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Revisionismusstreit

E. Bernstein trat im Jahre 1897 in seinen in der „Neuen Zeit" veröffentlichten Aufsätzen „Probleme des Sozialismus" mit einer Kritik des Marxismus hervor. Sie bezog sich nicht allein auf die ökonomischen Lehren von Marx, nicht allein auf seine soziologische Theorie, sondern auch auf seine Philosophie, auf den dialektischen Materialismus. Im Grunde genommen brachte das Bernsteinianertum kleinbürgerliche Tendenzen zum Ausdruck, indem es statt des Klassenkampfes Klassenzusammenarbeit predigte, die Notwendigkeit der proletarischen Diktatur leugnete, einen Block der Sozialdemokratie mit den liberalen Parteien verlangte und sich von der revolutionären Dialektik lossagte. Die Aufsätze Bernsteins erschienen später in Buchform unter dem Titel „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" (Verlag Dietz 1899). Die Orthodoxen traten als Anhänger des unversöhnlichen Klassenkampfes und der Grundlagen des Marxismus auf. Als erster trat Parvus mit einer Kritik an Bernstein hervor und konstatierte das Vorhandensein des Revisionismus in der deutschen Partei. Nachher waren es R. Luxemburg, G. Plechanow und K. Kautsky, die die Theorien Bernsteins einer eingehenden, bei Kautsky allerdings anfänglich sehr unsicheren, Kritik vom Standpunkt des orthodoxen Marxismus unterzogen. Auf dem Stuttgarter Parteitag, Oktober 1898, wurde der Revisionismus zum ersten Mal zum Gegenstand einer Erörterung vor breiter Öffentlichkeit gemacht. Unter den Gegnern Bernsteins traten zwei Strömungen in Erscheinung: die Mehrheit mit K. Kautsky und A. Bebel an der Spitze sprach sich für ideologischen Kampf gegen Bernstein aus, für die Entlarvung seiner Fehler, jedoch gegen die Anwendung irgendwelcher organisatorischen Maßnahmen gegen ihn; die Minderheit (Parvus und R. Luxemburg) stand auf einem schrofferen Standpunkt.

Im Oktober 1899 beschäftigte sich der Parteitag in Hannover mit der Frage der „Angriffe auf die Grundanschauungen und die taktische Stellungnahme der Partei".

Die Revisionisten (David) verlangten Revision der Politik und Taktik der Sozialdemokratie und ihre Verwandlung in eine demokratische Reformpartei. Der Parteitag bestätigte in einer Resolution die bisherige Parteitaktik. Zu einer lebhaften Diskussion in der Frage des Revisionismus kam es auf dem Lübecker Parteitag im September 1901. Bernstein verlangte in seinen Reden „Freiheit der Kritik". Es wurde eine Resolution von Bebel angenommen:

Der Parteitag erkennt rückhaltlos die Notwendigkeit der Selbstkritik für die geistige Fortentwicklung unserer Partei an. Aber die durchaus einseitige Art, wie der Genosse Bernstein diese Kritik in den letzten Jahren betrieb, unter Außerachtlassung der Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Trägern, hat ihn in eine zweideutige Position gebracht und die Missstimmung eines großen Teils der Parteigenossen erregt. In der Erwartung, dass der Genosse Bernstein sich dieser Erkenntnis nicht verschließt und danach handelt, geht der Parteitag zur Tagesordnung über" (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Lübeck 1901, S. 99, Berlin 1901, Verlag: Expedition der Buchhandlung Vorwärts).

Der Dresdener Parteitag (1903) stellte die Frage des Revisionismus mit größerer Schärfe und verurteilte jeden Versuch zur Vertuschung der Klassengegensätze. Eine entsprechende Resolution wurde mit 288 gegen 11 Stimmen angenommen. Unter den letzteren waren alle führenden Revisionisten – Bernstein, David u. a.

