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Karl Kautsky 19050531 Der Kongress von Köln

Karl Kautsky: Der Kongress von Köln

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 23.1904-1905, 2. Band.(1904-1905), Heft 36, S. 309-316, 31. Mai 1905]

Der Gewerkschaftskongress hat manche Enttäuschung gebracht, vor allem für jene Biedermänner, die da hofften, er werde das Tischtuch zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaft zerschneiden und beide Teile des proletarischen Klassenkampfs voneinander isolieren, also gerade das tun, was, wie diese falschen Freunde der Gewerkschaften wohl wissen, die Kraft des Proletariers in diesem Kampfe am empfindlichsten schwächen müsste. So innerlich schwach die Gewerkschaften dort sind, wo nicht sozialistischer Geist sie beseelt, so unsicher die Kraft der Sozialdemokratie dort, wo nicht die festgefügte Massenorganisation der Gewerkschaften hinter ihr steht.

Nun, zu dem erwarteten Abrücken der Gewerkschaften von der Partei ist es nicht gekommen. Deswegen brauchen wir aber auch noch nicht einen Triumphgesang anzustimmen. Gar mancher Misston ließ sich in Köln vernehmen, der jeden Verfechter eines innigen Zusammenwirkens der beiden Arme der proletarischen Bewegung peinlich berühren musste.

Freilich, wenn man die beiden Punkte, die für die Darlegung des politischen Denkens und Verhaltens der Gewerkschafter Deutschlands diesmal am charakteristischsten waren, bloß nach den gefassten Beschlüssen beurteilen wollte, ließe sich nicht viel darüber sagen. Über die Maifeier wurde überhaupt kein Beschluss gefasst, um dem nächsten internationalen Kongress nicht vorzugreifen; es bleibt da bis auf weiteres wenigstens formell alles beim Alten.

Über den Generalstreik aber wurde eine Resolution angenommen, von der der Referent, Genosse Bömelburg, selbst sagte, dass sie zu nichts verpflichte. In der Tat sagt sie über die Bedeutung des Massenstreiks für den proletarischen Emanzipationskampf gar nichts. Sie erklärt bloß:

Auch die Taktik für etwa notwendige Kämpfe solcher Art hat sich nach den jeweiligen Verhältnissen zu richten.

Der Kongress hält daher auch alle Versuche, durch die Propagierung des politischen Massenstreiks eine bestimmte Taktik festlegen zu wollen, für verwerflich, er empfiehlt der organisierten Arbeiterschaft, solchen Versuchen energisch entgegenzutreten."

Damit wird höchstens die Propagierung des politischen Massenstreiks abgelehnt. Aber man könnte die Resolution auch dahin auslegen, dass sie bloß jene Bestrebungen treffen wolle, die durch diese Propagierung eine „bestimmte Taktik festlegen" wollen. Damit würde sie freilich gegenstandslos, da es irgendeinen ernsthaften Politiker nicht gibt, der die Propaganda des politischen Massenstreiks in diesem Sinne betreibt.

Oder soll der Satz der Resolution so gemeint sein, dass die Festlegung einer bestimmten Taktik schon in dem bloßen Verlangen liegt, den politischen Massenstreik als eine Waffe zu betrachten, die eventuell notwendig werden könnte und mit der wir uns daher schon heute vertraut machen müssen? Wenn ich mir einen Revolver kaufe und mich mit seiner Handhabung vertraut mache, um, sollte ich einmal von einem Rowdy attackiert werden, ihm nicht wehrlos gegenüberzustehen, lege ich mich damit auf eine bestimmte Taktik fest oder erlange ich damit nicht vielmehr größere Freiheit in meiner Taktik?

Ebenso wenig wie die Resolution sagt uns das Referat Bömelburgs, was wir vom politischen Massenstreik zu halten haben. Er verurteilt ihn nicht unbedingt, wenigstens nicht in seinem Schlusswort, wo er sagt:

Die Resolution denkt nicht daran, die Propagierung des Generalstreiks für verwerflich zu erklären. Sie legt die Gewerkschaften auch nicht unter allen Umständen gegen den Generalstreik fest. Sie protestiert nur gegen die Festlegung der Gewerkschaften auf den Generalstreik. Es war bisher nicht üblich, die Taktik für fernere Kämpfe im voraus festzulegen (Sehr wahr!), und das darf auch in Zukunft nicht sein. (Sehr wahr!) Wenn Sie ein Kampfmittel unwirksam machen wollen, so brauchen Sie nur seine Anwendung vorher festzulegen."

