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Karl Kautsky 19050913 Der mögliche Abschluss einer unmöglichen Diskussion

Karl Kautsky: Der mögliche Abschluss einer

unmöglichen Diskussion

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 23.1904-1905, 2. Band.(1905), Heft 51, S. 795-804, 13. September 1905]

1. Begeistern und Kalkulieren

Der Parteitag hat schon begonnen, wenn diese Zeilen in die Hände unserer Leser kommen. Trotzdem enthalten sie nicht eine Antwort auf die Gesamtheit der Polemik des „Vorwärts". Erst der siebente Artikel der Serie über „Wenn und Aber" war erschienen, als unsere Entgegnung in Satz musste. Eine Reihe weiterer, wuchtiger Streiche wird mir angedroht – aber vielleicht ist es ein Glück, dass ich sie nicht mehr erwidern kann, denn es beschleicht mich das unbehagliche Gefühl, als sei unsere Diskussion an jenem gefährlichen Punkte angelangt, wo sie anfängt, die Masse der Leser zu langweilen, weil sie nicht mehr nette Gesichtspunkte, sondern nur noch Richtigstellungen oder Erläuterungen früherer Ausführungen zu bringen vermag. Trotzdem kann ich mich nicht entschließen, die Behauptungen des „Vorwärts" ohne jeden Widerspruch hinzunehmen, aber ich werde versuchen, mich möglichst kurz zu fassen.

So sehr es mich locken würde, ich verzichte daher darauf, die Theorie des notwendigen Modenwechsels der Weltanschauungen zu beleuchten, die der „Vorwärts" entwickelt, um nachzuweisen, dass Marx, wenn er heute lebte, selbst nicht Marxist, sondern Ethiker wäre, und dass es bloß mein verständnisloses Epigonentum und mein Kleben am toten Buchstaben sei, wenn ich nicht diese Wandlung mitmache. Begründet wird diese famose Auffassung durch ein philosophisches Kuddelmuddel, in dem zwei ganz verschiedene Dinge, die aber den gleichen Namen führen, philosophischer und ethischer Materialismus einander gleichgesetzt und durcheinander gewirrt werden. Das wirft ein sonderbares Licht auf die philosophische Klarheit der Ethiker des „Vorwärts“, für die doch die Philosophie eine besonders hochgehaltene Spezialität ist.

Aber es würde uns zu weit fuhren, wollten nur diese Verwirrung entwirren, so interessant es wäre, da es eine Reihe neuer Einblicke in das Wesen der ethischen Denkweise ermöglichte. Wir verzichten darauf und begnügen uns damit, darauf hinzuweisen, dass diese Ausführungen des „Vorwärts“, mögen sie gelungen oder missglückt sein, jedenfalls eines dartun – allerdings sehr wider seinen Willen: dass zwischen uns ein schroffer sachlicher Gegensatz besteht, Auf den Namen kommt dabei wenig an. Ob man ihn als Gegensatz zwischen veraltetem, gegenstandslos gewordenem und modernisiertem Marxismus hinstellt, wie er es tut, oder als Gegensatz zwischen materialistischer und ethischer Denkweise, wie ich tat, das kommt auf dasselbe hinaus, und man begreift wirklich nicht den kolossalen Aufwand von Entrüstung und vernichtendem Hohn, den der Vorwärts gegen mich aufbietet, weil ich diese Unterscheidung mache.

Hat er aber selbst in einem unbedachten Moment dem großen sachlichen Gegensatz zwischen uns konstatiert, so hat er ebenfalls auf das Präziseste seinen eigenen ethischen Standpunkt gekennzeichnet in seinem fünften Artikel, wo er von den revolutionären Krisen meint:

Das Studium der materiellen Bedingungen in solchen Situationen ist kinderleicht und kann von jedem Kalkulator recht und schlecht erledigt werden, die Entfachung der Begeisterung aber ist das schwierigste Problem politischer Erziehung, die Entschlossenheit zur Tat vielleicht das ungeheure tragische Problem der Weltgeschichte.“

Diese Worte verdienen in goldenen Lettern über dem Eingang zum „Vorwärts“ eingegraben zu wenden, denn sie sind die Quintessenz der Prinzipien, nach denen er redigiert wird. Und sie bezeugen von Neuem den großen Gegensatz zwischen ihm und uns Marxisten. Denn was ihm kinderleicht erscheint, ist uns das schwierigste Problem und umgekehrt.

