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XI. Die Bedeutung der russischen Revolution für das Weltproletariat

Die Verwerfung der bolschewistischen Politik in ihrer großen allgemeinen Grundlinie ist der Deckmantel des Verzichts auf die proletarische Revolution selbst / Das Märchen von der “mechanischen” Übertragung der bolschewistischen Politik auf Länder mit anderen geschichtlichen Bedingungen / Die Lehren und das Beispiel der russischen Revolution für das Weltproletariat / Die Sicherung der russischen Revolution durch die Proklamierung ihres proletarischen Charakters und die Einstellung auf die Weltrevolution! Sowjetrussland als erster großer Staat, der die Aufhebung des Privateigentums und das Recht des Gemeineigentums verteidigt / Die Pflicht des Weltproletariats gegen Sowjetrussland

Die Menschewiki und ihre westeuropäischen Geschwister sind in ihrer Weise konsequent, wenn sie wegen der Taktik, die als hartes, unvermeidliches historisches Gesetz sich durchsetzt, die proletarische Revolution selbst als “verfrüht” und ein “geschichtliches Missverständnis”, als einen “geschichtlichen Fehler” etc, für Russland auffassen. Ihrer Überzeugung nach musste der Umsturz ein gut bürgerlicher bleiben, der erst mittels der “Demokratie” die Vorbedingungen für eine langsam und vorsichtig vorbereitete, “sicher erfolgreiche” proletarische Revolution schaffen würde. Diese überlegenen Magister der Geschichte verwahren sich dagegen, der Revolution abzuschwören. Sie sind bereit, sie zu “machen”, “wenn die Zeit erfüllet ist”, was sie allein an deren Pulsschlag fühlen, und wenn die Revolution eine “schöne” Revolution bleibt, vor der der “gerecht denkende” Bourgeois nicht zu erschrecken braucht, eine Revolution so makellos, wie Walter von der Vogelweide die Kaiserin Irene geschaut: “Rose ohne Dorn, Taube sonder Gallen!” Mit solcher Auffassung verschieben sie die proletarische Revolution auf Sankt Nimmerlein und verweisen sie aus dem Reich der Klassenkämpfe in das der Moral.

Paul Levi hat in der “Einleitung” nicht ausgesprochen, dass er diese Auffassung teilt, allein, seine Einstellung zu der bolschewistischen Politik führt zwangläufig zu ihr.

Diese Einstellung geht von Rosa Luxemburg aus und endet bei Hilferding, Stampfer und Kautsky. Das wahre Vorwort der Nachlassbroschüre war die Gründung jener Karikatur einer proletarischen Massenpartei, die sich “Kommunistische Arbeitsgemeinschaft” nannte. Paul Levis Nachwort zu ihr begann mit dem Satze des Aufrufs: “An die revolutionären Arbeiter Deutschlands”,* der den Einritt in die Unabhängige Sozialdemokratie also begründet: “… wir haben aber nie bestritten, dass die USP in den langen Jahren des Krieges, wie nach dem Kriege dem Gedanken des Marxismus die Treue bewahrt hat”. Ein Satz, bei dem der Verfasser die Gründung des Spartakusbundes und der Kommunistischen Partei durch Rosa Luxemburg eigenen hervorragenden Mitwirkung offenbar haben scheint. Das Nachwort klang mit dem Übertritt zur Unabhängigen Sozialdemokratie aus. Paul Levi wird vielleicht den Kommunisten bestreiten, dass sein Kommunismus sich verflüchtigt habe. Als literarisch gebildeter Mann wird er mit Victor Hugo ihnen erklären: “Ich, Renegat! Was fällt euch ein! Dann ist die ganze Natur Renegatin, denn sie hört nie auf, sich zu entwickeln.” Niemand wird Paul Levi das Recht nehmen wollen, sich nach rückwärts zu entwickeln. Jedoch ihm steht nicht das Recht zu, sich dabei auf Rosa Luxemburg zu berufen, die geniale und treue revolutionäre Kämpferin. Den Blick auf sie gewandt, darf er nicht von seinem Weg sagen: “Unser Weg”.