Wer wird nicht die „Sehr wahrs" zu diesen Ausführungen um sein „Sehr wahr" vermehren wollen? Bloß wer mit diesen Wahrheiten getroffen werden, wer sie geleugnet haben soll, ist nicht recht klar. Aber einen Sinn haben diese Ausführungen doch nur dann, wenn man den Generalstreik zu den wirksamen Kampfesmitteln rechnet, die nur dadurch unwirksam werden, dass man ihre Anwendung vorher festlegt.

Im Referat aber erklärt Bömelburg:

Der Massenstreik erscheint mir als ein äußerst zweifelhaftes Kampfmittel." Und früher schon:

Die Propaganda so unsinniger Ideen (des anarchistischen Generalstreiks) im Proletariat ist recht gefährlich, weil sie von dem langsamen Vorwärtsschreiten ablenken, mit dem wir allmählich das Ziel der Arbeiterbewegung erreichen. Deshalb bedaure ich, dass im Gegensatz zu den früheren Beschlüssen der internationalen Kongresse von Zürich und London der Amsterdamer Kongress den ausgedehnten Streik in einzelnen wichtigen Betriebszweigen als das äußerste Mittel anerkannt hat, um bedeutende wirtschaftliche Veränderungen herbeizuführen oder sich reaktionären Anschlägen auf die Volksrechte zu widersetzen. Ich sehe darin nur eine sehr bedauerliche Konzession an den Generalstreik" – das heißt den Generalstreik im anarchistischen Sinne, diese „unsinnige und gefährliche Idee".

Lehnt also Bömelburg die Amsterdamer Resolution ab? Aber was besagt diese? Sie erklärt „den absoluten Generalstreik in dem Sinne, dass alle Arbeit niedergelegt wird, für undurchführbar, weil derselbe jede Existenz, also auch die des Proletariats, unmöglich macht". Ferner betont sie, „dass die Emanzipation des Proletariats nicht das Resultat einer derartigen, plötzlichen Kraftanstrengung sein kann, dass es aber möglich ist, dass ein Streik, der sich über einzelne, für das Wirtschaftsleben wichtige Betriebszweige oder über eine große Anzahl Betriebe ausdehnt, ein äußerstes Mittel sein kann, um bedeutende gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen oder sich reaktionären Anschlägen auf die Rechte der Arbeiter zu widersetzen", und warnt „die Arbeiter davor, sich durch die von anarchistischer Seite betriebene Propaganda für den Generalstreik ins Schlepptau nehmen zu lassen, die den Zweck hat, sie von der so wichtigen gewerkschaftlichen, politischen und genossenschaftlichen Kleinarbeit des Tages abzuhalten". Endlich fordert sie die Arbeiter auf, ihre Organisationen zu stärken, „weil, sollte der Streik mit einem politischen Ziele sich einst als nötig und nützlich herausstellen, sein Gelingen von der Kraft der Organisationen abhängen wird".

Wo in aller Welt steckt hier die „bedauerliche Konzession" an die „unsinnigen Ideen" des anarchistischen Generalstreiks? Wo das Festlegen auf die Anwendung eines bestimmten Kampfmittels? Von alledem, was Bömelburg gegen den politischen Massenstreik sagte, trifft nichts, gar nichts die Amsterdamer Resolution. Er selbst erklärte denn auch in seinem Schlusswort, seine Resolution kollidiere nicht mit der Amsterdamer. Warum dann aber das Bedauern über die Annahme dieser letzteren Resolution?