Diese verschiedene Bewertung ist sehr natürlich, sie entspringt auf den verschiedenen Arten unserer Betätigung. Man kann die Schwierigkeiten eines Gebiets nur dann völlig ermessen, wenn man selbst darin gearbeitet hat.

Nun war uns Marxisten die „Entfachung der Begeisterung“ nie ein Problem, dessen Losung uns besonders beschäftigte. Wir glaubten, dass uns genügende Begeisterung zuströmte aus dem Klassenkampf, an dem wir teilnehmen, und auf der wissenschaftlichen Erforschung der Bedingungen und Aufgaben dieses Kampfes, die uns eine solche Fülle der begeisterndsten neuen Einsichten, der herrlichsten Ausblicke in die Zukunft, der erhebendsten Ziele brachten, dass wir glaubten, einer besonderen Quelle der Begeisterung daneben nicht mehr zu bedürfen. Und die Verbreitung dieser Begeisterung und ihre Konzentration zur Tat durch Konzentrierung des Klassenkampfes und durch Verbreitung wissenschaftlicher Aufklärung erschient uns nichts weniger als „das ungeheure tragische Problem der Weltgeschichte“, sondern als ein sehr hoffnungsfrohes, herzerfreuendes Tun.

Da wir also nie die „Entfachung der Begeisterung" besonders betrieben haben, so ist das wohl der Grund, warum uns diese Tätigkeit gegenüber dem „Studium der materiellen Bedingungen" „kinderleicht", als ein bloßes Berauschen in großen Worten und höchstens noch als ein Hinreißen zu Augenblickstaten, nicht aber als eine Grundlage dauernder, hingebender Arbeit erscheint.

Aber ebenso müssen wir es umgekehrt ans der ungenügenden Beschäftigung unserer ethischen Genossen mit dein „Studium der materiellen Bedingungen" erklären, wenn dies Studium ihnen „kinderleicht" erscheint, oder wenn sie behaupten: „Über die ökonomischen Zusammenhänge denkt heute schon jeder Banklehrling nach, jeder Professor doziert sie als die Seele der Erkenntnis – diese Wahrheit braucht man wahrhaftig nicht immer aufs neue zu entdecken." Was uns dagegen fehle, das sei die Ethik.

Wären sie nicht so mit dem ungeheuren tragischen Problem der Ethik beschäftigt, hätten sie Zeit, in unsere ökonomische Literatur einen Blick zu werfen, dann müssten sie gesehen haben, dass jene „ökonomischen Zusammenhänge", welche jeder Banklehrling studiert und jeder Professor doziert, trotz des gleichlautenden Wortes „Ökonomie" ganz anderer Natur sind als jene, die wir „kaufmännischen Kalkulatoren" des wissenschaftlichen Sozialismus „studieren" und „dozieren", und dass gerade die Aufdeckung dieser Differenzen zwischen bürgerlicher und proletarischer Auffassung der ökonomischen Zusammenhänge für die Erkenntnis des proletarischen Klassenkampfs unerlässlich ist. Unsere ethischen Genossen hätten dann aber vielleicht auch eine Ahnung davon erhalten, wie viele und wirklich schwere Probleme es da gibt. bereit Lösung weit davon entfernt ist, „dass man sie nicht immer aufs Neue zu entdecken braucht". Und hätten unsere ethisch gerichteten Genossen die Geschichte der revolutionären Bewegungen mit weniger ethischen Augen gelesen, dann wäre es ihnen vielleicht auch nicht entgangen, wie in revolutionären Zeiten die Erkenntnis der „materiellen Bedingungen" eine so ungeheuer schwierige Sache ist, dass selbst unseren größten Denkern und gründlichsten Kennern der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse dabei mitunter Irrtümer unterliefen. Von Begeisterung und Tatenlust überfließt dagegen in solchen Zeiten jedermann, so dass in dieser Beziehung die große Schwierigkeit nicht darin besteht, wie sie zu entfachen, sondern wie dabei die kühle Überlegung nicht zu verlieren..