Rosa Luxemburg würde diesen Weg nun und nimmer mit Paul Levi gegangen sein. Ihr klarer, geschichtlicher Sinn und ihr revolutionäres Herz hätten sie davor bewahrt, sich den Revolutionsphilistern und Revolutionspharisäern zu gesellen, die da täglich im Namen des “Sozialismus” beten: “Wir danken Dir, Gott, dass wir nicht sind wie die bolschewistischen Räuber, Mörder und Zöllner, sondern dass wir uns durch den Verzicht auf die Eroberung der Macht und auf die Sozialisierung würdig und wohlgeschickt erhalten haben für das Bündnis mit Lloyd George und Poincaré, mit Morgan und Stinnes.” Rosa Luxemburg würde in diesem geschichtlichen Augenblick das sich marxistisch räuspernde und spuckende “Kritisch-Distanzhalten von den Bolschewiki” mit Entrüstung zurückweisen als ein Abrücken von dem einzigen Proletarierstaat, den die Weltrevolution in ihrem ersten stürmischen Anlauf geschaffen hat, ja als eine Fahnenflucht aus dem Lager der proletarischen Weltrevolution selbst. Sie würde als Selbstbetrug oder Massenbetrug stäupen die reichlich rieselnden reformistischen Reden, dass über dem bolschewistischen Versuch, mit untauglichen Mitteln zur untauglichen Zeit und am untauglichen Objekt den Sozialismus erzwingen zu wollen, der internationale Sozialismus selbst als die einzige große Zukunftshoffnung der Mühseligen und Beladenen stehen müsse und nicht durch Solidarisierung mit diesem Versuch befleckt und entwertet werden dürfe.

Als ob der Sozialismus je ohne die Revolution triumphieren könne und die Revolution möglich sei ohne Gewalt und Härten, ohne Irren und Wirren, ohne ein langes qualvolles Suchen, Tasten, Erfahrungssammeln der proletarischen Massen und ihrer Führer; als ob die Revolution möglich sei als ein konsequent durchgeführter Plan und nicht als ein historisches Werden, dessen klassische gesellschaftliche Vollendung nicht am Anfang steht. Wären die Arbeiterführer tatsächlich solche Bettler im Geiste und im Wissen, dass sie den rettungsheischenden Massen nicht die geschichtlichen Unterschiede klarzumachen vermöchte zwischen den überkommenen und überlieferten Umständen die proletarische Revolution in Russland und den Ländern, durch den Kapitalismus bereits für den Kommunismus tief umgepflügt sind? Dass sie nicht vermöchten die Auswirkungen dieser Tatsache auf den proletarischen Befreiungskampf den Millionen nachzuweisen, die in diesen Ländern nach Brot schreien und nach dem Lebensrecht ihrer Kinder auf Nahrung und Erziehung; den Millionen, die als Menschen arbeiten, aber auch als Menschen sich der Frucht ihrer Arbeit freuen wollen? Die Reformsozialisten — ob sie sich ihres Reformismus brüsten oder ihn verschämt zu verhüllen trachten — pochen auf den Zwang der “historischen Lage”, um für sich als Recht in Anspruch zu nehmen, mit dem revolutionären Kampf auch das revolutionäre Ziel des Proletariats zu verraten. Allein, was “klugen” Reformsozialisten recht ist, das ist offenbar “törichten” Bolschewiki nicht billig. Diese verstockten Sünder beharren dabei, unter dem Zwang der “historischen Lage” die proletarische Revolution so zu machen, “wie sie sie machen müssen”.

In der geschichtlichen Rechtfertigung der bolschewistischen Politik — in ihrer großen, allgemeinen Linie — liegt gleichzeitig ihre Begrenzung. Die russische Revolution ist so weit fortgeschritten und hat so klar wesentliche Züge des Kampfes der Klassen um den Sozialismus, den Kommunismus herausgearbeitet, dass Bürgerkrieg, Diktatur des Proletariats und Sowjetordnung als historisch gegebene internationale Erscheinungen und Formen der proletarischen Revolution zu werten sind. Jedoch das Wie ihrer Durchsetzung wird zweifellos sehr verschieden sein. Es hängt ab von dem großen Komplex vielgestaltiger und viel verschlungener Umstände, die in den einzelnen Ländern nebeneinander liegen, gegeneinander streiten und höchste geschichtliche Aktivität erlangen, wenn der Hammerschlag der Revolution die überkommenen sozialen Normen und Bindungen zerstört. Es wird nicht zuletzt bestimmt werden von dem Reifegrad der kapitalistischen Wirtschaft für den Kommunismus und durch das Kräfteverhältnis der miteinander ringenden Klassen.