Bei einem so gewiegten und erfahrenen Politiker wie Bömelburg darf man diese Widersprüche und Unklarheiten nicht einfach aus einem Denkfehler ableiten. Auch hat er sich ihrer nicht allein schuldig gemacht, sondern mit ihm die Mehrheit des Kongresses, die sein Referat ebenso begeistert aufnahm wie seine Resolution. Hier haben wir Widersprüche und Unklarheiten, die, unabhängig vom Denken des Einzelnen, in dem Widerspruch zwischen den Erfordernden der allgemeinen Situation und den besonderen Bedürfnissen der Gewerkschaften begründet sind. Die allgemeine Situation macht den politischen Massenstreik immer notwendiger. Aber die besonderen Bedürfnisse der Gewerkschaften liefern ein mächtiges Motiv gegen ihn.

Dieses Motiv, das die Antipathie der Mehrheit der Gewerkschafter gegen den Generalstreik hervorruft, hat Bömelburg selbst ausgesprochen in einem Passus, der gleichzeitig eine Quintessenz seiner Widersprüche bietet:

Das sind Argumente, die gegen die Anwendung des Generalstreiks überhaupt sprechen.A Aber wir haben keine Veranlassung zu sagen, dass er nie angewendet werden wird.B Die Entscheidung über eine solche Frage schiebt man am besten auf.C (Vielfache Zustimmungsrufe, die fast jeden Satz des Redners bis zum Schlusse begleiten.) Wir können über den politischen Massenstreik sehr viel diskutieren, aber nur müssen uns ernsthaft überlegen, ob wir ihn anwenden. Und aus der deutschen Gewerkschaftsbewegung muss auch die Diskussion über den Generalstreik verschwinden. Welch ungeheure Mühe, welch ungeheure Opfer hat es gekostet, bis die deutsche Gewerkschaftsbewegung die jetzige hohe Stufe ihres Könnens und ihrer Macht erreichte. Sie ist die Frucht mühsamer Arbeit von drei bis vier Jahrzehnten. Zum Weiterstreben bedürfen wir der Ruhe. Aber da setzen sich die Literaten hin und schreiben und schreiben.“

Die verfluchten Literaten! Könnte man ihnen nicht das „Schreiben und Schreiben" verbieten? Scheint es doch, als wären sie die einzigen Störer der Ruhe, deren die Gewerkschaften ebenso dringend bedürfen wie Europa.

Bömelburg glaubt natürlich nicht, dass die Literaten durch ihre Diskussionen über den Generalstreit die Stürme entfesseln, in denen dieser Streik notwendig werden könnte. Er fragt selbst, was wir anfangen sollen, wenn man uns unsere primitivsten Rechte raubt. Aber die Antwort darauf macht er sich gar zu leicht.

Wir werden dann im Kampfe die Mittel anwenden, die wir als zeitgemäß betrachten. Und wenn uns die Reaktionäre trotzdem das Wahlrecht nehmen, glauben Sie. dass wir dann am Ende unseres Lateins sind? (Vielfache Zurufe: Nein, noch lange nicht!) Und wenn man uns auch noch das Koalitionsrecht nähme, glauben Sie, wir wären dann am Ende unseres Lateins? (Erneute Zurufe.) Heute hat das Gefühl in der Arbeiterschaft Wurzel gefasst. dass wir ungerecht behandelt werden. Wir wissen, was wir für Menschenrechte haben, und keine Reaktion wird imstande sein, diesen Gedanken in der Bevölkerung auszurotten. Wenn wir die Organisationen stärken und ihre Mitglieder zu klassenbewussten, überzeugungstreuen Genossen erziehen, können wir mit ruhigem Mute der Zukunft entgegensehen."

Das ist sehr tapfer gesprochen und ist auch ganz richtig, bildet aber keine Antwort auf die Frage, die er selbst stellt: Was werden wir anfangen, wenn man uns unsere Rechte raubt? „Wir werden dann nicht am Ende unseres Lateins sein," erwidert unter lebhaftem, andauerndem Beifall Bömelburg.

