Karl Kautsky‎ > ‎1905‎ > ‎

Karl Kautsky 19050809 Die Fortsetzung einer unmöglichen Diskussion

Karl Kautsky: Die Fortsetzung einer unmöglichen Diskussion

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 23.1904-1905, 2. Band.(1905), Heft 48-49, S. 681-692, 717-727, 9. und 16. August 1905]

1. Guter Ton und richtige Auffassung

In meinem Artikel über „Die Stimmung in der deutschen Sozialdemokratie" („Neue Zeit", Nr. 42) hatte ich unter anderem auch den „Vorwärts" kritisiert. Dieser antwortete am 19. und 20. Juli, eben, als ich meine Ferien angetreten. So komme ich erst jetzt dazu, ihm zu antworten.

Aber ist es überhaupt möglich, die Diskussion fortzuspinnen? Der „Vorwärts" betitelt die eine seiner Erwiderungen mit: „Unmögliche Diskussion" und sucht nachzuweisen, dass meine Art der Kritik jede Diskussion unmöglich mache. In der Tat könnte eine Fortsetzung des Diskutierens nichts erzielen als Unerquicklichkeiten, wenn man es, wie der „Vorwärts" wieder einmal tut, auf das Gebiet des „guten Tones" lenkt. Ein Entrüstungsduett über den guten Ton kann naturgemäß nicht anders enden als mit dem schlechtesten. Das zeigen unsere Erfahrungen immer wieder von neuem.

Ich begnüge mich daher hier damit, einfach zu konstatieren, dass ich in meinem Artikel keine einzige Person direkt oder indirekt angegriffen habe. Der „Vorwärts" dagegen, der mir eine „Polemik der persönlichen Herabsetzung" und „das tiefe Niveau der persönlichen Reibereien" vorwirft, spricht gleichzeitig von meinem „Hochmut", meiner „höchst unzureichenden Kritik", meiner „Überhebung" und „Anmaßung", meinen „publizistischen Unsitten",Literatenmätzchen" und „bösartigen Unrichtigkeiten". Es fehlt nur noch, dass er, wie Herr v. Trotha einen unbequemen Kritiker, mich für völlig „unreif" erklärt.

Indes, wenn meine Kritik auch ganz unpersönlich gehalten war, so fällt es mir doch nicht ein, leugnen zu wollen, dass sie zu sehr scharfen sachlichen Urteilen kam, vor allem zu dem, dass unser Zentralorgan „in seiner jetzigen Form unfähig" sei, „der Partei in inneren Parteifragen als führendes Organ zu dienen".

Den Anlass dazu gab die Haltung des „Vorwärts" gegenüber einer inneren Parteifrage von so hervorragender Wichtigkeit, wie sie der politische Massenstreik darstellt, der augenblicklich in der ganzen Partei auf das Lebhafteste diskutiert wird.

Was hat der „Vorwärts" zu dieser Diskussion beigetragen? Das kritische Referat über die Schrift der Genossin Roland-Holst. Das ist meines Erinnerns bisher seine einzige größere Auseinandersetzung über die Frage des politischen Massenstreiks. Und gerade die erschien mir völlig „unzureichend“. Ich fand, der „Vorwärts" habe „die ganze Schrift nicht verstanden, wenn er ihr vorwirft, sie mache den politischen Streik aus einem unter ganz bestimmten Verhältnissen möglichen und erforderlichen Akt der proletarischen Notwehr zur Methode des Klassenkampfs, zum eigentlichen Mittel des proletarischen Sieges". Dies Missverständnis aber sei das einzige Argument, das der „Vorwärts" vorzubringen wisse, um Methode und Schlussfolgerungen des Buches abzulehnen. Und ich zitierte (S. 494) einen langen Passus aus der Schrift, in dem es ausdrücklich heißt, dass „der politische Massenstreik eine nur selten, in bestimmten geschichtlichen Situationen anwendbare Waffe ist". In diesem Passus hatte also die Genossin Roland-Holst ausdrücklich jenen Gesichtspunkt hervorgehoben, den der „Vorwärts" bei ihr vermisste, und jene Auffassung abgelehnt, die der „Vorwärts" ihr vorwirft.

Was antwortet dieser mir darauf? Hält er mir nun Zitate entgegen, aus denen er die Richtigkeit seiner Auffassung ableitet? Keine Zeile! Meinem ausführlichen Zitat begegnet er mit der allgemeinen Versicherung, er habe sich nicht geirrt. Außer diesem Zeugnis, das er der eigenen Glaubwürdigkeit ausstellt, weiß er nur noch zu sagen, die Verfasserin der Schrift bewege sich in Widersprüchen, was aber auch nur behauptet, mit keinem einzigen Zitat bewiesen wird.

Mit leeren Behauptungen wird meine Feststellung natürlich nicht erschüttert, die durch ein unzweideutiges Zitat belegt ist. Übrigens ist die Auffassung der Roland-Holstschen Schrift, die ich vertrete, auch die der anderen Referenten darüber in der Parteipresse, soweit sie mir zu Gesicht gekommen. Das konnte genügen. Aber ich glaubte noch ein Übriges tun zu müssen und wendete mich an die Verfasserin selbst. Diese schien mir am kompetentesten zur Entscheidung der Frage, wer sie verstanden. Sie antwortete mir folgendes:

Natürlich haben Sie in der Streitfrage mit dem ,Vorwärts' vollständig meine Absicht wiedergegeben. Wie der ,Vorwärts' dazu kommt, aus meiner Schrift herauszulesen, dass ich den Massenstreik als die Methode des proletarischen Klassenkampfes betrachte, ist mir unbegreiflich. Gegen eine solche Überschätzung, wie er durch die revolutionären, antiparlamentarischen Gewerkschafter stattfindet, ist die Schrift ja zum Teil gewandt. Auch habe ich mich gerade bemüht, den innerlichen Zusammenhang der verschiedenen Waffen des Proletariats und der verschiedenen Methoden des proletarischen Kampfes zu betonen, hervorzuheben, wie sie einander ergänzen."