Sinnlos ist daher das Geschrei, die Welt müsse vor der mechanischen Übertragung bolschewistischer Methoden geschützt werden. Sein Zweck ist klar. Was man damit bannen will, ist der Geist der proletarischen Revolution Sowjetrusslands, der unter den Proletariern aller Länder umgeht, ein Schreckgespenst für die Weltbourgeoisie und alle, die die proletarische Revolution, das geschichtliche Aktivwerden der ausgebeuteten und beherrschten Massen, hassen oder fürchten. In diesem revolutionären Geist ist die ungestillte Sehnsucht zahlloser Geschlechter auferstanden, die hinab gesunken sind zu den Schatten der Vorderen, nachdem unter der knechtenden Wucht des Besitzes ihr Dasein zeitlebens nichts anderes gewesen als der blasse, traurige Schatten starker, schöner Menschlichkeit. In ihm bäumt sich auf der Jammer ungezählter Millionen Mitlebender, die die Macht des Besitzes in die tiefsten Tiefen des Elends stößt, weil die Besitzenden aus der Ausbeutung der Werktätigen nicht nur den gewöhnlichen kapitalistischen Tribut herauspressen wollen, sondern darüber hinaus die phantastischen Schätze, die erforderlich sind, um das verbrecherische Zerstörungswerk des imperialistischen Krieges zu tilgen und die national und international zerfallende Wirtschaft aufzubauen.

Dieser revolutionäre Geist muss handelnd, wirkend in die Geschichte eingreifen, muss Geschichte “machen”, wie er das in Russland getan hat, verkörpert in dem Willen von Millionen Proletariern und armer Bauern, einem Willen, der als Tat seinen bewussten, zielstarken Ausdruck in der Partei der Bolschewiki und ihrer Politik findet. Dieser revolutionäre Geist wird auch in anderen Ländern unwiderstehlich siegreich sein, wenn sein Handeln die charakteristischen Züge der russischen Revolution, der bolschewistischen Politik trägt: Zieltreue, kühne Entschlossenheit und grenzenlose Hingabe. Er wird dort den geschichtlich gewiesenen Weg gehen, wie er ihn in Russland eingeschlagen hat und fortsetzt. So wertvoll all die geschichtlichen Erkenntnisse sind, die die russische Revolution dem internationalen Proletariat gebracht hat, ihre wertvollste Gabe ist das lebendige Beispiel, täglich aufs Neue in Mühsal und Qual, bei Arbeit und Kampf geboren. Das große Beispiel von dem Weben und Walten jenes revolutionären Geistes, der die schaffenden Massen und ihre Klassenpartei zu einem handelnden Ganzen vereint und zu jedem Opfer, zum größten Heldentum befähigt hat.

Aus diesem Geist, von ihm beflügelt und getragen, hat die bolschewistische Politik den russischen Sowjetstaat geschaffen, verteidigt und erhält sie ihn, vollbringt sie ihr Werk von rauer Größe, gegen das die Gewalten der Weltbourgeoisie Sturm laufen und das von Zwergen gescholten, verhöhnt, beschimpft wird. Aber hallt vor dem Ohr des internationalen Proletariats nicht auch die Anklage, die Bolschewiki hätten durch einen Pakt mit dem Kapitalismus das Werk selbst preisgegeben, nachdem sie erst um dieses Werkes willen die Forderungen einer wirklich “sozialistischen Politik” geopfert? Erklingen nicht die Zweifelsfragen: Weshalb die Zielsetzung des Kommunismus für die Revolution, wenn die Zeit für seine Verwirklichung objektiv und subjektiv noch nicht reif war? Warum das Proletariat zum Kampf für die Ausrottung des Kapitalismus führen, es mit dem Glauben an seine Befreiung durch den Kommunismus beseelen, wenn die unerbittliche Notwendigkeit dazu zwingt, den Kapitalismus wieder ins Land zu rufen? Wäre das “Revolutionsergebnis des Kompromisses mit dem Kapitalismus” nicht ohne die furchtbaren Kämpfe und Opfer dieser Jahre zu erreichen gewesen auf dem Wege der “Demokratie”, dank einem friedlich-schiedlichen Zusammenwirken von Proletariat und Bourgeoisie, mit anderen Worten: durch Fortführung der Koalitionspolitik, durch Verwirklichung der menschewistischen Losungen einer rein bürgerlichen Revolution, die “Demokratie” und soziale Reformen brachte?

