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August Bebel: Größe und Grenzen der sozialistischen Bewegung in Frankreich

August Bebel: Größe und Grenzen der sozialistischen Bewegung

in Frankreich

Rezension von Lissagarays „Geschichte der Kommune von 1871“ in der „Zukunft“

1. Mai 1878

[Die Zukunft (Berlin), Erster Jg. 1877/78, H. 15 vom 1. Mai 1878, S. 456-462, nach August Bebel Ausgewählte Reden und Schriften, Band 1, 1863-1878, Berlin 1970, S. 507-518]

Diese Geschichte, die jetzt in deutscher Übersetzung und vom Verfasser bedeutend umgearbeitet im Verlag von W. Bracke erschien, ist ein sehr verdienstliches Werk.

Zum ersten Male wird hier den deutschen Sozialisten ein in deutscher Sprache gedrucktes Werk über das große Drama der proletarischen Revolution von 1871 dargeboten, und dieses Werk sollte in keiner sozialistischen Zeitungsredaktion, in den Händen keines mit der Agitation Betrauten und in keiner sozialistischen Vereins- oder Privatbibliothek fehlen.

Die Geschichte ist die Lehrmeisterin der Völker, aber die Geschichte lehrt die Völker weit weniger, wie sie es machen sollen, um ihr Ziel zu erreichen, als wie sie es nicht machen dürfen, um ihr Ziel nicht zu verfehlen, und dasselbe gilt auch von der Geschichte der Kommune.

Strenge Unparteilichkeit, rücksichtslose Darlegung der gemachten Fehler, das sind die Grundsätze, nach denen Lissagaray seine Geschichte geschrieben hat. Er selbst sagt in seiner Vorrede: „Wer dem Volke falsche Revolutionslegenden erzählt und es – ob vorsätzlich oder aus Unwissenheit – durch Geschichtsdithyramben täuscht, ist ebenso strafbar wie der Geograph, der falsche Seekarten für den Seefahrer entwerfen würde“, und wir stimmen dieser Anschauung aus vollster Überzeugung bei.

Der Sozialist muss gegen sich selbst und seinesgleichen streng und wahr sein, er darf weder sich noch andere durch Trugbilder und Trugschlüsse täuschen, er muss sich bewusst sein, dass, je größer und gewaltiger das Ziel ist, das er sich gesteckt, er auch in um so höherem Grade verpflichtet ist, jede Unbesonnenheit und jede Unklugheit zu vermeiden, die Schaden verursachen, seine hohe und gerechte Sache kompromittieren und auf lange hinaus schwer schädigen könnten. Die Vergangenheit soll ihm der Spiegel sein, der ihm das Bild geschehener Taten objektiv zurückwirft, aus dem er mit Kaltblütigkeit sich seine Lehren entnimmt.

Nichts aber kann für den modernen Sozialismus lehrreicher sein als das Studium der Geschichte der Kommune; diese zeigt ihm ihre Größe in der Heldenhaftigkeit der Verteidigung, aber auch ihre Kleinheit in der Organisation und im klaren Wollen. Das Studium von Lissagarays „Geschichte der Kommune“ wird viele Illusionen zerstören, aber das ist gerade ihr Verdienst; denn nichts hat bisher den Sozialisten mehr geschadet und speziell unseren Brüdern in Frankreich, als eben die Illusionen. Diese müssen zerstört werden, je gründlicher, um so besser.

Der echte Idealismus, der darin besteht, dass er stets mit dem festen Boden unter den Füßen und mit den Verhältnissen rechnend und keinen Augenblick das erhabene Ziel aus den Augen verlierend, danach alle seine Handlungen einrichtet, kann nur dadurch gewinnen.

Wenn wir von diesem Standpunkt aus jetzt auf Grund des von Lissagaray gelieferten Materials in eine Kritik der Kommune eintreten, so müssen wir, bei aller Hochachtung und aller Bewunderung für die vielen Züge begeisterter Hingabe, hohen Heldenmutes und bis zur äußersten Aufopferung gehender Selbstlosigkeit, wodurch sich sowohl ein Teil der Führer wie auch viele Tausende der großen unbekannten und ungenannten Masse – und wahrlich nicht zuletzt die Frauen – ausgezeichnet haben, doch das Geständnis ablegen: Die Kommune ist weit mehr an ihrer eigenen Programmlosigkeit zugrunde gegangen als an der Übermacht ihrer Feinde.

