusammen allein schon stark genug, der Gefahr der Bürokratisierung entgegenzuwirken, und das umso erfolgreicher, je rascher ihre eigene Schulung voranschreitet. Dass sie selbst nicht dem Geist eines lähmenden, tötenden “Bürokratismus” verfallen, dafür wird ihr Zusammenhang mit den schaffenden Massen sorgen, den das Sowjetsystem verbürgt und lebendig hält.

In dem mir zugänglichen Material konnte ich leider keine weiteren genauen Angaben über die Entwicklung der Sowjets finden. So viel man aus den gelegentlichen Veröffentlichungen der Tagespresse über die Ergebnisse von Sowjetwahlen und die Zusammensetzung von Sowjettagungen wie Sowjetorganen schließen darf, ist die Entwicklung in der gleichen Richtung weiter gegangen. Die Arbeiter und Bauern nehmen wachsenden Anteil an den Aufgaben der Vollzugsausschüsse. Die Wahlbeteiligung zu den Sowjets wächst andauernd, in den Städten wie auf dem Lande, die meisten Bauern delegieren “Parteilose”, das lndustrieproletariats hat seine Klassenvertretung “in der Kommunistischen Partei”. Die letzten Sowjetwahlen der großen Stadtgemeinde Moskau 1921 haben das sinnfällig zum Ausdruck gebracht. Als sie vor der Tür standen, zitterten im Proletariat die entsetzlichen Nöte des letzten Winters und die politische “Krise” nach. Die ersten Folgen der “neuen Politik” machten sich geltend und warfen Fragen von einschneidender Bedeutung für die Arbeits- und Existenzbedingungen der Proletarier auf. In den Betriebs- und Bezirksversammlungen wurde lebhaft, leidenschaftlich diskutiert, die gesamte kommunistische Politik, die wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen der Regierung und der örtlichen Sowjets, das Verhalten der Parteisektionen usw. erfuhren ausgiebige und zum Teil scharfe Kritik. Allein an diesem Feuer konnten offene und verkappte Menschewiki und andere Nichtkommunisten nicht ihr Parteisüpplein kochen. Die von ihnen eingebrachten Resolutionen erhielten meist nicht einmal soviel Stimmen, als Kritiker gesprochen hatten. Die Wahlbeteiligung war stärker als je, die Kommunisten siegten glänzend. In der gegebenen Situation konnte von einem “corriger la fortune” durch die bolschewistische Sowjetmacht nicht die Rede sein. Sie war außer Stande, durch Versprechungen oder Drohungen den proletarischen Massenwillen zu beeinflussen. Der Wahlausfall war der Ausdruck proletarischen Massenvertrauens zur Kommunistischen Partei und ihrer Politik.

Die äußere Entwicklung der Sowjets ist allerdings noch kein Maßstab des inneren Lebens und Wertes. Jedoch erlaubt die steigende Beteiligung proletarischer und bäuerlicher Massen an den Sowjetwahlen den Rückschluss auf das wachsende Interesse der Massen für die Gestaltung des sozialen Lebens, auf ihre zunehmende Ausnutzung der “erleichterten Möglichkeit, den Staat selbst einzurichten und zu leiten”, wie Lenin sich in seiner Polemik gegen Kautsky ausgedrückt hat. Und das ist Anzeichen und Bürgschaft gesunder innerer Entwicklung. Das Wählen und gewählt Werden zu den Sowjets begreift in sich die fortlaufende, regste persönliche und sachliche Verbindung zwischen Wählern und Gewählten, die strengste Kontrolle dieser durch jene. Die starke Wahlbeteiligung, die Massenwillen zur Macht und zur gesellschaftlichen Umbildung bekundet, wirkt daher der Stagnation und der Erstarrung des sozialen Lebens in den Sowjets entgegen. Sie erweitert die Sphäre gegenseitiger Beeinflussung und zieht neue Hunderttausende, ja Millionen zu geschichtlicher Aktivität heran.