Es hört sich so “vernünftig” und so überlegen an, was zu diesen Fragen geredet wird von erfolgreichen sozialdemokratischen Realpolitikern, von tiefgründigen Erfindern sozialistischer Wunderrezepte für eine schmerzlose und schöne Revolution, von demokratisch und ethisch parfümierten Hofmeistern für gute, tadellose Umgangsmanieren der Geschichte. Jeden- noch: Es ist geschichtlich klein und falsch.

Nur dadurch, dass die Bolschewiki den engen Rahmen der bürgerlichen Revolution sprengten, dass sie die Revolution hinausführten in das weite historische Blachfeld des Ringens für die Emanzipation aller Arbeitenden, Unfreien, durch den Kommunismus, dass sie damit den größten Massen das größte Ziel zeigten, nicht als trostreiche Zukunftshoffnung, sondern als unmittelbare, Mühen und Opfer fordernde praktische Tagesaufgabe: Nur dadurch hat die russische Revolution Millionen Köpfe, Herzen, Hände schöpferisch werden lassen, hat sie die geschichtliche Größe erhalten, den leuchtenden Glanz, die leidenschaftliche Glut, den starken, langen Odem, kurz, die Wesenszüge neuen, tätigen, höheren Menschenlebens. Und nur dadurch konnte sie für die Enterbten und Zertretenen von den Ufern der Themse bis zu denen des Ganges und Mississippis, von den Fabriken Barcelonas, Turins, Nordfrankreichs, des Rheinlands bis zu den Stätten kapitalistischer Ausbeutung in Tokio und New York zur Erweckerin und Mahnerin werden. Glaubt jemand im Ernst, die breitesten Massen russischer Arbeiter und Bauern würden für Geringeres als die Sowjetordnung, würden für das soziale Linsengericht auf demokratischem Teller einer bürgerlichen Revolution Jahr auf Jahr gedarbt und gekämpft haben, glücklich, stolz in dem Bewusstsein, einem großen Ziel zu leben und zu sterben?

Trotz der Unreife der geschichtlich gegebenen Umstände für den Kommunismus durften, ja mussten die Bolschewiki ihn der Revolution als Ziel setzen. Und nicht etwa bloß deswegen, weil die Massen des russischen Proletariats reif geworden waren in dem Willen, den Kommunismus kämpfend durchzusetzen. Nein, vielmehr auch, weil die Bolschewiki als Bekennet des internationalen Sozialismus, als Marxisten, von dem Kommen und dem Fortschreiten der proletarischen Revolution als Weltrevolution überzeugt waren. Auf russischem Boden, unter den ungünstigsten Bedingungen, war sie wage- trotzig und unverzagt im ersten Flug aufgestiegen. Hier war sie dem geringsten Widerstand der feindlichen Kräfte begegnet, hier hatte die Reife des menschlichen Tatwillens die Entwicklung der objektiven Verhältnisse überflügelt und wollte in Freiheit ihr Schöpfer und Herr sein. Musste nicht in den Staaten hoher und höchster kapitalistischer Wirtschaftsentfaltung die zum Umsturz des Kapitalismus historisch berufene Klasse reif sein für diese Tat sich erneuernden Gesellschaftslebens?