Wir verübeln es unseren ethischen Genossen nicht, wenn sie vor lauter Begeisterung alles das übersehen haben; wir bezweifeln auch durchaus nicht, dass sie ebenso gute Sozialdemokraten sind wie wir, vielleicht noch bessere, vermöge ihrer Begeisterung. Aber wir bezweifeln, dass die Prinzipien, die sie da ausgesprochen, diejenigen sind, nach denen unser Zentralorgan redigiert werden sollte. Ein „Entfachen der Begeisterung", das nicht aus den materiellen Bedingungen und ihrem Studium hervorgeht, scheint uns nichts anderes zu sein als Augenblicksagitation, welche die Partei immer mehr verflachen muss. Dem entgegenzuwirken, die Partei zu vertiefen, die wissenschaftliche Einsicht in ihr zu vermehren, war niemals mehr geboten als jetzt; der Ruf danach erschallt auch immer dringender in den Reihen der Genossen. Wie könnte uns aber das Zentralorgan dabei sichtend vorausgehen, solange seine Redaktion über das „kinderleichte Studium der materiellen Bedingungen" selbst die kindlichsten Vorstellungen hegt?

Nun meint freilich der „Vorwärts", meine Anklage, wenn sie berechtigt sei, treffe nicht ihn, sondern das Wesen der Tagespresse überhaupt, die „im Wesentlichen aus Improvisation" bestehe; „prinzipiell-aktuelle Abhandlungen über Zeitereignisse" seien nur in einer Wochenschrift möglich.

Aber was ich verlangt habe, war ja gar nicht, dass er lange theoretische Abhandlungen bringe; die gehören nicht zu seinen Ausgaben und werden von den wenigsten gelesen; sondern dass seine „Improvisationen", seine Behandlung der Tagesereignisse von einer anderen Denkweise getragen würden. Jeder schreibt aus seinem Geiste heraus, und auch die flüchtigste Improvisation, die kleinste Notiz wird anders, wenn der Verfasser ökonomisch-materialistisch oder ethisch-ökonomisch geschickt an die Dinge herantritt. Schon beim bloßen Zeitungslesen sieht der eine Dinge, die der andere nicht sieht, packt den einen, was den anderen kalt lässt. So wird der eine auch von vornherein anders an die Behandlung der Dinge herangehen, und in allen ihren Teilen muss eine Tageszeitung ganz anders aussehen, wenn sie von geschultert Marxisten, als wenn sie von bloßen Ethikern redigiert wird. Der Unterschied zwischen der ethischen und der ökonomischen Denkweise hat gar nichts zu tun mit dem Unterschied zwischen den Aufgaben der Tagespresse und der Wochenschriften. Die Arbeiten der Ethiker haben in Wochenschriften genau denselben Charakter wie in der Tagespresse, und das gleiche gilt von den Marxisten.

2. Die Neue Zeit

Am Schlusse seiner Ausführungen über das Wesen der Tagespresse erhebt der „Vorwärts" einen merkwürdigen Vorwurf gegen die „Neue Zeit". Ihre Aufgabe sei es, den „Vorwärts" bei seiner Aufklärungsarbeit zu unterstützen. Diese Arbeit aber sei ihm „insofern außerordentlich erschwert, als seine notwendige Ergänzung, die ,Neue Zeit' völlig versagt, da sie keine entfernt angemessene Verbreitung gefunden hat und nicht sowohl das wissenschaftliche Zentralorgan als vielmehr das Organ einer kleinen Gruppe von Parteischriftstellern ist".

Neu sind diese Vorwürfe nicht. Sie wurden schon auf dem Münchner Parteitag gegen uns erhoben. Die Ethiker des „Vorwärts" sind hier auch nur „Epigonen", allerdings nicht von Marx, sondern von Wolfgang Heine, David und Südekum. Der letztere der Vorwürfe des „Vorwärts" will besagen, dass die „Neue Zeit" vorwiegend nur von Parteischriftstellern als ihr Organ betrachtet wird, die auf dem Boden jener Denkweise stehen, der das Kommunistische Manifest und unser Parteiprogramm entspross. Die Ethiker der Partei halten sich von uns fern. Seitdem ihnen die Hardensche „Zukunft" durch die Partei verschlossen worden, haben sie ihre Gunst einer Reihe neugegründeter Wochenschriften zugewandt.