Welcher Hochmut der Genossin Roland-Holst! Sie erfrecht sich, etwas ganz anderes geschrieben zu haben, als der „Vorwärts" aus ihrer Schrift „herausgelesen" hat. Eine arge „publizistische Unsitte"! Unsere Freundin ist offenbar schon auf demselben „tiefen Niveau persönlicher Reibereien" angelangt wie ich!

2. Die Diskussion des Massenstreiks

Indes, meine Polemik gegen die falsche Auffassung der Schrift durch den „Vorwärts", erschien ihm, wenn auch „hochmütig" und „höchst unzureichend", so doch noch diskussionsfähig. Dann aber sieht er mich Grässliches vollbringen und so „oberflächlich" und „unsachlich" werden, dass jede weitere Diskussion unmöglich wird und der „Vorwärts" sich mit hochgradiger Entrüstung begnügt. Hier versagt ihm selbst das, was er eine „sachliche" Widerlegung nennt, nämlich die emphatische Wiederholung der Behauptung, er habe sich nicht geirrt. Welches ist nun meine Missetat?

Nachdem der „Vorwärts" die Schrift der Genossin Roland-Holst falsch aufgefasst und kritisiert hat, geht er in seinem Artikel dazu über, die Diskussion des Massenstreiks überhaupt zu verpönen, und er tut dies in einer Weise, die meiner Ansicht nach nichts anderes verdient als Hohn und Spott. Ich habe allerdings gemeint, die Unhaltbarkeit der Logik des „Vorwärts" liege so klar zutage, dass es genüge, sie mit ein paar Worten zu kennzeichnen. Wenn das aber unserem Zentralorgan als bloße Polemik „persönlicher Herabsetzung" erscheint, kann ich auch sachlicher und gründlicher werden. Allerdings erfordert das einige Geduld unserer Leser.

Der Gewerkschaftskongress hatte den „Vorwärts" gezwungen, sich mit der Frage des politischen Massenstreiks zu beschäftigen. Am 8. Juni veröffentlichte er einen Artikel: „Gewerkschaft und Partei", in dem er unter anderem über den Massenstreik folgendes ausführte:

Dass die Gewerkschaftsorganisation mit dem politischen Massenstreik nichts zu tun haben will, halten wir für ganz richtig. Wir wünschen nicht, dass die politischen Aufgaben der organisierten Arbeiterklasse von den Gewerkschaften übernommen werden. … Hätte der Gewerkschaftskongress erklärt, wir haben lediglich gewerkschaftliche Aufgaben, in diesen Rahmen gehört der politische Massenstreik zur Erkämpfung politischer Rechte oder zur Verhinderung politischer Entrechtung nicht hinein, das überlassen wir der politischen Organisation der Arbeiter, dann hätte kaum jemand etwas dagegen einzuwenden. … Wozu haben wir denn die sozialdemokratische Propaganda? Deren Aufgabe ist es, die Köpfe zu revolutionieren und die Arbeiter reif zu machen für die Tat, sie dahin zu bringen, dass sie für die Erkämpfung politischer Rechte und Freiheiten im Notfall das Letzte wagen. … Also, wenn schon zugegeben wird, dass hier Fragen zur Erörterung stehen, deren Lösung der politischen Organisation zufällt (Abwehr von Gewaltstreichen der Reaktion), wozu verlangt man dann von den Gewerkschaften, sie sollten erklären, wie sie sich die Lösung denken? … Es ist dann erhebliches Gewicht darauf gelegt worden, dass den Gewerkschaften empfohlen wird, den politischen Massenstreik nicht zu diskutieren. Es ist ja nun dadurch die Partei nicht verhindert, dieses wie irgend ein anderes Kampfmittel zu diskutieren."

Hier wird also der Beschluss des Gewerkschaftskongresses nicht damit gerechtfertigt, dass die Diskussion des Massenstreiks überhaupt ein Nachteil ist, sondern damit, dass sie eine Aufgabe der politischen Organisation, der Partei sei, von der man verlangen darf, dass sie uns sage, wie sie sich die Lösung der Frage des Massenstreiks, der „Abwehr von Gewaltstreichen der Reaktion", denkt.

Als dann der „Vorwärts" am 25. Juni, also etwa zwei Wochen später, die Schrift der Genossin Roland-Holst besprach, hätte man annehmen dürfen, er werde diese Gelegenheit ergreifen, nun selbst als „führendes Organ" der übrigen Parteipresse bei dieser Lösung, wenn schon nicht voranzugehen, so doch mit Anstand nachzuhinken. Statt dessen erklärte er als einen „weiteren Fehler der Schrift" folgendes:

Kautsky fordert ausdrücklich in seiner Vorrede zum Diskutieren und Studieren des politischen Massenstreiks als Vorbereitung für kommende Kämpfe auf. Diese Aufforderung hat einen guten Sinn, wenn man dem politischen Massenstreik die hervorragende und entscheidende Rolle für die Arbeiterbewegung zuschreibt, wie es in der Schrift der Genossin Roland-Holst geschieht. … Dann mussten die Diskussionen über den Massenstreik allerdings in alle Kreise der Partei und der Gewerkschaften getragen werden, und es gäbe keine wichtigere Aufgabe als diese. In Wahrheit aber hat die Sozialdemokratie keinen Anlass, dem politischen Massenstreik die unbedingte und außerordentliche Bedeutung zuzuschreiben, auf welche die Betrachtungen der vorliegenden Schrift hinausgehen. Vielmehr besteht die Gefahr, dass durch das eifrige Studieren und Diskutieren solcher Frage die Phantasie der Arbeiterklasse auf unsichere Hoffnungen gerichtet und von wichtigen näher liegenden Aufgaben abgezogen wird … ganz abgesehen davon, dass das reichliche Reden von und Drohen mit der Revolution mehr geeignet ist, die reaktionären Zettelungen gegen die Arbeiterschaft zu stärken, als die Arbeiter zur Entschlossenheit zu erziehen für den Fall, wo es sich noch lange nicht um den endgültigen Sieg, wohl aber um die Abwehr von Angriffen auf bestehende Rechte handelt."