Die Bolschewiki bejahten diese Frage, und sie haben in bitterer Erfahrung gelernt — mich will bedünken in der schmerzlichsten Erfahrung ihrer harten Kampfjahre —‚ dass die Willensreife des Proletariats in Ländern fortgeschrittener kapitalistischer “Kultur” meilenweit hinter der Wirtschaftsreife für den Kommunismus langsam, mühselig nachhumpeln kann. Sie glaubten in dem proletarischen Klassenleben aller Länder die sicheren Anzeichen revolutionärer Reife zu erkennen. Es war jedoch der leidenschaftliche Schlag des eigenen revolutionären Herzens, die gebieterische Stimme des eigenen entschlossenen Willens, die zu ihnen von außen her zu tönen schienen. So haben die Bolschewiki sich mit der Annahme verrechnet, dass die Weltrevolution in einem weit rascheren Tempo vorwärts schreiten würde, als es tatsächlich seither der Fall war. Allein, dieser ihr Rechenfehler ist fruchtbarer und schöpferischer geworden — national und international — als alle Exempel darüber, dass das Proletariat nicht wagen dürfe, weil es vielleicht noch nicht gewinnen würde. Diese Exempel stimmen, sie gehen glatt auf und sind trotzdem geschichtlich eine große Falschrechnung für die Ausgebeuteten. Denn ihr Ergebnis ist Schlimmeres als Null: die Befestigung der Herrschaftsmacht der Bourgeoisie. An dem bolschewistischen “Rechenfehler” dagegen hat sich in den verzweifeltsten Augenblicken immer wieder aufs neue die revolutionäre Begeisterung und Kraft der russischen Proletarier entzündet, und die Glut des Glaubens und Wollens, aus der er geboren, ist in der Seele von Millionen nichtrussischer Proletarier heilig emporgeflammt, eine lebendige Macht revolutionärer Entwicklung.

Es ist ein historisches Gesetz, dass eine Klasse, die zu Freiheit und Macht emporsteigt, ihr Ziel nicht in einem Anlauf erreicht, dass sie wieder und wieder hinter dieses Ziel, hinter den Ausgangspunkt eines weitgerichteten Kampfes zurückgeschleudert wird. Mit bürgerlichem Charakter und bürgerlichen Losungen durchgeführt, wie es die Menschewiki für das Gebot der Stunde hielten, hätte die Revolution in Russland nicht einmal rasch und gründlich die noch vorhandenen festen Machtpositionen der feudalen Gesellschaft zu schleifen vermocht. Als die revolutionären Proletarier und Soldaten unter Führung der Bolschewiki in Petrograd und Moskau die Macht eroberten und das Banner mit dem Sowjetstern hissten, stand die “reine Demokratie” vor der Gefahr, der Militärdiktatur zu erliegen, von der zaristischen Gegenrevolution verschlungen zu werden. Nur weil die Bolschewiki der Revolution sofort die Titanenmaße und Titanenziele der proletarischen Revolution gaben, konnten Massenkräfte entfesselt und geschichtlich wirksam werden, die in einer lächerlich winzigen Zeitspanne für den Umsturz der Gesellschaft zerstörend und aufbauend mehr geleistet haben als alle bürgerlichen Revolutionen im Laufe von Jahrhunderten.

So gründlich, wie von der proletarischen Revolution in Russland mit allen Bindungen, allen Vorrechtsstellungen, allen Überlebseln der feudalen Gesellschaft in jedem Gebiet des sozialen Lebens aufgeräumt worden ist, hat das keine bürgerliche Revolution in einem Lande Westeuropas getan. Alle Staaten der bürgerlichen Demokratie, die Republiken der Übersee nicht ausgenommen, sind noch voll gepfropft mit Urväterhausrat aus der feudalen Gesellschaft. Der eiserne Besen der proletarischen Revolution hat Sowjetrussland rein davon gefegt und hat damit Luft und Licht geschaffen für das Werden und Wachsen der Keime und Schößlinge neuer Lebensbeziehungen von Mensch zu Mensch. Als Trägerin und Vollstreckerin der proletarischen Revolution tat die bolschewistische Politik bewusst mehr als das. Sie hat soziale Kräfte und soziale Einrichtungen geradezu aus dem Boden gestampft, die Schöpfer und Schöpfungen neuen gesellschaftlichen Seins sind, Schöpfer und Schöpfungen, durchpulst von dem kameradschaftlichen Geist höchster Kraftentfaltung und Lebenserfüllung aller, in brüderlicher Gemeinschaft mit allen.