Im Jahre 1908 entfaltete die opportunistische Richtung der deutschen Sozialdemokratie eine breite Kampagne in der Zeitschrift „Sozialistische Monatshefte", deren aktiver Mitarbeiter Bernstein war. In den Spalten dieser Zeitschrift gaben die Anhänger des Revisionismus die „theoretische Begründung" der Notwendigkeit einer wohlwollenden Einstellung der Sozialdemokratie gegenüber der liberalen Bourgeoisie. Der Kampf zwischen Orthodoxen und Revisionisten schlug nunmehr aus vorwiegend theoretischem Gebiet auf das praktische über. Bei den Budgetdebatten stimmte die Mehrheit der deutschen Sozialdemokraten mit Nein, da sie das Budget der bürgerlichen Gesellschaft als Mittel der Beherrschung des Proletariats durch die Kapitalisten betrachtete. Die sozialdemokratischen Fraktionen des Badener und des bayrischen Landtags erklärten, dass sie, „ohne die Verantwortung für den Gesamtinhalt des Budgets zu übernehmen, dem vorliegenden Finanzgesetz ihre Zustimmung geben" (Protokoll des Nürnberger Parteitages, 1908, S. 292). Die bürgerliche Presse, nicht nur Deutschlands, sondern auch Russlands („Rjetsch" Nr 186, Jahrg. 1907), begrüßte diesen Beschluss der Revisionisten. Auf dem Nürnberger Parteitag (1908) erklärte David, die Partei habe sich bisher nach den „weltfremden Theorien des Klassenkampfes" gerichtet, nunmehr müssten aber die Anhänger der reformistischen, parlamentarischen Kampfmethoden die Oberhand gewinnen. Die Anhänger der Budgetbewilligung drohten mit Parteispaltung. Mit 258 Stimmen gegen 119 wurde die Resolution des Parteivorstandes gegen Budgetbewilligung angenommen. Noch krasser trat die „praktische" Tätigkeit der Revisionisten in dem „Fall Noske" zutage, der als Reichstagsabgeordneter in seiner Programmrede erklärte, die deutsche Sozialdemokratie werde in jedem Verteidigungskrieg auf Seiten „ihrer" Regierung stehen und werde das „Vaterland" nicht seinem Schicksal überlassen.

Auch in anderen Ländern erwies sich der Kampf zwischen Orthodoxen und Revisionisten als unvermeidlich. In der französischen Arbeiterpartei stand an der Spitze der orthodox-marxistischen Richtung Jules Guesde. Bereits im Jahre 1882 spaltete sich die französische Partei auf dem Parteitag; in St. Etienne in Guesdisten, die revolutionäre Politik und proletarische Diktatur forderten, und Possibilisten oder Broussisten. An der Spitze dieser letzteren stand Paul Brousse, der versuchte, Marxismus mit Proudhonismus zu verbinden, die kommunistischen und sozialistischen Ziele des Proletariats vertuschte und glaubte, der Sozialismus könne nur durch konsequente Verwirklichung einzelner, im gegenwärtigen Augenblick möglicher (possibles) Teilforderungen durchgeführt werden. P. Brousse, der über den Anarchismus zum Sozialismus gekommen war, brachte die Entartung des Sozialismus zur bürgerlich-demokratischen Bewegung deutlich zum Ausdruck.

Anfang des XX. Jahrhunderts stellte sich an die Spitze der französischen Revisionisten Jaurès, Führer der Parlamentsfraktion der im Jahre 1905 wieder vereinigten Französischen Sozialistischen Partei, ein Sozialist, der bestrebt war, den Marxismus mit dem Idealismus zu versöhnen, für Zusammenarbeit der Klassen eintrat und Millerand unterstützte.

Vertreter des orthodoxen marxistischen Standpunkts in der Belgischen Arbeiterpartei war Louis de Brouckere, später eifriger Opportunist. Mit seinem Referat und Resolutionsentwurf über die Gewerkschaftsbewegung solidarisierte sich Lenin auf dem Stuttgarter Sozialistenkongress. Später, im Jahre 1911, verfasste Brouckere eine Broschüre „Die Arbeiterbewegung in Belgien" und gab in ihr eine Kritik des Reformismus in der Belgischen Arbeiterpartei. An der Spitze des revisionistischen Flügels der Belgischen Arbeiterpartei stand E. Vandervelde, der systematisch eine Politik der Blockbildung mit der Liberalen Partei trieb. Auf philosophischem Gebiet trat er offen gegen den dialektischen Materialismus auf.

Die Theoretiker der II. Internationale – Kautsky, Plechanow, Guesde –, die den revolutionären Marxismus gegen den Revisionismus verteidigt hatten, verrieten ihn, als der Weltkrieg ausbrach. Nur wenige der marxistischen Theoretiker blieben dem Marxismus treu. [Band 12]

Im Jahre 1897 begann Ed. Bernstein in der „Neuen Zeit“ (theoretisches Organ der deutschen Sozialdemokratie, erschien von 1883 bis 1922, wurde von Kautsky gegründet und bis 1916 redigiert) jene Artikel zu veröffentlichen, in denen er den Marxismus einer „Überprüfung“ (Revision, daher Revisionismus und Revisionisten) unterzog. Diese Artikel hatten eine lebhafte Diskussion und vor allem eine energische Abwehr durch die Marxisten zur Folge. Die „Neue Zeit“ nahm dann die Artikel Bernsteins nicht mehr auf und Bernstein gab daraufhin ein besonderes Buch heraus, „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“, das 1899 erschien und zum Evangelium des Revisionismus wurde. Bernsteins theoretische Absage an den revolutionären Klassenkampf des Proletariats zum Zwecke der Machtergreifung und seine theoretische Propaganda der Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie wurde von dem französischen Opportunisten Millerand durch seinen Eintritt in die Regierung praktisch durchgeführt. [Ausgewählte Werke, Band 2]