Am 8. Juni fand also der „Vorwärts", die Diskussion des politischen Massenstreiks sei eine Aufgabe der Partei, deshalb aber keine Aufgabe der Gewerkschaften Am 25. Juni dagegen erklärte er, wäre die Diskussion des politischen Massenstreiks so wichtig, wie die Genossin Roland-Holst und ich meinen, dann müsste sie in alle Kreise der Partei und der Gewerkschaften getragen werden. Es sei aber besser, wenn weder diese noch jene sich viel damit abgäben, denn durch das eifrige Studieren und Diskutieren derartiger revolutionärer Dinge werde die Arbeiterklasse von wichtigeren Aufgaben abgezogen und die Reaktion gestärkt.

Diese Ausführungen vom 25. stehen im vollstem Widerspruch zu denen vorn 8. Juni. Es scheint also, als sei man in der Redaktion unseres Zentralorgans bei der Diskussion über den Massenstreik noch nicht einmal so weit gekommen, sich darüber einig zu werden, ob, wo und wie eine solche Diskussion ratsam sei.

Aber noch sonderbarer als die Haltung des „Vorwärts" gegenüber der Frage, ob der Massenstreik überhaupt zu diskutieren sei, sind die Gründe, mit denen er schließlich vor der eifrigen Diskussion dieser Frage warnt. Einige davon haben wir schon kennen gelernt. Der eine davon ist der Hinweis auf die Gefahr, dass durch eine derartige Diskussion die „Phantasie der Arbeiterklasse auf unsichere Hoffnungen gerichtet und von wichtigen näher liegenden Aufgaben abgezogen wird".

Sollte diese Maxime Geltung in der Partei erlangen, dann muss gleich jede Diskussion verpönt werden, die über unsere nächstliegenden Aufgaben hinausgeht. Wenn schon der Massenstreik „unsichere Hoffnungen" erweckt, wie viel mehr dann unsere Endziele oder die Eroberung der politischen Macht, die Revolution! Über alle diese Themata dürfte nicht mehr gesprochen werden, wenn unser Zentralorgan Recht hätte. Und solche Argumente soll man ruhig hinnehmen oder gar noch ernsthaft und leidenschaftslos würdigen!

Und nun gar der folgende Satz, in dem darauf hingewiesen wird, dass „das reichliche Reden von und Drohen mit der Revolution mehr geeignet ist, die reaktionären Zettelungen gegen die Sozialdemokratie zu stärken, als die Arbeiterschaft zur Entschlossenheit zu erziehen usw." Als ich diesen Satz las, sah, wie im Jahre der glorreichen russischen Revolution das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie über die Revolution zu reden wagt, da stieg mir die Schamröte ins Gesicht. Dieser Satz war's, der meinen ganzen „Hochmut'' erregte, der mich zu der „Anmaßung" und dem „publizistischen Unfug" trieb, gegen eine derartige Sprache zu protestieren. Wenn ich dabei einen Fehler beging, so war es höchstens der, dass ich das nicht energisch genug tat.

Vor allem, verehrter Kollege vom „Vorwärts": wer hat mit der Revolution gedroht? Wo ist in einer Schrift der Genossin Roland-Holst, oder von mir, oder sonst einer sozialdemokratischen Untersuchung über den Massenstreik mit der Revolution gedroht worden? Es war eine Zeitlang ein Unfug der Staatsanwälte, jede Untersuchung über die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit einer Revolution als eine Drohung damit aufzufassen. Sie haben sich das abgewöhnen müssen, nun aber kommt das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie und sieht in der Diskutierung eines neuen Kampfmittels der Partei die Drohung mit der Revolution!

Aber schon das bloße „reichliche Reden" davon verursacht ihm Beklemmungen! Welche Seelenqualen müssen da seine Redakteure erdulden, die jetzt seit Monaten durch die russischen Vorgänge gezwungen werden, tagaus tagein aufs Reichlichste von der Revolution zu reden und dadurch die „reaktionären Zettelungen" zu stärken!

Die Stellung unseres Zentralorgans zur Revolution erhält eine weitere Beleuchtung in dem folgenden Argument:

Wir meinen, dass die Arbeitsverweigerung zu politischen Zwecken ein Kampfmittel der Arbeiterklasse ist. Es ist aber nicht ein Kampfesmittel, dessen Propagierung den obersten Grundsatz der sozialistischen Taktik aufheben ober stören oder nur irgendwie verschleiern darf. Der oberste Grundsatz der sozialdemokratischen Taktik ist und bleibt aber allerdings die Revolutionierung der Köpfe, die gerade darum, wie unsere Gegner gesagt haben, tödlich ist, weil sie sich der Gesetze bedient und durch Gesetze nicht unterdrückt werden kann."

Selbstverständlich haben wir an der Revolutionierung der Köpfe zu arbeiten. Wem fiele es ein, das zu leugnen? Aber was ist darunter zu verstehen? Aufklärung des Proletariats über seine Stellung in Staat und Gesellschaft, über die historischen Aufgaben, die ihm daraus erwachsen, über die Kräfte, die Mittel und Wege, die ihm zu deren Lösung zu Gebote stehen. Wie aber soll die Diskutierung oder Propagierung des Massenstreiks imstande sein, diese Aufklärung zu stören? Zu welchem Resultat dies Studium immer führen mag, es selbst muss zu einem wirksamen Mittel werden, die Revolutionierung der Köpfe zu fördern. Gestört kann diese Revolutionierung eher dadurch werden, dass man, wie der „Vorwärts", fürchtet, solche Studien würden die Phantasie der Arbeiter auf unsichere Hoffnungen richten und von näher liegenden Ausgaben abziehen.

In der Tat, wie kann man die Köpfe der Arbeiter revolutionieren, ohne ihr Interesse von den nächstliegenden auf ferner liegende Aufgaben zu lenken, ihren politischen Horizont zu erweitern und sie mit Hoffnungen für die Zukunft zu erfüllen? Freilich mit „unsicheren" Hoffnungen, aber sichere Hoffnungen gibt es einmal nicht.