Die Todfeinde der Bolschewiki müssen für ihr historisches Werk zeugen. Im “Plan der rechten Sozialrevolutionäre” wird erklärt: “Die Hinterlassenschaft der Bolschewiki muss als Realität betrachtet werden, von der einzelne Wurzeln so tief in den Boden eingedrungen sind, dass sie auszureißen gleichbedeutend sein würde mit einer Vermehrung des Chaos und der wirtschaftlichen Zerrüttung.”* In der Tat! Wenn die bolschewistische Sowjetmacht heute zusammenbräche, die Spur von den Jahren ihrer Herrschaft — jeder Tag davon ein Arbeits- und Kampftag von verzehrendem Ungestüm — würde nicht untergehen. Diese Arbeits- und Kampftage würden nicht bloß in der Geschichte unsterblich leuchten. Sie würden weiter unzerstörbares Leben bleiben in sozialen Einrichtungen und Dingen, deren Charakter die starke Faust der proletarischen Revolution umgewertet hat; in Millionen Seelen, in denen jener Kampf- und Arbeitstage erlösender Hauch weiterwirkt. Nie kann nach den Jahren bolschewistischer Macht und Politik ein Russland erstehen, das dem Ideal der rückwärtsgewandten Bewunderer zaristischer Ordnung auch nur annähernd ähnelt, aber nie auch ein Russland, das das Sehnen der Weltbourgeoisie verwirklicht, die vorwärts zu schauen behauptet nach den goldenen Schätzen der Demokratie, jedoch ebenfalls rückwärts starrt auf die entschwindende Herrlichkeit schrankenloser, ewiger Ausbeutungs- und Herrschaftsgewalt. Denn noch lebt Sowjetrussland, der Staat der Schaffenden, und die Bolschewiki werden trotz ihrer “Konzessionspolitik” seine Macht für die Ziele der proletarischen Revolution zu gebrauchen wissen.

Freilich: Die ganz “Reinen”, die nur “zur rechten Zeit” den revolutionären Kampf wagen wollen, und die Ästheten des proletarischen Emanzipationsringens klagen und sagen, dass die Bolschewiki mit eigener Hand das gewaltige Werk der proletarischen Revolution seit 1917 zerschlagen. Wäre es der Größe dieses Werkes und der unerschütterlichen Entschlossenheit und Hingebung derer, die es schufen, nicht würdiger gewesen, mit der Losung “Alles oder nichts!” in tosender Feldschlacht den feindlichen geschichtlichen Gewalten zu erliegen, als mit kluger Strategie einen geordneten Rückzug anzutreten? Welch großer Ausgang großen Wollens! Die revolutionäre Geste der Bolschewiki, sich unter den Trümmern ihres Werkes zu begraben, wäre schön und — leicht. Größer und unendlich schwerer ist ihre revolutionäre Tat, ihr Ziel und Werk beschwingten Sturmes und Dranges hinüberzuretten in den nüchternen, kalten, grauen Alltag eines Paktes mit dem Kapitalismus und zähen Ringens mit ihm in der Alltäglichkeit von Pachtverträgen, Konzessionen etc.

Die Konferenz zu Genua war das über den Erdball flammende Feuerzeichen, dass dieser Pakt kaum einen Waffenstillstand mit dein Kapitalismus bedeutet, geschweige denn den Frieden. Wie in Brest-Litowsk so sind auch hier die zwei Welten des historisch Alten und Neuen gegeneinander geprallt. Das schmutzige Gefeilsche der Weltbourgeoisie und ihrer Regierungen um Petroleumquellen, um die Verteilung der Kriegsbeute verstummte, das listenreiche Ränkespiel zwischen dem englischen und französischen Imperialismus wurde gegenstandslos, als mit Sowjetrusslands Delegation die proletarische Revolution vor diese internationale Einheitsfront zur Niederzwingung und Ausplünderung der Schaffenden trat, als sie gegenüber der Macht des kapitalistischen Privateigentums das geschichtliche Recht des Gemeineigentums proklamierte. Die Bedeutung dieses großen geschichtlichen Augenblicks und Sowjetrusslands Lage, als eines Armen und doch Unbezwungenen und Kampfentschlossenen, hat erhöhtes Relief erhalten durch das dumpfe Schweigen des internationalen Proletariats, das nicht einmal sein Recht auf Brot gegen die kapitalistische Raffgier zu verteidigen sich erkühnte und von seinem revolutionären Erstgeburtsrecht auf Freiheit in allen Sprachen schwieg. Die Bolschewiki wägen mit kühlem Blick die Schwere der Last und Verantwortung ihres Paktes mit dem Kapitalismus. Die Zähne fest zusammengebissen, jeder Muskel und Nerv in eiserner Entschlossenheit gestrafft, wagen sie, die Last und Verantwortung auf sich zu nehmen. Sie müssen es, die Geschichte hat sie zu ihrem Gethsemane geführt und lässt diesen bitteren Kelch nicht an ihnen vorübergehen. Als revolutionäre Arbeiterpartei, als der bewusste Wille und die bewusste Kraft des russischen Proletariats sind die Kommunisten die einzige Partei, die die Sowjetmacht zu erhalten und zu gebrauchen vermag, das revolutionäre Werkzeug des revolutionären Ziels, durch den Weltkapitalismus gehemmt, nicht durch ihn bezwungen. Riesenschwierigkeiten türmten sich vor der russischen Arbeiterklasse, vor ihrer Partei, als sie die Macht an sich riss und ihre Diktatur aufrichtete. Unerhörte Opfer mussten von ihr gebracht, Gefahren ohne Beispiel musste von ihr getrotzt werden, um in den Jahren seither die proletarische Macht und Diktatur zu behaupten. Der schwierigste, opfer- und gefahrenreichste Teil des Kampfes für den Kommunismus Sowjetrusslands beginnt nun erst, wo mit dem Kapitalismus gerungen werden muss, Brust an Brust, jeden Tag, jede Stunde, nicht bloß in “jeder Werkstatt, drin es pocht, in jeder Hütte, drin es ächzt”, vielmehr auch in der Seele jedes Schaffenden, auf der “die Traditionen aller toten Geschlechter wie ein Alp lasten”.