Lenin hat hier die Polemik zwischen Eduard Bernstein und Karl Kautsky am Ende der neunziger Jahre im Auge. In seinen zu trauriger Berühmtheit gelangten Artikeln, die später in Buchform unter dem Titel „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ erschienen, hatte Bernstein unter anderem behauptet, es seien weder die ökonomischen noch die politischen Voraussetzungen für den Sozialismus schon herangereift, und die sozialdemokratische Partei müsse daher bis auf weiteres eine bloße Oppositionspartei bleiben. Kautsky schrieb gegen Bernsteins Buch die im Allgemeinen schwankende und unsichere Kritik „Bernstein und das sozialdemokratische Programm“, in welchem er sich mit der hier angeführten Behauptung Bernsteins in einem besonderen Artikel mit der Überschrift „Dürfen wir siegen?“ auseinandersetzte. Kautsky schrieb hier unter anderem: „Eine Partei, die existiert, muss kämpfen, und kämpfen heißt um den Sieg ringen. Und wer um den Sieg ringt, muss immer .mit der Möglichkeit rechnen, dass er Sieger bleibt." [Lenin, Ausgewählte Werke Band 3, Anm. 42]

Eduard Bernstein – der hervorragendste Opportunist der Vorkriegsperiode, während des Krieges Sozialchauvinist und nach dem Krieg Sozialfaschist, trat 1897 bereits als echter Agent der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung im theoretischen Organ der deutschen SozialdemokratieDie Neue Zeitin der ArtikelreiheProbleme des Sozialismus“, die später, etwas umgearbeitet und erweitert, in Buchform herausgegeben wurde, mit einer „Kritik“ des Marxismus auf. In diesem Buch wie auch in seinen Artikeln in der „Neuen Zeit“ verwarf Bernstein die Grundlagen des Marxismus. An die Stelle des Wachstums und der Verschärfung der Widersprüche des Kapitalismus setzte er ihre Milderung und schließliche Aufhebung, an die Stelle des Wachstums und der Verschärfung des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie ein Abflauen dieses Kampfes und die Zusammenarbeit zwischen Proletariat und Bourgeoisie, an die Stelle der Unabwendbarkeit und Unerlässlichkeit der sozialistischen Revolution und der Diktatur des Proletariats die friedliche Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft durch Zusammenarbeit der Klassen auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie, das friedliche Hineinwachsen des Kapitalismus in den Sozialismus und forderte, davon ausgehend, eine Verwandlung der sozialdemokratischen Partei aus einer Partei des Proletariats in eine zwischen den Klassen stehende Partei sozialer Reformen, d. h. im Grunde genommen in eine liberal-bürgerliche Partei. In diesem Buch „hat er mehr als einmal die trivialen bürgerlichen Spötteleien über den ,primitiven Demokratismus' nachgeplappert“, den Demokratismus von Marx und Engels. Die Redaktion der „Neuen Zeit“, an deren Spitze K. Kautsky stand, ließ jedoch das Erscheinen der Bernsteinschen Artikel nicht nur zu, sie druckte sie sogar ohne jeden Vorbehalt ab. Kautsky, der erst mit großer Verspätung gegen Bernstein auftrat, „kritisierte“ ihn in einer ganzen Reihe von Fragen und vor allein in der wichtigsten, wesentlichsten Frage der revolutionären Theorie des Marxismus, nämlich in der Frage der Diktatur des Proletariats und der bürgerlichen Demokratie, der Notwendigkeit des Zerschlagens der Staatsmaschine durch das Proletariat in einer Weise, dass seine „Kritik“ „keine Polemik gegen Bernstein ist, sondern im Grunde ein Zugeständnis an ihn, eine Auslieferung von Positionen an den Opportunismus“ (Lenin). Auch weiterhin war sowohl bei Kautsky als auch bei den führenden Kreisen der deutschen Sozialdemokratie und der II. Internationale die Kritik an Bernstein und am Bernsteinianertum sowie dessen Verurteilung in Worten, die „Orthodoxie“ in Worten von immer größeren Zugeständnissen an ihn, von immer größerer Anpassung an den Opportunismus in der Praxis begleitet. [...] [Lenin, Ausgewählte Werke Band 7, Anm. 13]

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