Ich will nicht weiter die Theorie untersuchen, die der „Vorwärts" nun über die „allein wesentliche Taktik der Sozialdemokratie" aufstellt. worunter er das Streben versteht. die „uns noch verständnislos gegenüberstehenden Massen mit Verständnis zu erfüllen oder doch mindestens einen solchen Eindruck auf die öffentliche Meinung hervorzurufen, dass die wenigen Prozent derer, welche durch ihre bevorzugte Stellung in der heutigen Ordnung naturgemäß Feinde der Arbeiterbewegung und aller Volksrechte sind, zur Ohnmacht verurteilt werden".

Wie immer er sich einen Zustand vorstellen mag, in dem die „öffentliche Meinung" allein genügt, unsere Gegner „zur Ohnmacht zu verurteilen", auf jeden Fall bekommt diese famose „allein wesentliche" Taktik ein Loch schon im nächsten Absatz, der mit der Möglichkeit rechnet, dass unsere Gegner auf die öffentliche Meinung pfeifen und es wagen, uns mit Gewalt alle „Wege der Gesetzlichkeit zu versperren".

Was dann? Man sollte meinen, wer mit dieser Möglichkeit rechnet, sollte auch die Notwendigkeit einsehen, den Massenstreik eifrig zu diskutieren und zu studieren. Mitnichten:

Welche Mittel in solchen Fällen die geeigneten sind, das lässt sich nicht vorher studieren und nicht vorher diskutieren."

Das ist sicher richtig. Welche Mittel wir in jeder bestimmten Situation in Anwendung bringen, das hängt von dieser Situation ab und es wäre das Verkehrteste, was wir tun könnten, wollten wir jetzt schon bestimmen, was wir in Situationen, die wir gar nicht kennen, tun werden.

Aber darum handelt es sich bei der Diskussion des Massenstreiks gar nicht. Nicht, welche Mittel wir anwenden wollen und werden, sondern welche Mittel wir eventuell anwenden können, welche Mittel überhaupt und zu Gebote stehen, das ist die Frage. Wir haben zu untersuchen, ob der politische Massenstreik unter bestimmten Verhältnissen ein wirksames Mittel des Kampfes sein kann, nicht aber uns zu verpflichten, ihn unter allen Umständen anzuwenden. Wer das Bewusstsein hat, großen Kämpfen entgegen zu gehen, muss vorher seine Waffen prüfen. Die Anwendung der Waffen ist dann eine Frage für sich, mit der ihre Prüfung nichts zu tun hat. Auf jeden Fall aber muss die Prüfung der Anwendung vorausgehen.

Der „Vorwärts" dagegen hält sich – unglaublich aber wahr! – lieber an das umgekehrte Verfahren. Wenige Zeilen, nachdem er erklärt, man könne nicht vorher die Mittel diskutieren, die man anwenden werde, wenn uns die Gesetzlichkeit versperrt sei, erklärt er:

Ist dieser Widerstand (,gegen einen Staatsstreich') nicht genügend stark, so ist für die Arbeiterschaft jedes Mittel des Kampfes gerechtfertigt, so ist insbesondere die Arbeitsverweigerung, die Stilllegung der Produktion und des Verkehrs Pflicht aller Staatsbürger."

Also ohne jede Diskutierung der Bedingungen und Möglichkeiten des Massenstreiks dekretiert er sofort eine allgemeine Verpflichtung, ihn in einem bestimmten Falle anzuwenden.

Indes geht der „Vorwärts" noch weiter. Genosse Katzenstein hatte die Arbeiter Lübecks aufgefordert. die Wahlverschlechterung mit dem Generalstreik zu beantworten. Was bemerkt der „Vorwärts" dazu, der die eifrige Diskutierung des Massenstreiks in der Arbeiterschaft gefahrvoll findet? Er hat gegen die sofortige Anwendung des Massenstreiks nur das eine einzuwenden: die Rückständigkeit der Arbeiter, die ihre politischen Freiheiten noch nicht genug zu schätzen wissen. Gäbe es nicht die Indifferenz der Arbeiter, der „Vorwärts" wäre bereit, sofort den Lübecker Generalstreik zu proklamieren!

Damit übertrumpft er freilich an „Radikalismus" eine ganze Reihe von Anhängern des Massenstreiks, die gerade durch dessen Studium und dessen Diskutierung zur Ansicht gekommen sind, ein vereinzelter, lokaler Versuch seiner Anwendung in einer Situation, wie der augenblicklich in Deutschland bestehenden, wäre ein kopfloses Abenteuer, das nur mit einer Niederlage enden könnte.

Aber der „Vorwärts" weiß uns noch in anderer Weise zu übertrumpfen.

Und er macht dabei zwei Entdeckungen, die seinen Beruf als führendes Organ der Partei glänzend demonstrieren, denn vor ihm ist keinem Genossen auch nur eine Ahnung derartiger Ideen gekommen. Während wir Toren, die wir den Massenstreik studieren und diskutieren, und mit der Untersuchung der Frage abmühen, welche Arbeiterkategorien dabei wohl in Betracht kämen, dekretiert der „Vorwärts" gleich frisch den Streik allerStaatsbürger. Also zum Beispiel auch der Bauern. Wie die sich beeilen werden, ihr Rindvieh nicht mehr zu füttern, um die Regierung auszuhungern!

Man kann wirklich nicht verlangen, dass wir diesen „Radikalismus" unseres Zentralorgans ernsthaft diskutieren!

Aber es hat noch eine zweite sublime Idee: Im Falle des Staatsstreichs, ruft es, „sind alle Mittel der Notwehr berechtigt", ist „jedes Mittel des Kampfes gerechtfertigt". Und das ist nicht eine gelegentliche Entgleisung, sondern eine taktische Entdeckung, auf die es sich besonders viel einbildet. Es wird nicht müde, sie zu wiederholen, und in seiner Erwiderung auf meine Kritik lässt es die Konstatierung fett drucken, der „Vorwärts" vertrete den Standpunkt, „dass nämlich in bestimmten Situationen das Proletariat jedes Mittel des Kampfes, nicht nur den politischen Massenstreik benutzen soll".