Indem wir dieses scheinbar harte Urteil aussprechen, beschuldigen wir weder den Einzelnen, und habe er sich die größten Fehler zuschulden kommen lassen, noch die Masse. Die Kommune konnte nach Lage der Dinge nichts anderes sein, als was sie war, und wenn sie selbst unter viel günstigeren inneren Zuständen ins Leben getreten wäre, so wollen wir keineswegs behaupten, dass sie in Anbetracht der äußeren Umstände sich viel länger zu halten imstande gewesen wäre.

Von vornherein aber ist nach unserer Überzeugung es eine grundfalsche und das wahre Leben und Wesen gesellschaftlicher Entwicklung verkennende Anschauung, wenn die Anarchisten sich der Ansicht hingeben, mit dem Sieg der Kommune von Paris würde auch die Kommune in den übrigen großen Städten Frankreichs gesiegt haben und von da aus die „allmähliche Liquidation der alten Gesellschaft“ möglich geworden sein.

Das ist eine von den Illusionen, an denen unsere Freunde in Frankreich trotz der Erfahrungen der Kommune bis heute noch zum größeren Teile leiden; das ist eine jener Illusionen, die sie bisher verhindert haben, in der gründlichen Agitation und Organisation, namentlich auch unter dem Landvolk, zunächst ihre Hauptaufgabe zu erblicken; eine Illusion, die ihnen den unseligen Glauben einprägte, es bedürfe nur einer – unter Umständen durch bloße Überrumpelung und Verschwörung – glücklich gelungenen Revolution in Paris und der einen oder der anderen großen Stadt, um den Sozialismus zur Herrschaft zu bringen. Dieser Glaube, wurzelnd in dem feurigen und lebhaften Naturell unserer Nachbarn, das mehr durch rasche Tat als durch langsame, gründliche und umsichtige Arbeit zum Ziel zu gelangen sucht, hat jene häufigen, gewaltsamen und heroischen Kämpfe erzeugt, an denen Frankreich allein fast reicher ist als alle anderen zivilisierten Länder der Welt zusammengenommen und die trotz allem bewiesenen Heroismus, trotz aller Seelengröße und Aufopferung heute den Sozialismus in Frankreich kaum stärker erscheinen lassen, als er vor 30 Jahren bereits war.

Es ist notwendig, dass dies hier mit allem Nachdruck ausgesprochen wird, um endlich die auch bei uns in Deutschland herrschenden Illusionen über die Stärke unserer Genossen in Frankreich zu beseitigen.

Wer Lissagarays Werk mit Nachdenken liest, wird sich dieser Überzeugung nicht verschließen können; denn in keinem bisherigen Akt der französischen Geschichte ist die wahre Stärke oder, wenn man will, die Schwäche des französischen Sozialismus, sein Mangel an klaren Zielen und die Spaltung unter sich selbst so zum Vorschein gekommen wie in der Kommune.

Diese Schwäche in der Kraft und diese Spaltung in den Anschauungen sind so groß, dass man sich billig fragen müsste, wie es möglich war, dass die Kommune überhaupt so lange bestanden hat, wie sie bestand, wenn ihre Existenz nicht dem Zusammenwirken einer Reihe von Umständen zu verdanken gewesen wäre, die mit sozialistischen Zielpunkten zunächst sehr wenig zu tun hatte.

Dazu gehören erstens die traurigen Erfahrungen, welche Paris während der Belagerung unter der Leitung der Herren Trochu, Jules Favre usw. gemacht hatte, zweitens die gegründeten Befürchtungen, welche die Handlungen der monarchisch gesinnten Nationalversammlung zu Bordeaux, die später nach Versailles übersiedelte, und der Regierung unter der Leitung eines Thiers bei dem demokratisch gesinnten Pariser Kleinbürgertum und den sozialistischen Arbeitern erweckten und beide, Regierung und Nationalversammlung, in dem Maße gegen Paris feindseliger stimmten, als die große Mehrheit des Pariser Volkes darauf bestand, eine Regierung so lange nicht anzuerkennen, bis es genügende Garantien für die Erhaltung der Republik und die Selbstverwaltung von Paris erlangt habe. Dazu kamen drittens die unsinnigen Dekrete der Versailler Regierung bezüglich der Wechsel, der Mieten und der Entziehung der Löhnung der Nationalgarden, Dekrete, deren sofortige Durchführung Hunderttausende dem Elend überantwortet hätte.

