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Karl Kautsky 19051219 Bernstein und kein Ende

Karl Kautsky: Bernstein und kein Ende

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 1. Band (1905-1906), Heft 14 (27. Dezember 1905), S. 470-472]

Genosse Bernstein sendet uns nochmals eine Richtigstellung, deren Veröffentlichung er von uns fordert. Sie lautet:

Ich begreife es, dass die Kontroverse Kautsky nicht mehr „belustigt", sie macht auch mir kein sonderliches Vergnügen. Aber nachdem mein Versuch, Kautsky durch Vorführung seines eigenen Briefes zur Anerkennung der Wahrheit zu bewegen, noch nichts gefruchtet hat, kann ich nicht umhin, ihn noch einmal zu „langweilen".

Zunächst muss ich es entschieden bestreiten, dass die von mir erbrachten Zitate aus Kautskys Briefen vom 21. November 1895 und 13. Oktober 1896 Kautskys Darstellung in Nr. 5 der „Neuen Zeit" einfach bestätigen. Dort hatte Kautsky geschrieben, er sei nach Engels' Tode mit dem „Gedanken umgegangen", meine Mithilfe für die Herausgabe des vierten Bandes zu „gewinnen". Davon steht aber nichts in seinem an mich gerichteten Briefe vom 21 November 1895. In diesem unmittelbar nach Engels' Tode geschriebenen Briefe, wo noch die Verfügungen des Verstorbenen frisch in unser aller Gedächtnis lebten, ladet mich Kautsky nicht etwa ein, ihm bei einer ihm übertragenen Arbeit zu helfen, sondern er entwickelt – ich bitte das Briefstück nachzulesen – einen Vorschlag, wie wir es mit einer uns gemeinsam übertragenen Arbeit halten sollen. Von einer Einladung zur Mithilfe steht in diesem, hier doch entscheidend ins Gewicht fallenden Briefe keine Silbe.

Aber der Brief Engels' an Frau Lafargue, den Kautsky jetzt produziert. spricht der nicht gegen meine Darstellung? Soweit ihn Kautsky zitiert und wie er ihn interpretiert, möchte es allerdings so scheinen. Tatsächlich aber liegt hier, wofür ich zwingende Beweisstücke in der Hand habe, ein chronologischer Irrtum Engels' vor. Nach Kautskys Darstellung habe Engels ihn 1887 in die Marxsche Handschrift eingeweiht und ihm, bevor er – im Frühjahr 1888 – von London verzog, das Marx-Manuskript mitgegeben. Wohlan, ich bin in der Lage, auf das Bestimmteste zu erklären, dass dem nicht so ist. Der Engelssche Brief, wegen dessen Veröffentlichung Kautsky mich am 13. Oktober 1896 befragte, war kein beliebiges Schreiben, worin beiläufig von der uns eventuell zufallenden Aufgabe gesprochen wird, sondern eine sehr ausführliche Darlegung der Gründe, die Engels zu dem Entschluss brachten, Kautsky und mich in die Marxsche Handschrift einzuarbeiten, sowie der – rein äußerlichen – Gründe, warum Kautsky den Anfang machen sollte. Dieser Brief war, ich wiederhole es, im Januar 1889 verfasst, konnte gar nicht früher verfasst sein, weil eben in Verbindung mit dem obigen Vorschlag auch die Frage von Kautskys Rückübersiedlung nach London darin erörtert wird. Engels' Irrtum im Briefe vom Dezember 1894 rührt daher, dass Kautsky im Frühjahr 1889 wiederum einige Monate in London lebte, wo allerdings dann die Sache mündlich weiter geführt wurde.

Es wird mir schwer, zu glauben, dass all das Kautskys Gedächtnis entschwunden sein sollte, da es mit Vorgängen in Verbindung steht, die man nicht so leicht vergisst. Immerhin, irren ist menschlich. Aber ich denke, dass nach dieser Auseinandersetzung Kautsky sich nun endlich dazu entschließen wird – so schwer ihm solches Eingeständnis auch werden mag – seinen Irrtum zu bekennen. Was ich in dieser Kontroverse geschrieben habe, stützt sich nicht auf bloßes Erinnern, ich habe für alles die zuverlässigsten urkundlichen Beweisstücke in der Hand. Zu ihnen gehört unter anderem ein Brief Kautskys an mich vom 29. Mai 1895, also dem Vorabend von Engels' Tode, auf dem bis zur Evidenz hervorgeht. dass auch damals noch nicht die Rede davon war, dass Kautsky den vierten Band „Kapital" herausgeben solle.

Engels hat keinerlei Verfügung dieser Art getroffen, er hat nur wiederholt Kautsky und mich als die für die Herausgabe geeigneten Personen bezeichnet. Wie es kam, dass er Kautsky zuerst in die Marxsche Handchrist einweihte, ist im Vorstehenden dargelegt. Dass Kautsky selbst noch nach Engels' Tode daraus nicht den Schluss ableitete, er sei der speziell für die Herausgabe Auserwählte, zeigt sein Brief an mich vom 21. November 1895. All das ist für die Frage, ob er die Herausgabe gut besorgt hat, gewiss recht gleichgültig, und ich glaube ihm keinen Anlass gegeben zu haben, sich über mein Urteil in dieser Hinsicht zu beschweren. Aber nicht gleichgültig ist es für die Frage, aus welchem Geiste heraus später die Ignorierung meiner Person erfolgte. Und wenn ich mir alle Rechte streitig machen lasse, das Recht. dies festzustellen, lasse ich mir nicht nehmen.