Aber dieser Aufwand an Druckerschwärze erinnert an die Ankündigungen mancher Haarwuchsmittel. Auch diese „alle Mittel" bleiben Geheimmittel, über deren Beschaffenheit der „Vorwärts" kein Sterbenswörtchen verlauten lässt. Und doch wäre das so wichtig! Wenn die Frage des Massenstreiks heute die Geister in der Partei immer mehr beschäftigt, so geschieht es, weil man immer mehr zur Ansicht kommt, dass diese Art Streik das einzige Gewaltmittel darstellt, das dem modernen Proletariat in einem entwickelten kapitalistischen Staate zu wirksamem Massenkampf bei versagendem Parlamentarismus, bei der Abwehr von Gewalt zu Gebote steht. Eifrig haben wir alle noch nach einem anderen Mittel ausgeschaut, das in solchen Situationen verwendbar wäre – vergebens. Der „Vorwärts" aber hat nicht bloß ein anderes, sondern gleich eine ganze Reihe anderer Gewaltmittel für Fälle der Notwehr parat, er spricht von allen Mitteln neben dem Massenstreik. Ist es Bescheidenheit, die ihn hindert, mit dieser epochemachenden Erfindung vor die Öffentlichkeit zu treten?

Oder sollte der Satz von „allen Mitteln" so zu verstehen sein, dass im Falle eines Staatsstreichs das Proletariat berechtigt sei, alle Mittel der Gewalt anzuwenden, die ihm gerade in den Sinn kommen, wie unzweckmäßig sie auch für unsere Situation sein mögen? Dass es dann „berechtigt" ist, auf die Barrikaden zu steigen, Bomben zu schmeißen, Paläste und Fabriken anzuzünden?

Der Wortlaut des Satzes würde diese Deutung rechtfertigen. Aber ich nehme an, dass der Satz so nicht gemeint war.

Auf jeden Fall wäre es höchst wünschenswert, wenn unser Zentralorgan diese seine taktische Erfindung näher erklärte, sonst könnten böse Menschen noch auf die Idee verfallen, der Verfasser dieses Satzes habe bei seiner Niederschrift vielleicht sehr energisch und radikal empfunden, aber gar nichts gedacht.

Damit sind die Gesichtspunkte erschöpft, die unser Zentralorgan zur Frage des politischen Massenstreiks vorzubringen hat. Da ihm ihre erste Beleuchtung durch mich zu „oberflächlich" und „höchst unzureichend" erschienen war, hoffe ich jetzt, seinem Bedürfnis nach ausreichender Gründlichkeit wenigstens einigermaßen Genüge geleistet zu haben. Ich muss es nun den Parteigenossen über lassen, zu beurteilen, ob ich dem „Vorwärts" unrecht getan habe mit der Behauptung, seine Behandlung des Massenstreiks habe deutlicher als je seine Unfähigkeit erwiesen, in seiner jetzigen Form der Partei in inneren Parteifragen als führendes Organ zu dienen.

3. Die Tagesordnung des Parteitags

Ich hatte meinen anmaßenden Hochmut so weit getrieben, dem „Vorwärts" gegenüber derselben Ansicht zu sein wie der Parteivorstand und dessen Vorschlage zur Tagesordnung für Jena für gerechtfertigt zu erklären. Auch dies hat mir eine strenge Zensur des „Vorwärts" zugezogen in einem Artikel: „Ein Haufen Unrichtigkeiten". Ich gedenke jedoch nicht, diesen Artikel ebenso eingehend zu beantworten wie den vorhergehenden. Er bietet zu geringen Anlass zu sachlichen Auseinandersetzungen, ist vorwiegend persönlicher Natur, sucht zu erweisen, dass ich an „bösartigen Unrichtigkeiten" meine Freude finde, also böswilligerweise dem „Vorwärts" mit Unrecht alles mögliche Schlechte in die Schuhe schiebe. Derartige Unterhaltungen über die Auslegung dieses oder jenes Satzes sind für den Leser selten interessant, nie belehrend. Ich will mich damit begnügen, an einem Beispiel zu zeigen, welcher Art die „bösartigen Unrichtigkeiten" sind, die der „Vorwärts" in meinem Artikel findet. Er schreibt:

Unsere Meinung über den Dresdener Parteitag ,hätte absolut keinen Sinn, sagt Kautsky, wenn der „Vorwärts“ nicht der Meinung wäre', die Sozialdemokratie müsste der Regierung entgegenkommen, müsste versuchen, Konzessionen gegen Konzessionen einzutauschen.“ Besessen von der Furcht des Kompromissgespenstes, vermag Kautsky den klaren Sinn unserer Ausführungen nicht zu erfassen. Wie kann Kautsky uns zumuten, auf das auszugehen, was er uns unterstellt? Nicht ein Wort unseres Artikels kann Anlass zu solchen groben Missdeutungen geben."

Fürwahr, ist das nicht richtig? Hat der „Vorwärts" nicht den nachdrücklichsten Kampf gegen die Regierung gefordert? Wie komme ich dazu, ihm die Meinung unterzuschieben, die Sozialdemokratie müsse der Regierung entgegenkommen? Wenn es jemals eine bösartige Fälschung gegeben hat, so liegt sie hier vor!

Dem will ich nicht widersprechen, nur darf man diese Fälschung nicht mir zur Last legen, denn den Satz, den der „Vorwärts" mir in den Mund legt, habe ich nie ausgesprochen. Mein Satz lautet vielmehr folgendermaßen (ich stelle das Zitat im „Vorwärts" und den wirklichen Satz in der „Neuen Zeit" nebeneinander):

Vorwärts"

Unsere Meinung über den Dresdener Parteitag ,hätte absolut keinen Sinn, sagt Kautsky, wenn der „Vorwärts“ nicht der Meinung wäre', die Sozialdemokratie müsse der Regierung entgegenkommen, müsste versuchen, Konzessionen gegen Konzessionen einzutauschen.“

Neue Zeit".