Der Widerstand gegen Versailles wurde dadurch begünstigt, dass Paris infolge der eben erst beendigten Belagerung mit Waffen und Kriegsmaterial vollgepfropft war, wohingegen die Regierung nur eine demoralisierte und zersprengte Armee besaß, die sie erst reorganisieren musste.

Die angeführten Umstände waren stark genug, um die abweichendsten Parteirichtungen, soweit sie nur überhaupt revolutionär gesinnt waren, zu gemeinsamem Handeln zu bewegen und, an die alte kleinbürgerliche Reminiszenz der Kommune von 1793 anknüpfend, die Kommune zu proklamieren, die 1793 wie 1871 die naturgemäße Reaktion gegen eine alles Maß überschreitende Zentralisation der Staatsgewalt und neuerdings die berechtigte Opposition gegen die Übermacht des rückständigen Landvolks und der Landstädte bildete. Was diese Kommune sein sollte, darüber wurde nie ernsthaft debattiert, jedes offizielle Programm musste sofort die Spaltung erzeugen. Der Name Kommune war nur das Schibboleth, unter dem sich gemeinsam kleinbürgerliche Jakobiner – und diese waren stark vertreten und lieferten in dem braven Delescluze eine der edelsten Erscheinungen der Kommune –, Proudhonisten, Sozialisten aller alten Schulen und der neuen Richtung vereinigten.

Die Verteidigung gegen die reaktionären Bestrebungen der Versailler war die nächste und Hauptveranlassung zur Gründung der Kommune, aber ohne diesen Kampf gegen Versailles hätte die Kommune, auf sich selbst gestellt, keine 8 Tage bestehen können, ohne die größte Spaltung in sich selbst und wahrscheinlich den Bürgerkrieg zu haben; das ist für uns heute außer Zweifel.

Die Sozialisten bilden nicht bloß keine in sich geschlossene, in Übereinstimmung handelnde Partei, sie waren auch augenscheinlich in starker Minorität. Ihre wahre Stärke ist schwer festzustellen. Bezeichnend ist, dass die Studenten, die bisher bei allen bürgerlichen Revolutionen in Paris sich an der Spitze befanden, sich von der Kommune fernhielten und förmlich lossagten.

Einen wahrscheinlich ziemlich sicheren Anhalt für die Stärke der wirklichen sozialistischen Partei in Paris dürfte das Abstimmungsresultat vom 8. Februar 1871 ergeben, wo die vereinigte Kandidatenliste der Internationalen, der Bundeskammer der Arbeitergesellschaften und des Komitees der 20 Arrondissements von 65.707 (Tridon) bis 22 499 Stimmen (Duval, der Eisengießer, der später als General der Kommune einer der ersten war, den die Versailler als Gefangenen erschossen) auf sich vereinigte. Blanqui erhielt nur 52.000, Delescluze, der auf der Liste der radikalen Demokratie stand, 154.000, und Félix Pyat, dieser elende Schwätzer und Dreiviertelnarr, 145.000 Stimmen.

Die Zahl der 65.000 Stimmen dürfte auch der Zahl der Kämpfenden in den Maitagen ziemlich gleich sein; wesentlich höher dürfte sie nicht gewesen sein. Wollte man nun zwischen der Zahl der Sozialisten in Paris im Jahre 1871 und der Berlins im Jahre 1877 einen Vergleich anstellen, so ergibt sich das manchen vielleicht überraschende Resultat, dass die 35.000 sozialistischen Wahlstimmen Berlins im Januar 1877 bei einer Bevölkerung von rund 1 Million Einwohnern jener der sozialistischen Stimmenzahl von Paris im Februar 1871 bei 1.825.000 Einwohnern fast auf den Kopf gleichkommen, woraus sich also schließen ließe, dass vergleichsweise der Sozialismus in der deutschen Reichshauptstadt heute stärker ist als derjenige heute in Paris, da der Ausfall durch die Maischlächtereien, die Deportationen etc. in Betracht gezogen werden muss. Der Vergleich wird für Berlin noch günstiger, wenn wir erwägen., dass in Paris mit dem 21. Lebensjahre abgestimmt wurde, dagegen in Berlin erst mit dem 25.