Durch das, was die Sowjets unmittelbar für den Bau der neuen Staats- und Gesellschaftsordnung leisten, der ein lichtes, wohnliches Haus für alle Schaffenden sein soll, müssen sie arbeitend tagtäglich ihren Wert erweisen. Der aber kann nur erhalten und gesteigert werden, wenn die Sowjets mehr sind als lediglich treue Diener des Massenwillens, nämlich in ihrem Werk, in ihrer Betätigung Massenarbeit, Massenleistung selbst. Wie unfertig und mängelbelastet das Wirken der Sowjets auch noch ist, noch sein muss, es hat bereits die geschichtliche Weihe als kristallisierte Massenaktion empfangen. Sein Wert ist eingegangen, lebendige Kraft geworden in Sowjetrusslands Existenz während dieser Jahre schwersten Kämpfens. Die wachsende Wahlfreudigkeit der Werktätigen in Sowjetrussland — ohne den Segen der bürgerlichen “Demokratie” — steht in schroffstem Gegensatz zu der rasch um sich greifenden Wahlmüdigkeit und Parlamentsverdrossenheit der Massen in den Ländern, die sich der viel besungenen Wohltaten der “Demokratie” erfreuen. Der Gegensatz hat seinen klaren, geschichtlichen Sinn. Er ist der Ausdruck auf der einen Seite des kraftvollen, schöpferischen Lebens der Massen, dem die Revolution die Bahn freilegt, auf der anderen Seite der Lähmung und Verkrüppelung der Massenaktivität durch den Mechanismus der bürgerlichen Ordnung. Wer den Gegensatz zwischen historischem Sterben und historischem Leben zu Fleisch und Blut verkörpert sehen will, der wohne einer Sitzung irgend eines Parlaments in Westeuropa bei — wenn es nicht gerade das Schauspiel eines “großen Tages” für politische Kinder und Bettler gibt — und einer Sowjetkonferenz, auf der sich Hunderte, Tausende von Arbeitern und Bauern mit geradezu religiöser Inbrunst bemühen, neues, bis dahin, für sie kaum Existierendes zu verstehen und zu gestalten.

Mit meisterhaft gesteigerter forensischer Beredsamkeit schleudert Paul Levi wegen des Vorhandenseins von “Parteilosen” in Sowjetrussland schwerste Anklagen wider die bolschewistische Politik. Um wie viel entrüsteter, tönender müsste seine Rhetorik aufbrausen, wenn es in Sowjetrussland keine Parteilosen mehr geben würde. In den Höhen seiner beschworenen, geschichtlichen, objektiven Einstellung müsste Paul Levi das werten als den Beweis einer Mechanisierung und Ertötung sich regenden sozialen Lebens durch Methoden des Zwanges, der Gewalt. Jedoch bei der Beurteilung der bolschewistischen Politik stürzt er aus diesen himmlischen Höhen auf die recht alltägliche Erde subjektivsten Empfindens. Und bei seinem Absturz vergisst er, dass sowohl für das geschichtliche Reifen der proletarischen Massen wie das ihrer Partei gilt, was er den Bolschewiki so eindringlich als überflüssig predigt: dass dieses Reifen Leben, Geist, Betätigung ist, ein organischer Entwicklungsprozess, kein mechanischer Vorgang.

Lenins zitiertes Schema von den drei Stufen der Revolutionsträger und ihren Aufgabenkreisen ist Schema, begriffliche Abstraktion, die das revolutionäre Leben verstehen helfen soll, nicht mehr. Es ist nicht revolutionäres Leben und will nicht revolutionäres Lebensgesetz sein. Weder für die bolschewistische Partei, noch für die proletarischen Massen und das Verhältnis beider zueinander. Lenin ist wahrhaftig nicht der Narr “aus einem Guss”, der wähnt, das geschichtliche Leben ließe sich in diesem Schema einfangen und durch kluge Organisationsmaßnahmen destilliert und wohl verkorkt für jede Stufe und jeden Aufgabenkreis in Flaschen füllen. Das Schema verhält sich zu dem Sein der Partei und seiner Auswirkung auf die werktätigen Massen wie ein gut präpariertes Skelett zu einem Menschen, dessen Muskeln spielen, dessen Herz klopft, dessen Nerven schwingen, der Kraft, Gefühl, Geist, Bewegung und Handeln ist. Es soll die Kommunistische Partei nicht in “glänzender Isolierung” von den breiten Massen der Schaffenden trennen, die sie aktionsbereit und aktionsfähig machen muss, sondern es soll ihr erleichtern, sich mit ihnen zu verbinden. Die Arbeit, der Kampf jeden Tages würde keine scharfe Abgrenzung der “Vorhut” von dem “Vortrupp” und den “Massen” dulden, würde feste Schranken zwischen ihnen sprengen. Arbeit und Kampf bewirken fortdauernd Wechsel und Erweiterung des Einflussgebietes einer revolutionären Arbeiterpartei. Paul Levi unterstellt jedoch, dass die Bolschewiki gleich dem Tier auf dürrer Heide im Bannkreis des Leninschen Schemas herumirren. Wäre dem so, wie dann hätten sie zur revolutionären Klassenpartei des russischen Proletariats werden können, wie die Grundlagen einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung zu schaffen und die Räterepublik bis nun gegen eine Welt von Feinden zu verteidigen vermocht? Denn dieses gewaltige Werk, in dessen Glanz die Bolschewiki stehen, konnte nicht bloß Parteitat, es musste Massentat, Klassentat sein.