Die Haltung des Gewerkschaftskongresses in dieser Frage erinnert etwas an die der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 und 1849. Gleich nach ihrem Zusammentritt verlangten die energischen, namentlich proletarischen Elemente, sie solle sich der nötigen Machtmittel versichern, um den unvermeidlichen Konflikt mit den Regierungen ausfechten zu können. Aber die Nationalversammlung fand, sie brauche nicht Machtmittel, sondern Ruhe; dadurch werde sie den Konflikten am ehesten entgehen. Sollten aber die Regierungen es wagen, sie anzutasten, dann – ja dann wäre sie noch lange nicht am Ende ihres Lateins, dann würde sie an die unwiderstehliche Freiheitsliebe des deutschen Volkes appellieren.

Trotz aller Nachgiebigkeit der Nationalversammlung brach schließlich doch der Konflikt über sie herein, und damit wurde auch der Appell an den Aufstand notwendig. Aber unvorbereitet und kopflos kam dieser mit seinem Latein nicht über die ersten Buchstaben hinaus. Das Ruhebedürfnis der Nationalversammlung sicherte nicht die Ruhe und schon gar nicht den Sieg, es bewirkte bloß, dass die zahlreichen Opfer, die der Aufstand schließlich kostete, umsonst fielen.

Das Ruhebedürfnis der Mehrheit unserer heutigen Gewerkschaften geht aber noch weiter als das der Frankfurter Nationalversammlung. Diese lehnte es ab, sich eine eigene Armee zu schaffen, also einen entschieden revolutionären Akt zu vollziehen, eine Kriegserklärung an die Regierungen zu erlassen. Der Referent des Kölner Kongresses dagegen erklärte unter allgemeinem Beifall, im Interesse der Ruhe, deren die Gewerkschaften bedürfen, müsse auch schon die bloße „Diskussion über den Generalstreik verschwinden". Man verlangt von ihnen nicht, sie sollen in kühner Tat ein Machtmittel erobern, sondern nur ein Machtmittel diskutieren, das in künftigen Kämpfen anwendbar werden könnte. Aber ihr Ruhebedürfnis ist so stark, ihre Abneigung gegen größere Kämpfe so groß, dass es ihnen gefährlich erscheint, wenn ihre Mitglieder auch nur besonderes Nachdenken über solche Kämpfe aufwenden. Im Grunde war es dieses Nachdenken, was in Köln verpönt wurde. Die Resolution des Kongresses erklärt nicht die eventuelle Anwendung des Generalstreiks für verwerflich, wohl aber seine Propagierung.

Zum Weiterstreben bedürfen die deutschen Gewerkschaften der Ruhe." Mit diesem Worte hat Bömelburg das Leitmotiv des Kölner Kongresses ausgesprochen. Es zieht sich nicht bloß durch seine Verhandlungen über den Generalstreik, sondern auch durch die über die Maifeier, wo das Ruhebedürfnis mitunter geradezu die Form der Erbitterung gegen die Sozialdemokratie annahm, die durch ihre Aktionen dies Bedürfnis so unangenehm durchkreuzt.

Beim Generalstreik handelt es sich vorläufig, wenigstens in Deutschland, nur um die Zukunft, bei der Maifeier um die Gegenwart; dort bisher noch um theoretische Propaganda, hier um praktische Durchführung. Dort um bloße Gedanken, die nicht nur zollfrei, sondern auch ganz umsonst zu haben sind, hier um eine Demonstration, die jedes Jahr einen Griff in die Kassen erheischt, ohne die geringste sofortige Lohnerhöhung zu bewirken. So musste gerade in jenen Nurpraktikern, die bloß dem praktischen Bedürfnis des Augenblicks leben, der Widerspruch zwischen dem besonderen Verlangen nach Ruhe der Gewerkschaften und dem allgemeinen Klassenkampf bei der Maifeier noch viel schärfer zutage treten, als bei den Diskussionen über den Generalstreik.

Kein Zweifel, diese Widersprüche und Gegensätze sind der Sache des Proletariats nicht sehr förderlich; und die Tendenzen, die dabei zutage treten, wären höchst bedenkliche, wenn sie konsequent weiterentwickelt würden. Sie führten direkt dorthin, wo heute die englischen Gewerkschafter stehen, mit ihren großen Kassen und ihrer ebenso großen Impotenz und Apathie, ihrem krankhaften Ruhebedürfnis, das sie die schlimmsten Demütigungen und Entrechtungen ruhig hinnehmen lässt, und ihrem hochgradigen Krämersinn, der jede Aktion verabscheut, die sich nicht sofort in klingender Münze bezahlt macht.