Mit diesem gewonnenen Resultat lässt sich für die deutschen Sozialisten mit mathematischer Sicherheit schließen, dass eine wirkliche sozialistische Verwaltung von Paris im Jahre 1871 so wenig möglich war, wie eine solche in Berlin im Jahre 1877 oder heute schon möglich wäre.

In Bezug auf das übrige Frankreich stellt sich der Vergleich zwischen dem deutschen und französischen Sozialismus noch ungünstiger für den letzteren. War an eine dauernde Konstituierung der Kommune für Paris nicht zu denken, so war das noch weit weniger möglich in den andern Städten des Landes. Auch hierfür gibt das Lissagaraysche Werk sehr wichtige Aufschlüsse.

Nach Paris ist die erste sozialistische und die größte Stadt Frankreichs Lyon, das eine außerordentlich zahlreiche Arbeiterschaft hat, die im Vergleich zur übrigen Bevölkerung selbst stärker ist als diejenige von Paris. Und welche Dienste hat dieses revolutionäre Proletariat, das zu leiten bekanntlich Herr Bakunin und Konsorten sich rühmten, geleistet? Es ist traurig zu sagen: abgesehen von ein paar jämmerlichen Demonstrationen – nichts. Die größte Ratlosigkeit und Kopflosigkeit existierte, und es wurde den Versaillern recht leicht, sich diese mächtige Stadt wieder zu unterwerfen. Nicht anders ging es in der großen Fabrikstadt St. Étienne, in Marseille, Toulouse, in Creusot und an anderen Orten. Nur in einem unklaren anarchistischen Kopf kann sich der Gedanke bilden und erhalten, diese Städte wären imstande gewesen, eine Kommune zu konstituieren und die „allmähliche Liquidation der Gesellschaft“ in Szene zu setzen. Zu einer solchen Möglichkeit fehlte alle und jede Vorbedingung; in den Bewegungen der genannten Städte ist auch nicht ein einziger befähigter Kopf mit wirklich sozialistischen Gedanken zum Vorschein gekommen. Und diese klägliche Bewegung wollen neuerdings Proudhonisten und Bakunisten uns als Muster zum Studium empfehlen. Ja, Muster, aber als abschreckendes Muster; zum Studium, aber nicht, um es nachzuahmen, sondern um uns vor solcher Nachahmung zu bewahren.

In den großen französischen Städten und Industriebezirken hat weder im Jahre 1871 noch später eine so organisierte und sozialistisch durchgebildete Partei bestanden, wie wir sie in Deutschland in allen größeren Städten und Industriebezirken haben, selbst da haben, wo die jahrelangen polizeilichen Verfolgungen jede formelle Organisation unmöglich gemacht haben. Auch hierin ist der deutsche Sozialismus dem französischen bereits voraus, ganz abgesehen davon, dass wir heute in Deutschland eine mächtige sozialistische Presse besitzen, wo unsere französischen Brüder erst mit einem Wochenjournal einen mühseligen und beschwerlichen Anfang machen können. Das neuerdings von Felix Pyat gegründete Journal „La Commune“, zu dessen Gründung ihm ein reicher Student in Paris 100.000 Francs gewährt haben soll, können wir nicht als sozialistisches anerkennen, denn Herr Pyat ist kein Sozialist, sondern ein feiger, elender Schwätzer, der Revolutionslungerer comme il faut, wofür sich in Lissagarays Werk die ausreichendsten Beweise finden.

Aber dass ein Félix Pyat wie so viele andere Radikale noch heute in Frankreich möglich sind, dass diese Leute sich sogar auf weite Arbeiterkreise stützen können, das ist eine Erscheinung, in der Frankreich ebenfalls von Deutschland abweicht, wo der Klassengegensatz bereits so schroff geworden, dass eine kleinbürgerliche radikale Partei, abgesehen von wenigen zersprengten Resten, unmöglich ist.