Schöneberg-Berlin, 15. Dezember 1905

Ed. Bernstein.

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Die Hartnäckigkeit Bernsteins in dieser so belanglosen Affäre grenzt an Querulantentum. Irgend eine neue Tatsache enthält seine jüngste Einsendung nicht, sondern nur den dunklen Hinweis auf „zuverlässigste urkundliche Beweisstücke", darunter einen Brief, den Engels im Januar 1889 an mich gerichtet haben soll, dessen ich mich absolut nicht entsinne und der unter meinen Briefen nicht zu finden, der also wahrscheinlich nie geschrieben worden oder einen ganz anderen Inhalt hatte, als Bernstein annimmt. Diese Beweisstücke sollen nachweisen, dass nicht nur ich, sondern auch Engels sich geirrt, und zwar schon 1894, wenn er glaubte, mich 1887 in das Manuskript eingeweiht zu haben. Außerdem bringt Bernstein noch eine von der meinen abweichende Deutung meines Briefes an ihn vom 21. November 1895 vor, in dem er nicht eine Einladung zur Mithilfe sieht, sondern die Anerkennung „einer uns gemeinsam übertragenen Arbeit".

Das letztere ist falsch, dagegen ist wohl richtig, dass der Brief nicht eine Einladung zur Mithilfe enthielt. Diese Einladung muss schon früher erfolgt sein, denn bereits am 4. September 1895 schrieb mir Bernstein:

Zunächst ist es selbstverständlich, dass ich mit der größten Freude bereit bin, bei der Herausgabe des vierten Bandes und was sonst noch vorhanden, mich nach Möglichkeit zu beteiligen." Das ist offenbar die Beantwortung einer Einladung und nicht die Geltendmachung des Anspruchs auf eine uns „gemeinsam übertragene Arbeit".

Ich führte daraufhin aus, wie ich mir die gemeinsame Arbeit denke, aber Bernstein legte kein allzu großes Gewicht darauf. Er spricht in den späteren Briefen von der Herausgabe immer nur als von meiner Aufgabe, so 23. Dezember 1895: „Ich glaube, es geht ganz gut. dass Du hier (in London) die Vorarbeiten für den vierten Band usw. machst und die Hauptsache dann in Stuttgart verarbeitest." Ich ging damals mit dem Plane um, die Redaktion der „Neuen Zeit" wenigstens vorübergehend niederzulegen, um Zeit für die Herausgabe des Marxschen Manuskriptes zu gewinnen und nach London zu gehen. Das konnte ich aber nur, wenn ich dort festen Boden unter den Füßen hatte. Da schrieb mir Bernstein, 30. April 1896, er habe Eleanor Marx vorgeschlagen, an den Verleger des Werkes, den sie zu jener Zeit ins Auge gefasst, einen Brief zu schreiben, in dem es unter anderem heißen sollte – ich zitiere wörtlich auf dem Bernsteinschen Briefe:

Das jetzt vorliegende Manuskript kann nach Engels' eigenem Briefe nur K. K. bearbeiten, und er ist kein wohlhabender Mann, sondern auf den Ertrag seiner Feder angewiesen. Darum sehe ich mich genötigt. für dieses Manuskript um … Bedingungen zu ersuchen, die es Kautsky möglich machen, hierher zu übersiedeln und sich der sehr viele Zeit in Anspruch nehmenden Arbeit zu widmen."

Indes kam es anders. Meine Übersiedlung nicht nach London, sondern nach Berlin wurde um diese Zeit beschlossen. Da schrieb mir Bernstein, 13. Mai 1896: „Den vierten Band und sonstigen Nachlass wirst Du, denke ich, mit Hilfe wiederholter Abstecher nach hierher, die ja von Berlin aus weniger umständlich und kostspielig sind als von Stuttgart, ganz gut in Berlin machen können." Man sieht, trotzdem ich Bernstein die Mitarbeit an der Herausgabe angeboten und er sich bereit erklärt, sich „nach Möglichkeit dabei zu beteiligen", ist später bei ihm selbst immer nur von der Herausgabe durch mich die Rede.

Bernstein hat also keine Ursache, sich über die „spätere Ignorierung" seiner Person zu beschweren. Sollte er doch noch das Bedürfnis dazu fühlen, dann muss ich ihn schon bitten, alle weiteren Dokumente zu dieser weltbewegenden Frage einer anderen Zeitschrift einverleiben zu wollen. Die „Neue Zeit" kann unmöglich noch mehr Platz dazu hergeben. Nur um unseres sachlichen Gegensatzes willen, der mich zum äußersten Entgegenkommen veranlasst, um alles zu vermeiden, was als persönliche Voreingenommenheit erscheinen könnte, habe ich diesmal noch Bernsteins Einsendung veröffentlicht. Jedem Freunde oder neutralen Genossen gegenüber hätte ich bereits früher zu verstehen gegeben, dass derartige gleichgültige Streitfragen nicht ins Endlose ausgesponnen werden dürfen.

19. Dezember 1905

K. Kautsky.

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