Diese Auffassung hätte absolut keinen Sinn, wenn der ,Vorwärts' nicht der Meinung wäre, durch eine andere, mehr ,positive' Gestaltung der Tagesordnung (des Dresdener Parteitags) hätten sich praktische Erfolge aus dem Wahlsieg ziehen lassen."

Von Entgegenkommen an die Regierung also kein Wort. Es hätte auch keinen Sinn, an einer Stelle, wo ich gegen den „Vorwärts" deshalb polemisiere, weil er behauptet, dass der Dresdener Parteitag „schon durch seine Tagesordnung sich gehindert hat, der großen politischen Situation gerecht zu werden".

Freilich, ganz frei erfunden ist der Satz vom „Entgegenkommen an die Regierung" nicht; er findet sich in demselben Artikel, aber in einem anderen Zusammenhang. Der Anfang des im „Vorwärts" als meine „bösartige Unrichtigkeit" zitierten Satzes findet sich in einer Fußnote, in der ich gegen den „Vorwärts" wegen seiner Bemängelung der Tagesordnung polemisierte, der Schluss, die Worte vom „Entgegenkommen an die Regierung“ usw. finden sich im Texte, den ich einige Tage vor der Fußnote schrieb, wie in dieser erwähnt. Dort erwäge ich anlässlich einer Polemik gegen Herrn v. Gerlach und andere Kritiker der Partei, ob es für diese möglich gewesen wäre, den Dreimillionensieg vom 16. Juni zu positiven Erfolgen auszunutzen, wie jene Herren behaupten, und warf die Frage auf, durch welche Mittel das hätte erreicht werden können. Da fuhr ich nun fort: „Durch ein Entgegenkommen gegen die Reichsregierung, durch den Versuch, Konzessionen gegen Konzessionen einzutauschen? Jeder derartige Versuch, wenn er gehegt worden sein sollte, wurde allerdings in Dresden im Keime erstickt."

Hier stellte ich es also als fraglich hin, ob überhaupt irgend jemand in der Partei eine derartige Politik wünschte. An den „Vorwärts" dachte ich dabei gar nicht und ließ mir nicht träumen, dass dieser inzwischen ein neues Mittel entdeckt habe, den Dreimillionensieg zu „positiven Erfolgen" auszunutzen, nämlich eine „richtigere" Gestaltung der Tagesordnung in Dresden, worüber ich dann einige Bemerkungen in der Fußnote hinzufügte. Die Art. wie dann der „Vorwärts" Worte des Textes und der Fußnote zu einem Satze zusammenkoppelt. ist reine Arbeit einer fruchtbaren Phantasie. Ich habe jedoch nicht die Absicht, nun meinerseits den Spieß umzudrehen und ihm „bösartige Unrichtigkeiten", das heißt böswillige Fälschungen vorzuwerfen. Ich zweifle nicht im mindesten an dem guten Glauben meines Kritikers im „Vorwärts". Und ich beschwere mich auch gar nicht über seinen Irrtum. Warum soll es mir besser gehen als der Genossin Roland-Holst und der „Vorwärts" nicht auch aus meinen Schriften „einen Haufen Unrichtigkeiten" herauslesen?

Von sachlichem Interesse ist in diesem „Haufen" nur der Hinweis auf die früheren Kongresse, die angeblich die Auffassung des „Vorwärts" bestätigen. In seinem Leitartikel vom 6. Juli über die Tagesordnung des Parteitags hatte er behauptet:

Es hat sich nach unserer Überzeugung … ein grundsätzlicher Irrtum in die Parteitage eingeschlichen. Unsere Parteitage werden ausgefüllt durch die Erledigung der Verwaltungsangelegenheiten und die Beratung über innere Parteifragen. Dagegen ist die politische Stellungnahme der Partei zu den Ereignissen der Zeit zurückgedrängt worden und geradezu gänzlich entschwunden."

Diese Tendenz soll sich seit dem Dresdener Parteitag geltettd machen.

In dem „Haufen“artikel vom 10. Juli will der „Vorwärts" das erweisen, indem er sich auf „das sozialdemokratische Muster der früheren Parteitage" beruft:

Die Partei hat behandelt: auf dem Parteitag zu Köln 1893 ,Das allgemeine Wahlrecht und die Wahlrechte zu den Landtagen', zu Frankfurt a. M. 1894 ,Die Bedeutung der Trusts, Ringe, Kartelle usw. in unserer wirtschaftlichen Entwicklung'; zu Breslau 1895 ,Schwitzsystem, Hausindustrie und Arbeiterschutz'; zu Gotha 1896 ,Frauenagitation', zu Hamburg 1897 ,Die bevorstehenden Reichstagswahlen'; zu Stuttgart 1898 ,Das Koalitionsrecht' (Zuchthausvorlage), ,Bergarbeiterschutz', ,deutsche Zoll- und Handelspolitik', zu Mainz 1899 ,Die Weltpolitik', ,Die Verkers- und Handelspolitik', zu Lübeck 1900 ,Zolltarif und Handelsverträge', ,Die Wohnungsfrage', zu München 1901 ,Arbeiterversicherung', ,Kommunalpolitik'.“

Diese Aufzählung beweist gar nichts. Nicht darauf kommt es an, was in der Tagesordnung eines Kongresses steht, sondern darauf, was seine Verhandlungen beherrscht, ihnen ihr Gepräge gibt. Wenn das nicht der Fall wäre, könnte man die Auszählung ruhig fortsetzen: Bremen 1904: Kommunalpolitik

Sehen wir einmal unsere früheren Parteitage darauf hin an, was ihnen ihr Gepräge gab, ob die politische Stellungnahme der Partei zu den Ereignissen der Zeit früher auf ihnen mehr hervortrat wie jetzt, ob Verwaltungsangelegenheiten und innere Parteifragen früher eine geringere Rolle auf ihnen spielten als jetzt. Das ist die Frage, darin soll der grundsätzliche Irrtum liegen, den unser Zentralorgan in unseren Parteitagen entdeckt haben will. Es hieße die Frage völlig verschieben, wollte man sie jetzt dahin zuspitzen, ob früher überhaupt auf den Parteitagen noch andere Dinge verhandelt wurden als Verwaltungsangelegenheiten und innere Parteifragen.