Diese Erscheinung ist so wichtig und für die inneren sozialen Zustände Frankreichs so bedeutungsvoll, dass wir ihr einige Aufmerksamkeit schenken müssen, obgleich damit der bereits überschrittene Rahmen dieser Arbeit noch mehr überschritten wird. Durch Lissagarays Werk zieht sich wie ein roter Faden das große Gewicht, welches er auf die Mitwirkung der radikalen Kleinbourgeoisie für den günstigen Verlauf der Kommunebewegung sowohl in Paris wie in den anderen Städten legt. Wie das oben skizzierte Abstimmungsresultat in Paris dartut, ist diese Macht der Kleinbourgeoisie in Frankreich bedeutend, das zeigt sich auch an der Zahl der radikalen Deputierten, die diese Kleinbourgeoisie, allerdings zum Teil unterstützt von den Arbeitern, in die Versailler Kammer gesandt hat. Dahingegen ist der eigentliche revolutionäre Sozialismus unvertreten. Dies ist ein Gegensatz zu Deutschland, der eine Erklärung dringend notwendig erscheinen lässt.

Diese Erklärung scheint uns darin zu liegen, dass die allgemeine Auffassung, die großindustrlelle Entwicklung sei in Frankreich weiter vorgeschritten als in Deutschland, ein Irrtum ist. Wir haben für diese Ansicht nur wenige Zahlen anzuführen, aber diese Zahlen und die sich daraus ergebenden. Folgerungen scheinen uns durchschlagend zu sein.

Um aber sofort einem etwaigen Missverständnis zu begegnen, sei bemerkt, dass, wenn wir die Ansicht vertreten, die großindustrielle Entwicklung Deutschlands sei heute größer als diejenige Frankreichs, wir dies nur von der Entwicklung der letzten zehn oder fünfzehn Jahre meinen, wohingegen Frankreich früher fast um ein halbes Jahrhundert uns voraus war, woraus sich auch das frühzeitigere Erscheinen des Sozialismus in Frankreich erklärt. Die unleugbare höhere künstlerische Ausbildung des französischen Gewerbes beruht ebenfalls auf dieser frühzeitigen, aber langsamen und stetigen Entwicklung, welche die technische Ausbildung der Arbeitskräfte ermöglichte, sie hat mit unserer Beurteilung vorläufig nichts zu tun.

Es wird keinem Widerspruch begegnen, wenn wir die Ansicht aussprechen, die großindustrielle Entwicklung eines Landes lasse sich in erster Linie nach der Zahl der Dampfmaschinen und Dampfpferdekräfte bemessen, die ein Land aufzuweisen vermag. Der Dampfbetrieb ist das charakteristische Merkmal des modernen Großbetriebes, von seiner Ausdehnung hängt die massenhafte industrielle Produktion eines Landes ab. Diesen Maßstab an Deutschland und Frankreich gelegt, so wird Frankreich von Deutschland weit überflügelt.

Zunächst liegen uns zum Vergleich nur die abgeschlossenen Zahlen der Gewerbezählung für Preußen vor, aber diese lassen einen Schluss auf Deutschland zu und können vollkommen als Maßstab dienen. Und da ergibt sich nun folgendes überraschende Resultat: Im Jahre 1874 hatte Frankreich 20.493 Dampfmaschinen mit 273.303 Pferdekräften in Betrieb, Preußen 1875 aber 23.747 Dampfmaschinen mit 559.062 Pferdekräften; das um 3179 Quadratmeilen und um 12 Millionen Einwohner schwächere Preußen hatte demnach 185 759 Pferdekräfte mehr als Frankreich.

Allerdings erstreckt sich die gewaltige Übermacht Preußens an Dampfpferdekräften ausschließlich auf drei Gewerbe, nämlich Steinkohlenbergbau, Erzbergbau und die mit beiden zusammenhängenden Eisenhütten (Hochöfen und Walzwerke). In diesen drei Industriezweigen beläuft sich der Überschuss der preußischen Pferdekräfte auf 245.675; er ist also um 59.916 Pferdekräfte größer als der absolute Überschuss, den Preußen im Vergleich zu Frankreich an Dampfpferdekräften hat. Mit anderen Worten: In allen anderen Industriezweigen zusammengenommen hat Preußen 59.916 Pferdekräfte weniger als Frankreich.