Indes ist zu einer so pessimistischen Auffassung nicht der mindeste Grund vorhanden. Denn so real diese Tendenzen auch sein mögen, sie stoßen zum Glück in Deutschland auf noch stärkere Gegentendenzen, die in England in den Jahrzehnten nach dem Erlöschen des Chartismus fehlten. Wir meinen damit nicht persönliche Gegentendenzen, den Widerstand einzelner Personen.

Man tut überhaupt gut, bei derartigen Untersuchungen das persönliche Moment möglichst auszuschalten. Natürlich kann man die einzelnen sozialen Tendenzen nur an dem Wirken bestimmter Personen erkennen. Aber wenn man auf Reden und Taten dieser Personen hinweist, so geschieht es nur, um an ihnen die Symptome allgemeiner Tendenzen anzuzeigen, nicht aber, um diese Personen dafür besonders verantwortlich zu machen.

Wenn unter den deutschen Gewerkschaftern sich anglisierende Tendenzen bemerkbar machen, so liegt das nicht an einzelnen Führern, sondern an dem Wesen der Gewerkschaft selbst. Je größer eine solche Korporation, desto weitertragender auch die Konsequenzen jedes ihrer Schritte, desto mehr hat sie bei jeder Niederlage zu verlieren, desto schwerer die Verantwortlichkeit, die auf ihren Beamten lastet. Das gilt in gewissem Sinne auch für die Partei, macht sich aber in der Gewerkschaft viel mehr geltend, einmal weil sie weniger unter dem Zwange der politischen Situationen steht, die immer wieder neue Kämpfe erzeugen, denen die Partei nicht ausweichen kann, während die Gewerkschaft freier ist in der Wahl ihres jeweiligen Kampffeldes und des Kampfobjektes. Dann aber, weil bei der Gewerkschaft jeder Misserfolg sofort viel greifbarere Nachteile nach sich zieht. Vor allem aber deswegen, weil die Grundlage der Kraft der Partei fast ausschließlich in der Zahl und der Qualität ihrer Mitglieder, ihrer Intelligenz, ihrem Opfermut, ihrer Disziplin ihrer Rücksichtslosigkeit. ihrer Kampfesfreudigkeit beruht, während bei den Gewerkschaften daneben noch in großem Maße ihre Kassen in Betracht kommen. Der Besitz macht aber immer ruhebedürftig, der kollektive ebenso wie der private, ja jener fast mehr noch als dieser. Denn der Privatbesitz kann durch kühnes Wagen gewinnen, das ist beim kollektiven fast immer ausgeschlossen.

In dieser Wirkung des Besitzes ist die Achillesferse von Gewerkschaften und Genossenschaften zu finden.

Das entscheidende Machtmittel des kämpfenden Proletariats wird stets die überlegene Zahl und Qualität seiner Menschen bilden, nie ihr Besitz. Der Glaube, das Proletariat könne jemals durch seine Geldmittel dem Kapital auch nur unbequem werden, ist der schlimmste Köhlerglaube, den es gibt. Selbstverständlich, ganz ohne Geld geht's in der kapitalistischen Gesellschaft nirgends; und je mehr Geld die proletarischen Organisationen haben, um so kraftvoller sind sie – solange jene moralischen Qualitäten ihrer Mitglieder darunter nicht leiden, auf denen die Stärke jeder proletarischen Organisation beruht. Wird deren Besitz – so klein er auch sein mag, im Verhältnis zu den Geldkräften des Kapitals – so einflussreich, dass er anfängt, die Rücksichtslosigkeit und Kampfesfreudigkeit ihrer Mitglieder zu verringern, dann fängt er an, aus einem Element der Stärke eines der Schwäche zu werden, dann fängt er an, die Wurzeln der Kraft dieser Organisationen zu untergraben. So kann auch eine Armee ohne Train nicht auskommen. Nimmt dieser aber solche Dimensionen an, dass er ihre rasche Beweglichkeit hindert, dann kann er direkt die Ursache von Niederlagen werden, muss er auf jeden Fall ihre Schlagkraft einschränken.