Unser erster Parteitag, nach dem Fall des Sozialistengesetzes, der von Halle, 1890, zeigte sich schon von dem gleichen „grundsätzlichen Irrtum" durchseucht wie die vorgeschlagene Tagesordnung für Jena. Beide Tagesordnungen laufen fast parallel. Beide gelten der Organisation der Partei und der Diskussion eines Kampfmittels: 1890 „Streiks und Boykotts", 1905 „Der Massenstreik". Einen sehr erheblichen Teil der Verhandlungen füllten die Diskussionen über die Tätigkeit der Reichstagsfraktion aus, die namentlich durch die „Jungen" die schärfsten Anfeindungen erfuhr. Dagegen war von einer „politischen Stellungnahme zu den Fragen der Zeit" überhaupt keine Rede.

Ebenso wenig 1891 in Erfurt. Verwaltungsangelegenheiten und innere Parteifragen beherrschten diesen Kongress so sehr, dass er nicht einmal dazu kam, das neue Programm zu diskutieren, sondern es ohne Diskussion akzeptierte.

Nun 1892, Berlin. Wieder derselbe „grundsätzliche Irrtum", der sich angeblich erst seit Dresden „eingeschlichen" hat. Beherrscht wird der Kongress durch innere Parteifragen, namentlich durch die Diskussion über die von Vollmar angeregte Frage des Staatssozialismus und über unsere Stellung zum Genossenschaftswesen.

Der „Vorwärts" beginnt denn auch seine Berufung auf unsere Parteitage erst mit dem Jahre 1893. Aber auch da war's nicht besser. Eine innere Parteifrage erfüllte den Kölner Kongress, eine Frage, die auch jetzt nach dem jüngsten Kölner Kongress uns wieder lebhaft beschäftigt: das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaft. Daneben wurde allerdings auch das „allgemeine Wahlrecht und die Wahlrechte zu den Landtagen" behandelt, aber ganz kurz. Von den 285 Seiten des Protokolls nimmt dieser Gegenstand nicht ganze 16 ein, dagegen 43 Seiten die Gewerkschaftsfrage, 56 Seiten Verwaltungsangelegenheiten.

Dabei kann man aber die Frage der Wahlrechte zu den Landtagen auch zu den „inneren Parteifragen" rechnen. Damals wurde zum ersten Mal jenes Problem diskutiert, das uns seitdem so viel beschäftigt hat und noch nicht völlig zur Ruhe gekommen ist, die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen.

Nun 1894, Frankfurt. Der „Vorwärts" verweist aus die dortigen Verhandlungen über Trusts und Kartelle. Aber er vergisst, dass viel mehr als diese Verhandlungen die Diskussionen über die badischen Stegmüllereien und über die bayerische Budgetbewilligung den Parteitag erfüllten, daneben aber die Debatte über das Agrarprogramm, also auch eine innere Parteiangelegenheit.

Und gar erst 1895, Breslau. Merkt der „Vorwärts" denn gar nicht, wie komisch es wirkt, wenn er auf die Breslauer Verhandlungen über das Schwitzsystem hinweist als Beweis dafür, dass erst in neuester Zeit die Stellungnahme zu den „Fragen der Zeit" erstickt wurde durch die Diskussion von „inneren Parteiangelegenheiten"? Hat er noch nie etwas von der Agrardebatte gehört. die diesen Kongress fast völlig erfüllte? Dem Schwitzsystem sind 6 Seiten des Protokolls gewidmet, der Diskussion über die Vorschläge der Agrarkommission 78! In der Tat, aus dem „Vorwärts" lernt man die Parteigeschichte in sonderbarer Weise kennen.

Aus der Tagesordnung des Gothaer Kongresses, 1896, weiß der „Vorwärts" selbst keinen anderen Punkt herauszufinden als den: „Frauenagitation“. Aber mit Verlaub, gehörte der nicht mindestens ebenso sehr zu den „inneren Parteifragen" wie der Massenstreik? Oder bedingt die Debatte über diesen nicht ebenso viel Stellungnahme zu den Ereignissen der Zeit als die Diskutierung der Frauenagitation? Gerade der Gothaer Kongress gehörte aber zu denjenigen, in denen die „Verwaltungsangelegenheiten", namentlich Fragen der Parteipresse, besonders stark in den Vordergrund traten.

Folgt 1897, Hamburg. Der „Vorwärts" weist auf den Punkt: „Die bevorstehenden Reichstagswahlen" hin als einen, der beweise, dass damals die Stellungnahme zu den Fragen der Zeit die Verwaltungsangelegenheiten und inneren Parteifragen überragte. Aber leider gestaltete sich gerade die Behandlung dieses Punktes wesentlich zu einer Diskussion innerer Parteifragen, einmal zu der unseres Verhältnisses zu dem polnischen Proletariat, und dann zu einer „Abrechnung" mit Schippels Anschauungen vom Militarismus. Daneben aber erhielt der Parteitag sein Gepräge durch die Diskussion über die innere Parteifrage der Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen.

Es wäre zu ermüdend, die Liste weiter fortzuführen. Die neueren Parteitage sind ja allenthalben noch in frischer Erinnerung, und jeder weiß, wie sehr sie von Stuttgart bis Dresden von „inneren Parteifragen" erfüllt waren, von Diskussionen über die Beteiligung an den Landtagswahlen, Budgetbewilligungen, Revisionismus und dergleichen.

Man sieht, von Anfang an, seit dem Fall des Sozialistengesetzes – und für die Zeit vorher gilt dasselbe – haben unsere Parteitage stets das gleiche Gepräge gehabt, sie zeigen alle den gleichen „grundsätzlichen Irrtum", den unser Zentralorgan beklagt, und wenn es vermeint, er habe sich erst neuerdings in die jüngsten Parteitage eingeschlichen und bedeute eine Verleugnung alter, ruhmreicher Traditionen, so beweist das nichts geringeres, als ein völliges Verkennen des Wesens unserer Partei und ihrer Geschichte.