Die bolschewistische Partei und das russische Proletariat sind miteinander und aneinander zu geschichtlicher Größe emporgewachsen. Sie haben sich nicht als fertige historische Sondergebilde zu einem Ganzen zusammengeschlossen, ihr inniges Einssein ist organisches Werden, verwurzelt in dem Boden des proletarischen Klassenkampfes, genährt von dem Feuersaft der Revolution, gekräftigt und lebendig erhalten durch Arbeit und Kampf jeden Tages, vorwärtsgetrieben zur höheren Menschlichkeit des Kommunismus. So steht die Partei der Bolschewiki nicht neben und über den proletarischen Massen Sowjetrusslands, sondern mitten unter ihnen, ihr Vorwärtsbewegen ist gleichzeitig Vorwärtsbewegung der Massen selbst. Ohne aufgehört zu haben, der bewussteste, zielklarste und kühnste Ausdruck des proletarischen Klassenwillens und der proletarischen Tatkraft zu sein, ist ihr Leben Klassenleben, Klassenbewegung des russischen Proletariats geworden. Es lebt und webt in dem heißen Herzschlag und der starken Faust von Millionen Ungenannter und Unbekannter, die sich selbst den Freibrief schrieben, indem sie sich aus seufzenden, geduldigen Kreuzesträgern des Kapitalismus zu trotzigen Kämpfern gegen ihn und zu rüstigen Bauleuten des Kommunismus wandelten. Es ist die geschichtliche Aktion voller Stoßkraft und Tragkraft von Ungezählten. Und sogar die “Fehler” und “Abirrungen” dieses revolutionären Lebens sind für die Ausgebeuteten und Unfreien aller Länder fruchtbarer, als die unbefleckte Tatenlosigkeit und das Herumtrippeln auf dem reformistischen Erdfleckchen im Namen der “Demokratie”.

Paul Levi sieht in der Kommunistischen Partei, in den Sowjets, in den Gewerkschaften der Räterepublik nur Asche und Tod als schreckende Spuren der bolschewistischen Auffassung und Politik. Es ist die Luftspiegelung seiner eigenen gewandelten politischen Überzeugung, erloschen ist in ihm die lodernde Flamme des revolutionären Kommunismus, erloschen und gestorben. Seine Kritik der bolschewistischen Politik — nicht in ihren einzelnen Irrungen und Schwächen, vielmehr in ihrer grundsätzlichen, großen geschichtlichen Linie — läuft in Wirklichkeit hinaus auf die Ablehnung der russischen Revolution. “Die Menschen machen ihre Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.” So beginnt Marxens “Achtzehnter Brumaire”. 1

Die Bolschewiki tragen die schwere historische Hinterlassenschaft zahlloser hinab gesunkener Geschlechter. Könnten sie Geschichte machen “aus freien Stücken”, unter “selbst gewählten Umständen”, sie würden es gewiss vorgezogen haben, die Revolution als lyrisches Gedicht in der Gartenlaube “zu machen”, Sinne und Seele gekost von den ringsum duftenden Blüten der Demokratie, dem beruhigenden Bewusstsein, dank vorzüglicher Bildung und
Lehren nicht mit einer einzigen falsch abgewogenen Silbe gegen das zu verstoßen, was zünftige Poeterei und Kritik “die Gesetze der Dichtkunst” nennen. Doch die Geschichte war nicht so liebenswürdig, ihnen das frei zu stellen. Sie ließ die Bolschewiki in der großen geschichtlichen Stunde “schuldig werden” und “überließ sie der Pein” der Verantwortung dafür. Sie gab ihnen nur diese Wahl frei: auf die Führung in der Revolution zu verzichten, zu der die Massen der Ausgebeuteten sie riefen, oder aber die Revolution zu “machen”, “wie sie sie machen mussten”: bei Unreife der wirtschaftlichen und sozialen Kräfte für den Kommunismus, in dem Wettern und Flammen der proletarischen Diktatur, des Bürgerkriegs, des Terrors.

Es ist die Tragik der Bolschewiki, dass sie die Revolution unter den “unmittelbar vorgefundenen Umständen” machen müssen. Es wird ihr ewiger Ruhm bleiben, dass sie sie dennoch machen. Als die revolutionären Massen der Industrieproletarier, Bauern und Soldaten im Oktober 1917 alle Macht für die Räte erkämpften und sie vertrauensfreudig in die Hand der Bolschewiki legten, waren diese sich klar, um was es ging. Die in Fluss gekommene Revolution würde ihre Wellen weiter wälzen, ohne die Bolschewiki und über sie hinweg, die Tatenlosen verschlingend, um bald in den Niederungen bürgerlichen Reformismus, befestigter bürgerlicher Klassenherrschaft zu versanden und zu versickern. Oder aber sie selbst müssten die Führung der Revolution übernehmen, um sie nach Inhalt und Ziel als proletarische Revolution zu erhalten und vorwärts zu treiben. Ihre Entscheidung schrieb ihnen ihre Taktik vor, auch sie ist die Frucht eines geschichtlichen Muss und nicht “selbst gewählter Umstände”.

* Liranowski: Die Sowjets und ihre Entwicklung in den Jahren 1917 bis 1920 (Russische Korrespondenz, Jahrgang 1921, Heft 1 und 2).

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