Das sind Faktoren, die unabhängig sind vom Wollen und Wünschen der Einzelnen, die aber ihrerseits ihr Wollen, Wünschen und Handeln, ihre Taktik und ihre Prinzipien aufs Stärkste beeinflussen müssen.

Wenn heute so gute Parteigenossen und energische Kämpfer, wie Bömelburg, erklären, was die deutschen Gewerkschaften jetzt brauchen, sei Ruhe, das heißt mit anderen Worten, sie müssten darauf verzichten, weitere erhebliche Eroberungen zu machen und sich im Wesentlichen auf die Behauptung des Gewonnenen beschränken, so sehen wir darin das, wenn auch vielleicht noch unbewusste Geständnis dafür, dass der wachsende Besitz der deutschen Gewerkschaften anfängt, ihre Kampfesfreudigkeit und Rücksichtslosigkeit einzuengen, dass die Gewerkschafter anfangen, mehr Gewicht auf die Fülle der Kassen als auf die moralische Qualität der Massen zu legen. Nur jene Fülle kann durch Ruhe gewinnen, nie diese Qualität.

Diese Tendenz wird noch verstärkt durch das Wachstum der Unternehmerverbände, wodurch das Gebiet immer mehr eingeengt wird, auf dem die gewerkschaftliche Aggressive nach der bisherigen Methode noch Erfolg verspricht. Es wächst das Gebiet, aus dem man entweder mit der Behauptung des Errungenen zufrieden sein oder zu neuen Methoden des Kampfes übergehen muss.

Aber so sehr dieses letztere Moment augenblicklich das Ruhebedürfnis der Gewerkschaften verstärken mag, gerade darin liegt einer der Faktoren, die es unmöglich machen, dass dieses Ruhebedürfnis im deutschen Gewerkschafter die Denkweise des englischen einwurzeln lässt.

Die englische Entwicklung wiederholt sich nicht. In England selbst waren die Verhältnisse, die zur gewerkschaftlichen Stagnation führten, nur ausnahmsweise und vorübergehende. Sie haben freilich lang genug gedauert, um heute noch die englischen Arbeiter kampfunfähiger zu machen, als man für möglich halten sollte, und um immer wieder jeden zu enttäuschen, der erwartet, die Peitschenhiebe der Herren Englands würden seine Proletarier aus ihrem Schlummer erwecken. Aber man darf sicher sein: wären die Kapitalisten und Regierungen Englands zur Zeit der Internationale so arbeiterfeindlich gewesen, wie sie es heute sind, trotz aller vollen Kassen und allen Ruhebedürfnisses aller vorsichtigen Kassenbeamten hätte sich damals aus den englischen Gewerkschaftern eine kraftvolle und kampfeslustige sozialdemokratische Partei gebildet, die heute vielleicht an der Spitze der neuen Internationale marschierte. An persönlicher Intelligenz und Tatkraft fehlt es dem britischen Arbeiter wahrlich nicht. Nur die Ungunst der Verhältnisse ließ ihn politisch entarten – das heißt jene Ungunst, die man gewöhnlich als die Gunst der Verhältnisse bezeichnet, die den Gewerkschaftern etwas von der Ruhe erlaubte, nach der sie verlangten, als sie stark geworden waren.

Ist es heute selbst in England mit diesen schönen Zeiten vorbei, so sind sie außerhalb Englands erst recht völlig ausgeschlossen. Und niemals tritt das deutlicher zutage als im jetzigen Augenblick.

Vor wenigen Jahren mussten wir uns mit den Revisionisten noch über jene Frage herum streiten, die den Kern unseres Gegensatzes zu ihnen bildete: über die, ob die Klassengegensätze sich verschärfen oder mildern. Heute wird es niemand mehr einfallen, diese Frage diskutieren zu wollen, wo die nächstliegenden Tatsachen sie auf Schritt und Tritt auch für den Kurzsichtigsten beantworten.