Was aber die wenig „angemessene" Verbreitung der „Neuen Zeit" anbelangt, so hängt die Richtigkeit dieser Behauptung von dem Maßstab ab, mit dem man misst. Unsere Verbreitung bleibt sicher erheblich zurück hinter der mancher Sensationswochenschriften mit kurzen, pikanten Artikeln. Dagegen haben mich Kenner des Buchhandels wiederholt versichert, dass die „Neue Zeit" eine der verbreitetsten unter den ernsten politischen Revuen Deutschlands sei.

Und doch stehen unserer Verbreitung große Schwierigkeiten entgegen. Wir wenden uns an ein Publikum, das weit weniger Geld, Zeit und oft auch Vorbildung hat wie die Kreise, aus denen sich die Leser der bürgerlichen Revuen rekrutieren, und haben gleichzeitig die Aufgabe, unseren Lesern weit schwerere Kost vorzusetzen, als die ernsteste bürgerliche Revue. Denn eine unserer Aufgaben besteht in der Veröffentlichung ökonomischer und philosophischer Abhandlungen. Die Bourgeoisie hat für solche Arbeiten eigene Fachzeitschriften, dicke Monats- und Vierteljahresrevuen, die oft nur wenige Hunderte von Lesern zählen. Sozialdemokratische Arbeiten dieser Art können dagegen nur in der „Neuen Zeit" veröffentlicht werden, und sie müssen dort erscheinen, denn sie sind von größter Notwendigkeit für die Entwicklung und Vertiefung unserer Theorie. Aber eine Massenlektüre bilden sie nicht.

Ihrem ganzen Charakter nach ist die „Neue Zeit" nicht ein Organ der Propaganda in den Massen. Sie ist vielmehr als Organ der Anregung und Information für jene bestimmt, die zu den Massen sprechen, unsere Redakteure, Abgeordnete, Vertrauensmänner, Vortragende und Agitatoren. Deren Zahl wächst aber nicht so rasch wie die unserer Wähler und der Leser unserer Tagespresse. Immerhin ist die Verbreitung der „Neuen Zeit" in stetem Wachstum begriffen, obwohl gerade in letzter Zeit manche uns ungünstige Momente auftraten, so die Gründung äußerst billiger, mehr oder weniger sozialistischer Wochenschriften, die bloß die leichteste Lektüre bringen und deren Verbreitung in Arbeiterkreisen von jenen Elementen gefördert wird, denen die Haltung der „Neuen Zeit" unbequem ist – Nurgewerkschaftern, Revisionisten, Ethikern.

Der „Vorwärts" selbst hat jetzt erklärt, es sei „ein wirkliches Glück für die Partei", dass die „Neue Zeit" „nicht entfernt den Einfluss auf die Massen hat, den sie von Rechts wegen haben sollte". Ich denke nicht so gering von den Ethikern des „Vorwärts" und ihren Freunden, um nicht anzunehmen, dass sie stets nach Kräften bemüht sind, das „wirkliche Glück der Partei" zu fördern und den Einfluss der „Neuen Zeit" auf die Massen gebührend zu beschränken. Jedenfalls beweisen diese Bemerkungen unseres Zentralorgans über die „Neue Zeit" wieder einmal eines: den großen sachlichen Gegensatz, in dem es sich zu uns befindet und den es leugnet.

3. Meine Beweisstücke

Neben der geringen Verbreitung der „Neuen Zeit" spielt eine gewichtige Rohe in der Entgegnung des „Vorwärts" der Hinweis auf die Beispiele, mit denen ich den Unterschied zwischen ethischer und materialistischer Denkweise zu illustrieren suchte. Das seien „Beweisstücke, die dem Angreifer ins Gesicht prallen".

Die Beweisführung des „Vorwärts" in diesem Punkte besteht in einer Verschiebung des Diskussionsfeldes. Er glaubt, ich behauptete, Marxisten konnten sich nie sittlich entrüsten und Ethiker nie ökonomische Argumente gebrauchen. Nun hätten aber auch Marxisten sich im „Vorwärts" sittlich entrüstet, und die Beweisstücke, die ich vorgebracht, enthielten auch ökonomische Argumente, die ich indes wohlweislich aus meinen Zitaten ausgelassen habe.