Allein das Verhältnis ist trotzdem auch in der übrigen Industrie günstiger für Preußen. In den drei erstgenannten Industriezweigen wird Frankreich nie Preußen einzuholen vermögen, weil diese Industrien von Bodenprodukten abhängen, die Frankreich nur in geringem Umfang besitzt, Steinkohlen und Erze. In der übrigen Industrie aber steht Preußen insofern hinter Frankreich auch nicht zurück, als sein Flächenraum 3179 Quadratmeilen kleiner und seine Bevölkerung um zirka 12 Millionen Einwohner geringer ist. Schlagen wir zu dem Gebiete Preußens nur das Gebiet des ehemaligen Norddeutschen Bundes, dessen Flächenraum noch erheblich geringer ist als der Frankreichs und dessen Gesamtbevölkerung ebenfalls um wenigstens 4 Millionen Einwohner kleiner ist als diejenige Frankreichs, so fällt allein die industrielle Entwicklung Sachsens und Thüringens so gewaltig zugunsten Preußens resp. Norddeutschlands ins Gewicht, dass Frankreich nicht mehr den Vergleich damit aushalten kann, wobei also ganz Süddeutschland und das industrielle Elsass-Lothringen gänzlich außer Betracht bleiben. Würde dagegen das jetzige Deutsche Reich, dessen Quadratflächeninhalt nur 329 Quadratmeilen, dessen Einwohnerzahl aber nahezu um 6 Millionen größer ist als diejenige Frankreichs, mit letzterem in Vergleich gestellt werden, so würde sich dieser für Deutschland noch günstiger gestalten, wie denn auch die größere Dichtigkeit der Bevölkerung die raschere Ideenausbreitung begünstigt. Dass die größere Schulbildung auch hierzu beiträgt, wird nicht zu bestreiten sein; auch hat Deutschland bereits Frankreich in der sowohl für die industrielle wie die geistige Entwicklung eines Landes so hochwichtigen Ausdehnung des Eisenbahnwesens überholt.

Diese angeführten Tatsachen dürften den Unterschied in der sozialistischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte in Deutschland und Frankreich schon genügend erklären, aber völlig doch noch nicht, und auch hierfür wollen wir noch die Lösung zu finden suchen.

Wenn Deutschland sich erst in den letzten anderthalb Jahrzehnten in großindustrieller Beziehung so mächtig entwickelte und damit für die sozialistischen Ideen der Weg geebnet wurde, so hatte Frankreich vor Deutschland die jahrzehntelange frühere Entwicklung und eine zahlreiche sozialistische Bücher- und Broschürenliteratur und Übung im politischen Kampfe voraus. Es scheint aber, dass diese zahlreiche und umfassende Literatur nie in die Massen eingedrungen ist, sie erfasste nur die intelligenteren Kreise und entwickelte dort ein zahlreiches und auf die Massen nicht sehr anziehend und nützlich wirkendes Schulen- und Sektenwesen. Die ungeschulten und ungebildeten, von revolutionärem Instinkt erfüllten Massen lieferten nur die Soldaten für die Schlacht, und daher diese fortwährenden Niederlagen ohne jedes Resultat. Die darauf naturgemäß stets folgende wüste Reaktion vernichtete alle vorhandenen organisatorischen Keime, beseitigte die Führer und geistigen Kräfte und zerstörte so in Tagen, was aufzubauen Jahre größter Anstrengung nötig waren.

Diese unfruchtbare, so viele glänzende Talente und hoffungsvolle Keime zerstörende Kampfesweise wird keine besseren Resultate zeitigen, wenn die französischen Sozialisten nicht andere, praktischere Wege wandeln. Das ist unsere feste Überzeugung.

Woher aber rührt die fortdauernde, so auffallende Macht der französischen Kleinbourgeoisie im Vergleich zu jener des deutschen Kleinbürgertums? Sie findet ebenfalls ihren Grund und ihre Erklärung in der eigentümlichen industriellen Entwicklung Frankreichs.