Die ernste geschichtliche Stunde der russischen Revolution darf nicht länger das internationale Proletariat als kleines Geschlecht finden. Entschlossen muss es endlich an Sowjetrusslands Seite treten. In moralischer Solidarität — um die Kräfte, die die Revolution zu historischem Leben gerufen hat, bei tätigster Selbsthilfe zu stärken und zu befeuern; in ökonomischer Solidarität — um den Aufbau und Ausbau der Sowjetwirtschaft zu fördern, der auf den Kommunismus gerichtet ist; in politischer Solidarität — um die Ausbeutungs- und Herrschaftsgelüste der Weltbourgeoisie und ihrer Regierungen niederzuringen. Jede Konzession, die der Kapitalismus Sowjetrussland abzwingt, muss dem internationalen Proletariat in der Seele brennen wie eine eigene Niederlage, ja als eigenes Verschulden. Das russische Proletariat, wundenbedeckt und entkräftet, hat bis jetzt seine revolutionäre Pflicht getan, tut sie weiter, heldenmütig und entsagungsstark. Es ist höchste Zeit, dass das internationale Proletariat endlich die seine tut. Sollte es tatsächlich vorziehen, zu verderben und zu sterben — historisch; Millionen der Seinen auch physisch und moralisch —‚ statt zu kämpfen?

Die revolutionäre Arbeiterpartei der Bolschewiki darf Aug in Auge mit der Situation weniger als je mit ihrer ideologischen und organisatorischen Geschlossenheit spielen lassen. In ihr ballt sich das revolutionäre Klassenleben des russischen Proletariats zu bewegender historischer Kraft zusammen. Die revolutionäre Arbeiterpartei der Bolschewiki muss die große Linie ihrer Politik festhalten. In geschichtlicher Gebundenheit führt sie zum geschichtlichen Ziel. Die bolschewistische Politik ist der erste Versuch größten weltgeschichtlichen Stils, marxistische Politik zu treiben, das gesellschaftliche Leben und seine Entwicklung zu erheben von einem Spiel blind, anarchisch wirkender Kräfte zu einem Werk der Wissenschaft, bewussten Willens. Den Chor der Gegner, das Waffengeklirr der Feinde übertönt angesichts dieses grandiosen Versuchs die starke Stimme der proletarischen Revolution. Gegenwarts- und Zukunftskampf heischend, ruft sie der Partei das stolze Wort des großen Florentiners zu, das Marx dem ersten Band seines “Kapitals” vorangestellt hat:

Segui il tuo corso, e lascia dir le genti.1

* “Freiheit‘ No. 141, Morgenausgabe. Freitag, 24. März 1922.

* Zitiert von Sinowjew auf dem 8. Sowjetkongress zu Moskau im Dezember 1920, in dem Vortrag über “Ausbau der Sowjets und Bürokratismus”, Russische Korrespondenz, Jahrgang 1921, Heft I und II, S. 34.

1 Geh deinen Weg, und lass die Leute reden!

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