Ich habe natürlich in Wirklichkeit nie behauptet, dass Marxisten sich nicht entrüsten können. Da wären wir traurige Patrone. Ebenso wenig habe ich gesagt, dass Ethiker unfähig seien, ökonomische Argumente vorzubringen. Wäre das der Fall, könnten sie in einer Parteiredaktion sich keine Stunde lang behaupten. Worüber sollte denn auch ein sozialistischer Ethiker sich mehr entrüsten können, als über ökonomische Dinge, das Elend und die Not der Massen? Ich habe bloß behauptet, ihr ethischer Standpunkt hindere sie, den tieferen Gründen der ökonomischen Erscheinungen nachzuforschen und sie zu erfassen.

Dann aber soll ich aus meinen Zitaten einzelne Sätze ausgelassen und dadurch deren Sinn. gröblich entsteht haben. Da ich diesen Artikel nicht allzu ungebührlich anschwellen lassen will, muss ich mich mit einem Beispiel begnügen, um die Methode zu zeigen, wie dieser schwere Vorwurf konstruiert wird.

Ich hatte behauptet, seine ethische Denkweise habe den „Vorwärts" verführt, zur Zeit des Bergarbeiterstreiks „auf die Kraft der öffentlichen Meinung der Bourgeoisie besondere Hoffnungen zu bauen". Als Beweis dafür zitierte ich aus dem „Vorwärts" den Satz:

Die öffentliche Meinung war so gut wie vollständig auf Seite der Streikenden. (Die parlamentarische Aktion, die zu Sympathieerklärungen der übergroßen Mehrheit der politischen Parteien für die Streikenden führt. Die Forderungen der Parteien, Schutzgesetze für die Streikenden zu geben. Die Zusicherung der Regierung, mit einer bisher unbekannten Schnelligkeit eine Gesetzvorlage zur Erfüllung wesentlicher Forderungen der Streikenden einzubringen. Die öffentliche Belobigung der Streikenden für ihre ruhige Haltung und schließlich die allgemeine Anerkennung bei dem Ausgang des Streiks:) Das ist wahrlich ein moralischer Sieg, wie ihn deutsche Arbeiter noch nie errungen haben. Das, sollte man meinen, muss mit der Zeit auch materielle Folgen haben."

Die in Klammer gesetzten Sätze hatte ich, um Raum zu sparen, in meinem Zitat weggelassen. Was, frage ich, wird im Mindesten durch die von mir weggelassenen Sätze geändert? Sie verstärken nur durch eine Reihe von Illustrationen meine Behauptung, dass der „Vorwärts" „auf die Kraft der öffentlichen Meinung der Bourgeoisie besondere Hoffnungen baute".

Kann der „Vorwärts" leugnen, dass er den Satz geschrieben, dieser unerhörte moralische Sieg deutscher Arbeiter müsse mit der Zeit auch materielle Folgen haben? Nein, aber er bringt es fertig, ihn weg zu deuten, indem er behauptet, „die weiteren Zeilen des Artikels wandten sich gegen diese Auffassung, die an sich natürlich wäre, als eine Illusion". Er behauptet, er habe, „im Gegensatz" zu meinem „ökonomisch gekürzten Zitat", die Arbeiter aufgefordert, keine Illusionen über die wertlosen bürgerlichen Sympathien zu hegen und sich bloß auf die eigene Kraft zu verlassen.

Wäre das richtig, dann bewiese das nur, dass das Ende des Artikels seinem Anfang widersprach. Aber damit täte man dem „Vorwärts" Unrecht. Die Zeilen, in denen er alle diese Warnungen vor der Bourgeoisie und den Hinweis auf die eigene Kraft ausgesprochen haben will, sind folgende:

Die Arbeiter haben ihren bisherigen moralischen Erfolg sich selbst zu danken. Von ihnen allein wird es auch abhängen, ob, wann und in welchem Umfang er auch zu einem materiellen Erfolg wird. In ihrer Organisation, in ihrer Einigkeit und Disziplin liegt das einzige Mittel, auch wirkliche Erfolge zu erringen."