Es bildet eine sonderbare Ironie des Schicksals, dass auf dem Gewerkschaftskongress das Bedürfnis der Gewerkschaften nach Ruhe in einem Jahre proklamiert wird, das revolutionärer ist als irgend eines seit einem Menschenalter. Es wird proklamiert fast in derselben Woche, in der die Streiks in Warschau. und Chicago den Charakter von veritablen Bürgerkriegen angenommen haben: in Russland die Empörung gegen den Absolutismus des Zaren, in Amerika die Revolte gegen den Absolutismus des Trust. Man sage nicht, das vollziehe sich unter Verhältnissen, die uns nichts angehen. Kein Regime in Europa steht dem russischen so nahe wie das deutsche; und nirgends in Europa sind die Unternehmerverbände so stark wie in Deutschland. Haben wir in Deutschland nicht einen so nackten Despotismus wie in Russland, keine so starken und brutalen Trusts wie in Amerika, so haben wir dafür eine ausgiebige Mischung beider.

Und der Ruf nach Ruhe für die Gewerkschaften erscholl in Köln fast zur selben Stunde, als in Hamburg der Wahlrechtsraub praktiziert und offen erklärt wurde, das Wahlrecht müsse stets so gestaltet werden, dass es das Proletariat von der Mehrheit ausschließe; wo der preußische Landtag den Bergarbeiterschutz begrub und der Reichskanzler den Krieg gegen die – Krankenkassen ankündigte.

Wenn es je eine proletarische Organisation gab, die mit Fug sagen durfte, dass sie der Ruhe bedarf, sind es die Krankenkassen. Sie dienen bloß der Unterstützung, stehen zu keiner Klasse in einem Gegensatz; nicht zu den Unternehmern, wie die Gewerkschaften; nicht zu den Zwischenhändlern, wie die Genossenschaften. Aber sie sind Organisationen, in denen die Arbeiter vertreten sind und ihre Rechte wahren, und das ist Grund genug, dass sie seit Jahr und Tag nicht zur Ruhe kommen und jetzt offiziell mit dem Kriege bedroht werden.

Mögen die Gewerkschafter in dieser Situation noch so sehr das Bedürfnis nach Ruhe haben. Sie sind zu starke und selbständige Arbeiterorganisationen, als dass sie ihnen zuteil würde. Und mögen die deutschen Gewerkschafter das Ruhebedürfnis mit den englischen gemein haben, so ist es bei den ersteren doch noch viel zu wenig entwickelt, als dass es sie veranlassen könnte, sich zu ducken und alles ruhig hinzunehmen.

Sie werden in den kommenden Kämpfen ihren Mann stellen; und sie werden sie ausfechten Seite an Seite mit der Sozialdemokratie, trotz einzelner Friktionen. Dafür werden die Verhältnisse schon sorgen. Und wenn das augenblickliche Ruhebedürfnis der deutschen Gewerkschafter zum Teil dem Empfinden entspringt, dass die bisherigen Methoden des Kampfes für weite und stets wachsende Gebiete des gewerkschaftlichen Kampfes immer unzureichender werden, so wird dies selbe Empfinden vielmehr das Suchen nach neuen und wirksameren Methoden des Kampfes hervorrufen, wenn es sich herausstellt. dass die angestrebte Ruhe ein unerfüllbarer frommer Wunsch ist.

Und so dürfte der Massenstreik, dessen Diskussion diesmal von den Gewerkschaftern mit so großer Mehrheit verpönt worden, bald wieder von neuem, und fruchtbarer als bisher, von den Gewerkschaftern Deutschlands ebenso diskutiert werden, wie er von denen der ganzen Welt diskutiert wird.

A Also müssen wir wohl dafür sorgen, dass er nie angewendet wird? K.

B Ist das nicht auch eine „bedauerliche Konzession“ an die „unsinnigen Ideen“ des anarchistischen Generalstreiks? K.

C Welche Entscheidung? Die über die Anwendung des Generalstreiks in einem gegebenen Fall? Aber darüber war der Kongress gar nicht befragt worden. Oder die Entscheidung darüber, ob der Massenstreik studiert und diskutiert werden soll? Schiebt man das am besten hinaus, bis es zur Aktion kommt? K.

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