Die französische Industrie hat sich im Vergleich zur deutschen allmählich entwickelt, sagten wir oben. Die Entwicklung war eine natürlichere, rasche Übergänge vermeidende. In Frankreich erlangte das Kleinbürgertum schon die Gewerbefreiheit und die Freizügigkeit, als die Großindustrie noch in den Windeln lag. Die Kleinindustrie hatte daher mehr Zeit, sich den neuen Bedürfnissen anzupassen, sie konnte durch kluge Anwendung der Arbeitsteilung und höhere technische Ausbildung des Arbeiters der sich langsam entwickelnden Großindustrie besser die Spitze bieten. Dazu kam ein geschicktes Zollsystem, das der weit überlegenen englischen Großindustrie es unmöglich machte, ihre vernichtende Konkurrenz mit einem Male auszuüben und so die eigene Industrie zu zwingen, sich treibhausartig zu entwickeln, um gegen die fremde Konkurrenz den Kampf wagen zu können.

Diese Entwicklung war also eine ganz andere als die deutsche. In Deutschland wurden infolge des politischen Zwitterzustandes jahrzehntelang notwendige wirtschaftliche Reformen zurückgehalten, das Bürgertum war in den engen Grenzen verzopft und verknöchert, zum beschränkten Kleinbürgertum zusammengeschrumpft. Daneben hatte sich zwar dennoch eine Großindustrie gebildet, die aber infolge veralteter Schranken sich nicht genügend entwickeln konnte. Als endlich die inneren Schranken wie mit einem Schlage fielen, riss man auch sofort die äußeren nieder. Die Folge war, dass jetzt die großindustrielle Entwicklung plötzlich hereinbrach, dass diese Großindustrie gewaltig sich aufraffen musste, um gegen mächtige auswärtige Großindustrien, die englische, französische, belgische, den Kampf führen zu können. Sie stürzte sich Hals über Kopf in die Vergrößerung hinein, sie raffte die Arbeitskräfte überall zusammen, wo sie dieselben fand, und mit diesen ungeschälten Arbeitskräften sollte sie die Konkurrenz gegen jahrzehntelang geschulte Arbeiterarmeen aufnehmen. Man suchte durch Billigkeit des Produkts zu erreichen, was durch Güte desselben nicht zu erreichen war; daneben entwickelte sich üppig die kurzsichtige Schlauheit des Unternehmeremporkömmlings, der in der Sucht nach raschem Reichtum die Reellität und Gewissenhaftigkeit mit Füßen trat. So entstand der für die deutsche Industrie so zweifelhafte Ruhm, billig und schlecht zu produzieren und nicht reell zu bedienen, der den deutschen Arbeiter zum schlechter bezahlten Proletarier machte als den französischen, das deutsche Kleingewerbe aber seiner raschen Vernichtung entgegenführt.

Die Folge dieser verschiedenartigen Entwicklung ist, dass der französische Mittelstand durchschnittlich weit besser situiert ist und fester wurzelt als der deutsche, dass der französische Arbeiterstand weit zahlreicher noch im Handbetrieb beschäftigt ist als der deutsche, dass die daraus folgende geschicktere Ausbildung und die günstigere Lage des kleinen Unternehmers dem Arbeiter höhere Löhne sichern. Daher kommt es, dass selbst der Pariser Arbeiter auch heute noch weit mehr vom Atelier (der Werkstatt) als von der Fabrik spricht, was bekanntlich bei uns in wenigen Jahren ganz anders geworden ist.