Weiter zitiert der „Vorwärts" in seiner Entgegnung nicht, und das ist sehr klug. Denn wenn auch in dem eben zitierten Absatz kein Wort davon steht, dass die bürgerlichen Sympathien wertlos seien, so könnte man immerhin den Hinweis auf Organisation und Disziplin als einziges Mittel, Erfolge zu erringen, als eine Aufforderung ansehen, nur der eigenen Kraft zu vertrauen. Aber ein ganz anderes Gesicht erhält der Passus, wenn man weiter liest: Der „Vorwärts" bezeichnet nämlich weiter als „einziges Mittel", noch einen wirklichen Erfolg zu erzielen, die einmütige Wiederaufnahme der Arbeit. Darin soll sich die „Organisation, Einigkeit, Disziplin" bewähren.

Der Beschluss, die Arbeit wieder auszunehmen, mag durch die Machtverhältnisse geboten gewesen sein. Davon rede ich hier nicht. Aber in der Wiederaufnahme der Arbeit ein Mittel zu sehen, das materielle Erfolge verspricht, kann nur jemand, der die Macht der öffentlichen Meinung aufs Höchste schätzt. Und man muss ein Ethiker sein, wenn man die Anforderung, die Arbeit aufzunehmen, um dadurch materielle Erfolge zu erzielen, in die Aufforderung zu verwandeln vermag, die bürgerlichen Sympathien für wertlos zu halten und bloß der eigenen Kraft zu vertrauen. Noch mehr Ethik aber gehört dazu, mir „grobe Fälschung" vorzuwerfen, weil ich in diesem Artikel einen Beweis dafür sehe, dass der „Vorwärts" „auf die Kraft der öffentlichen Meinung der Bourgeoisie besondere Hoffnungen baut".

Von der Überschätzung der öffentlichen Meinung handelt aber auch ein anderes meiner „Beweisstücke", das den „Vorwärts" in besonders wuchtige Entrüstung versetzt. Er hatte nämlich geschrieben:

Die Macht der Reaktion beruht auf den proletarischen Wählern, die eigentlich zu uns gehören und ohne die kein Reaktionsstreich möglich ist. Es bleibt daher die wesentliche Ausgabe der Sozialdemokratie, die ihr noch verständnislos gegenüberstehenden Massen mit Verständnis zu erfüllen oder doch wenigstens einen solchen Einfluss auf die öffentliche Meinung zu gewinnen, dass die wenigen Prozent derer, welche durch ihre bevorzugte Stellung in der heutigen Ordnung der Dinge naturgemäß Feinde der Arbeiterbewegung und aller Volksrechte sind, zur Ohnmacht verurteilt sind."

Das soll nun e.-ä. sein", ruft der „Vorwärts" mit gebührender sittlicher Entrüstung aus. Und er fährt fort:

Wenn wir nicht sehr irren, hat am Beginn der modernen Arbeiterbewegung niemand anders wie Lassalle gerade dieses Argument mit dem größten Nachdruck immer wieder in die Massen geworfen!"

Und so weiter und so weiter, bis es schließlich heißt:

Diese fundamentale Erkenntnis der internationalen Sozialdemokratie, diese in Tausenden von Artikeln, Broschüren, Reden immer wiederholten Gedanken brauchen nur im ,Vorwärts' zu stehen und Kautsky bucht sie als Beweis für das mangelhafte ökonomische Denken der schuldigen Redakteure. Uns dünkt, als ob damit Kautsky die ganze Geschichte der Sozialdemokratie zu einer e.-ä.-Gefühlsepisode umwertet!"

Man sieht, ein ethischer Wasserfall erster Güte, dessen vernichtende Wucht nicht geschwächt, sondern nur anmutig geziert wird durch das Kichern eines schelmischen Nixchens, das als e.-ä.-Joc in dem tosenden Gewässer seinen Schabernack treibt.

Wartet man aber ab, bis die Gewässer sich verlaufen haben und man wieder zu ruhigerer Überlegung kommt, dann macht man vor allem die seltsame Entdeckung, dass mir da wohl mit der größten Kraft die Leugnung „dieses Argumentes" Lassalles, „dieser fundamentalen Erkenntnis der internationalen Sozialdemokratie" entgegen geschleudert, nirgends aber bestimmt gesagt wird, welches Argument, welche Erkenntnis ich eigentlich leugne. Man lässt nur ahnen dass ich den ganzen Inhalt des ganzen oben zitierten Satzes für eine „e.-ä.-Illusion" erklärt hätte. Dann natürlich verdiente ich, aus der Partei heraus zu fliegen. Wer etwa leugnen wollte, dass es „die wesentliche Aufgabe der Sozialdemokratie ist, die ihr noch verständnislos gegenüberstehenden Massen mit Verständnis zu erfüllen", braucht nicht widerlegt, braucht bloß ausgelacht zu werden.

Diesen Satz kann ich also nicht bezweifelt haben. Aber auch gegen die Angabe, dass nur wenige Prozent der Bevölkerung an der heutigen Ordnung der Dinge interessiert seien, habe ich mich nicht gewendet, obwohl über die Zahl dieser Prozent sehr verschiedene Anschauungen möglich und die Lassalleschen Zahlen, die auf einer ungenügenden Statistik beruhten, längst überholt sind.

Was ich in dem Satze beanstandet hatte, war die Anschauung, es sei möglich, dass die öffentliche Meinung allein genüge, unsere Gegner zur Ohnmacht zu verurteilen. Es ist mir nicht bekannt, dass diese Anschauung irgendwo in unserer Parteiliteratur als eine „fundamentale Erkenntnis" figuriert. Wenn mich also der „Vorwärts" hier wegen meiner Leugnung der Fundamente der Partei mit einem Hagel von Geschossen überschüttet, so erinnert mich das lebhaft an jene berühmte andere Kanonade, welche die Flotte Roschdjestwenskys gegen japanische Torpedoboote richtete, die ebenso leibhaftig in der Nordsee waren, wie die Untergrabung der Fundamente der Partei in meinem Artikel.

Die Überschätzung der Kraft der öffentlichen Meinung, weit entfernt, ein Fundament der Partei zu bilden, ist vielmehr bloß eine Spezialität einiger unserer Ethiker innerhalb und außerhalb des „Vorwärts". Da ihr Vertrauen in die Kraft unserer „demokratischen" Einrichtungen doch etwas erschüttert ist, sie den Massenstreik nicht wollen, das Gottvertrauen bei uns noch nicht üblich ist, bleibt ihnen nichts übrig, als das, was die frommen Christen vom lieben Gott erbitten, nun von der öffentlichen Meinung zu erwarten: Schutz vor allen Nöten und Gefahren, in denen Menschenkraft versagt.

4. Lassalle und der Kampf um die Macht

Der „Vorwärts" beruft sich mir gegenüber auf Lassalle. Dafür bin ich ihm sehr dankbar, denn dieser Appell rief mir Lassalles Anschauung über die Macht der öffentlichen Meinung und damit zwei Schriften ins Gedächtnis, die gerade jetzt, wo wir den Massenstreik diskutieren, wieder von größter Aktualität geworden sind, seine beiden Vorträge „Über Verfassungswesen".

Mit dem Hinweis auf sie möchte ich zu dem Ausgangspunkt unserer Diskussion, zum Massenstreik, zurückkehren und sie damit schließen.

Die genannten Vorträge entsprangen einer Situation, die mit der heutigen viel Ähnlichkeit hat. Wie heute die deutsche Sozialdemokratie stand damals die preußische Demokratie vor einem Kampfe um die politischen Rechte. Was nun? war die allgemeine Frage damals wie heute und das Resultat ein lebhafter Streit innerhalb der Demokratie selbst.

Bernstein berichtet in seiner Vorbemerkung zu der in Rede stehenden Broschüre darüber:

In die Zeit der Vorbereitungen zu den Wahlen (Frühjahr 1862) fällt der in einer Reihe von liberalen Bezirksvereinen gehaltene Vortrag Lassalles: „Über Verfassungswesen“ … Klar und unzweideutig, in gedrungener, vortrefflich angeordneter Darstellung weist er nach, um was sich der Streit in Wirklichkeit dreht, und dass er nur dann in befriedigender Weise zu Ende geführt werden würde, wenn er in dieser seiner wahren Natur begriffen und entsprechend behandelt werde: als eine Machtfrage.

Dass es sich im Verfassungskonflikt um eine solche handelte, wussten allerdings die liberalen Parteiführer auch, aber sie glaubten, besonders klug zu tun, wenn sie es nicht offen aussprachen. Sie wollten die faktische Macht mit Hilfe der Verfassung konstitutionell der Regierung abhandeln und rechneten dabei ausschließlich auf die Zaubergewalt dessen, was Lassalle in der vorliegenden Rede das allgemeine Bewusstsein nennt und von dem er sehr richtig sagt. dass es in gewissen Fragen auch ein Stück Verfassung sei: die öffentliche Meinung. Diese sollte alles für sie machen, und darum wurde die Verfassungsfrage als eine reine Rechtsfrage hingestellt, als ein Streit um das formale Recht. das allerdings auf Seite der Kammer war."