Diese wesentlich veränderte Lage des französischen und des deutschen Kleinbürgers erzeugte selbstverständlich auch andere politische Bestrebungen. Zünftlerische Regungen, die bei uns noch ein so starker Teil der Kleingewerbetreibenden besitzt, weil sie in den alten Verhältnissen sich wohler befanden, in die neuen sich nicht hineinzufinden vermögen, sind dem französischen Gewerbetreibenden vollkommen fremd, sie gehören längst verflossenen Zeiten an, die er nur der Sage nach kennt. So bildet das französische Kleinbürgertum im Gegensatz zum deutschen eine Kleinbourgeoisie und als solche eine feste politische Partei, die in den demokratischen Wahlen, die hie und da selbst einen sozialistischen Anstrich haben, ihren Ausdruck findet. Und der französische Arbeiter, mangels seiner prinzipiellen Schulung und vielfach in einem günstigeren Verhältnis zu dem kleinen Unternehmer stehend, erwärmt sich häufig für diese Kandidaten und gibt ihnen seine Stimme. Die eigentümlichen französischen Agrarzustände entsprechen dieser bürgerlichen Entwicklung in den Städten, So waren kleinbürgerlich-sozialistische Schriftsteller vom Schlage eines Proudhon in Frankreich möglich; sie sind der geistige Ausdruck dieses eigentümlichen ökonomischen Zustandes, wie er nur in Frankreich existiert, in Deutschland aber unmöglich, weil in seinen Grundbedingungen zerstört, und überwunden ist. Einzelne unklare Köpfe mögen sich auch in Deutschland durch anarchistische Kraftphrasen fangen lassen, eine größere Zahl sicher nicht; es läuft wider die Natur der Dinge.

Es lässt sich nicht leugnen, die Grundanschauungen des Rousseauschen Gesellschaftsvertrags spuken heute noch in weiten Kreisen der französischen Gesellschaft, und der Proudhonsche Anarchismus fußt auf denselben; es würde leicht sein, dies nachzuweisen.

Mit dem Ausgeführten haben wir also die volle Erklärung für die auffällige Tatsache, dass in Frankreich, dem Geburtsland des Sozialismus, derselbe bis heute so geringe Resultate erzielt hat und er oft mit einer Parteibildung verquickt ist, die in Deutschland keine Lebensfähigkeit besitzt.

Diese nahe an Stabilität grenzende Entwicklung der Ideen steht auch noch mit einer anderen Tatsache in auffallendster Harmonie, das ist die ungemein langsam fortschreitende Volksvermehrung. Es ist eine schon seit Jahrzehnten konstatierte Tatsache, dass der französische Bauer und der französische Arbeiter grundsätzliche Malthusianer sind, womit wir nicht aussprechen, dass das malthusianische Rezept als solches in Frankreich gelehrt wird. Während die Zahl der Ehen im Steigen ist, ist die Zahl der auf eine Ehe kommenden Kinder im Abnehmen. Während in England die Zahl der Bevölkerung sich ungefähr in 53 Jahren, in Deutschland in 70 Jahren verdoppelt hat, bedarf sie nach den bisherigen Erfahrungen in Frankreich wenigstens 150 Jahre, obgleich die Auswanderung aus Deutschland und England sehr bedeutend stärker ist als aus Frankreich. Diese geringfügige Entwicklung der Volkszahl, zusammengestellt mit der unleugbaren Tatsache, dass das französische Volk sich auf sich selbst mit Vorliebe zurückzieht, wenig nach dem Ausland wandert und reist und nur schwer und ungern sich mit fremden Sprachen und Volkszuständen beschäftigt, dabei aber häufig eine übertrieben günstige Meinung von sich selbst hat, scheinen uns, namentlich für seine geistige Entwicklung, bedenkliche Merkmale zu sein, die, zusammengehalten mit all den von uns dargelegten Tatsachen und daraus hergeleiteten Räsonnements, den heutigen Zustand des Sozialismus in Frankreich vollkommen erklären.

Indem wir von der Besprechung des Lissagarayschen Werkes ausgingen, sind wir unwillkürlich zu einer Besprechung der inneren Entwicklung Frankreichs gelangt. Der Leser wird hoffentlich darüber nicht erzürnt sein; es ist notwendig, dass der deutsche Sozialismus sich über die Entwicklung seiner Ideen in seinem wichtigsten und vorgeschrittensten Nachbarstaat nicht täuscht.

Wir empfehlen schließlich noch einmal jedem das Lissagaraysche Werk, weil es eine Ehrenrettung der hart verleumdeten und beschimpften Kommune ist, ohne ihre Fehler und ihre Schwächen, die nicht Fehler und Schwächen der Menschen, sondern der Zustände waren, zu verschweigen.

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