Zunächst wurde dieser Vortrag von den Liberalen totgeschwiegen, denen er höchst unbequem war. Aber der zweite, der im November folgte, konnte nicht totgeschwiegen werden. Hier machte sich's Lassalle zur Aufgabe, die parlamentarischen Illusionen zu zerstören und den Scheinkonstitutionalismus in seiner Ohnmacht zu kennzeichnen. Er fand als das geeignetste Mittel des Kampfes gegen den Absolutismus die Einstellung der Arbeit – allerdings nicht der industriellen Arbeit – davon konnte damals noch keine Rede sein –, sondern der parlamentarischen Arbeit, den Streik der Parlamentarier.

Dieser Vortrag konnte nicht mehr ignoriert werden. Er entfesselte eine wütende Hetzjagd der liberalen Führer und ihrer gesamten Presse, bis zur äußersten Linken, unter ihnen voran die Berliner „Volkszeitung", die damals unter den Arbeitern Berlins dieselbe Bedeutung hatte wie heute der „Vorwärts". Der sachliche Kampf versprach freilich wenig Erfolg, und so bemühten sich denn die liberalen Fehdehelden, die Person Lassalles möglichst zu diskreditieren. Seine Motive wurden verdächtigt. Nur Literateneitelkeit habe ihn angestachelt, das Ganze sei ein bloßer Literatenkrakeel, um so verwerflicher, je dringender die politische Situation die Einigkeit aller demokratischen Elemente gegenüber der Regierung fordere. Was er vorbringe, sei ein Drohen mit der Revolution, wodurch nur die reaktionären Zettelungen gestärkt würden. Seine Kritik des Parlamentarismus sei „hohler Pessimismus" und könne nur dahin wirken, den Wählern das Wählen zu verekeln, also die Demokratie zu schwächen – der Vorwurf des „Anarchismus" war damals für solche Fälle noch nicht erfunden. Und endlich wurde Lassalle gewaltig der schlechte Ton verübelt, den er, der Demokrat, in der Diskussion mit den demokratischen Kameraden anschlug. Und in der Tat, der Ton war „schlecht" genug. Lassalle schrieb damals von der „Verleumdungskunst", der „Geistesarmut", der „politischen Schädlichkeit", der „pfäffischen Verlogenheit" der „Volkszeitung", und diese antwortete ebenso saftig. Es gibt eben keinen ärgeren Köhlerglauben als den, es seien jemals Parteidiskussionen geführt worden, in denen kein „schlechter Ton" vorgekommen wäre.

Die Taktik der „Volkszeitung" wirkte. Was der sachlichen Kritik nicht gelungen wäre, gelang der persönlichen Diskreditierung. Lassalle wurde unter den Arbeitern Berlins zunächst ganz unmöglich. Aber freilich, das war der letzte Triumph der Fortschrittspartei gewesen. Der Sieg ihrer Taktik bedeutete das Einschlagen einer Richtung, die sie ihrem politischen Ruin entgegenführte.

Die Analogien mit den heutigen Zuständen liegen auf der Hand. Aber zum Glücke wiederholt sich die Geschichte nicht, und die Situation von heute weist neben großen Ähnlichkeiten doch auch große Unterschiede von der damaligen auf. Die Ähnlichkeiten müssten uns entmutigen. Wenn selbst ein Lassalle der „Volkszeitung" erliegen musste, wie sollten wir gegen den „Vorwärts" aufkommen können? Die Unterschiede zwischen damals und heute aber geben uns die beste Zuversicht. Das Proletariat von heute ist ein ganz anderes als das, vor dem Lassalle seine Agitation begann. Es ist kraftvoll und selbständig, und so dürfen wir wohl erwarten, es werde ihm gelingen, den sachlichen Kern unseres Konfliktes aus den Äußerlichkeiten herauszuschälen, in die ihn der „Vorwärts" eingewickelt. Liegt aber dieser Kern vor ihm bloß, dann kann sein Verdikt nicht zweifelhaft sein.

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