Die Erledigung innerer Parteifragen war stets eine der wichtigsten Aufgaben, wenn nicht die wichtigste, unserer Parteitage, wie auch das Bestehen innerer Parteifragen keineswegs eine Ausgeburt neuester Parteischlechtigkeit ist, sondern auch die „gute alte Zeit" unserer Partei kennzeichnete. Was sich dabei geändert hat, ist nur die Haltung des „Vorwärts" zu diesen inneren Parteifragen.

Beim Durchblättern der alten Protokolle bin ich da auch wieder auf das Referat gekommen, das Liebknecht 1892 hielt, als Vollmar einige Äußerungen über den Staatssozialismus getan, die sehr bedenklich erschienen, worauf der „Vorwärts" sofort entschieden dagegen aufgetreten war. Als Referent sagte Liebknecht darüber:

Es ist gegen mich vielfach der Vorwurf erhoben worden, dass ich diesen Streit vom Zaune gebrochen habe, man hat sogar. davon gesprochen, dass für mich persönliche Momente maßgebend gewesen seien. Das ist nicht der Fall. Wenn der Vorwärts. diese Polemik begonnen hat, so ist er nach meiner innersten Meinung hierzu verpflichtet gewesen, und die Ausführlichkeit der Debatte, welche sich in der Presse entsponnen hat, zeigt, wie notwendig es war, die Frage aufzuwerfen, auf dass Klarheit geschaffen werde. … Wir sind die Partei der freien Kritik. In dieser freien Kritik, die, um frei zu sein, auch scharf geübt werden muss, liegt ein Moment unserer Stärke."

Wie ganz anders der „Vorwärts" von heute! Was damals Liebknecht vorgeworfen wurde, das wirft er heute jedem von uns vor, die wir im Liebknechtschen Sinne uns im Innersten verpflichtet fühlen, Kritik zu üben. Seit dem Vorabend von Dresden liebt er es, uns anzuklagen, dass unsere Kritik zu scharf sei, dass wir die „Streitigkeiten" vom „Zaune" brechen, dass für uns „persönliche Motive" maßgebend seien. Der „Haufen"artikel schließt mit der Beschuldigung, dass ich die Diskussion auf das „tiefe Niveau persönlicher Reibereien" herabdrücke, und so meint auch wieder Kurt Eisner in einem Artikel über den „guten Ton" vom 12. August, die „Parteistreitereien" seien nur noch „persönliche Literatenreibungen".

Aber es wäre freilich zu viel verlangt, wollte man fordern, dass der „Vorwärts" die Konsequenzen derartiger Beschimpfungen selbst erkenne. Seine Unfähigkeit, in den inneren Parteifragen führend und befruchtend durch sachliche Vertiefung voranzugehen, und seine seit Dresden immer wieder erneuten Hinweise darauf, dass diese Fragen nur frivoler Literateneitelkeit und Gehässigkeit entspringen, bringen ihn immer mehr in Gegensatz zu jenen, denen diese Fragen als Lebensfragen der Partei erscheinen, und bewirken, dass er ihnen immer mehr als ein die innere Klärung hemmendes und die daraus gerichteten Bestrebungen degradierendes Element erscheint, dessen Wirken in den inneren Parteifragen daher bei ihnen steigende Gereiztheit und Erbitterung erweckt, bis die übervolle Schale schließlich nur eines Tropfens bedarf, um überzuquellen. Trotzdem bleibt natürlich jede sachlich unberechtigte Kritik am „Vorwärts" verwerflich. Ja, selbst ihre sachliche Richtigkeit bedeutet nicht auch schon, dass sie politisch richtig, dass sie am Platze ist. Die schroffe Kritik einer so wichtigen Parteiinstitution, wie es das Zentralorgan ist, kann selbst wenn sie sachlich richtig, oder vielmehr gerade dann erst recht, lähmend und deprimierend wirken, also die Partei schädigen, wenn sie rein negativ bleibt. Dagegen wird sie befruchtend und erhebend, wenn sie positiv ausgeht, die Möglichkeit zeigt und die Anregung gibt, die vorhandenen Fehler zu ändern und so die Kraft der Partei zu vermehren. So hätte ich mich denn auch sehr wohl bedacht, gegen unser Zentralorgan so schroff vorzugehen, wie ich es getan, wenn ich nicht glaubte, nicht bloß seine schwachen Seiten, sondern auch deren Gründe herausgefunden zu haben und so deren Beseitigung um so eher anzuregen, je schroffer meine Kritik wurde.

(Schluss folgt.)

(Schluss.)

4. Gefühlssozialismus und wissenschaftlicher Sozialismus

Der „Vorwärts" von heute ist nicht derselbe, der er in den ersten Jahren nach dem Sozialistengesetz war. Damals herrschte in ihm die ökonomische Denkweise vor. Seine Politik wurde von Leuten gemacht, die in Nationalökonomie und Wirtschaftsgeschichte wohl zu Hause waren und für die Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Politik das lebhafteste Interesse und größte Verständnis besaßen. Diese Zusammenhänge zu erfassen und darzustellen und dadurch das moderne gesellschaftliche und politische Leben zu begreifen und die Leser darüber aufzuklären, erschien ihnen als ihre Hauptaufgabe. Ihr Denken war ein vorwiegend wissenschaftliches, denn dies ist in der Sozialdemokratie, ja in der modernen Politik überhaupt, wesentlich ökonomisch-historisches Denken.

Heute überwiegt im „Vorwärts" das ethisch-ästhetische Denken. Es handelt sich diesem weniger um das Begreifen der Dinge als um das Aburteilen über sie. Es trachtet vor allem danach, starke moralische und ästhetische Wirkungen zu erzielen, dem Leser Abscheu gegen die Unmoralität und Hässlichkeit der bestehenden Zustände einzuflößen. Kann man die erstere Denkrichtung die des wissenschaftlichen Sozialismus nennen, so die zweite die des Gefühlssozialismus; nicht in dem Sinne, dass dessen Vertreter weniger wissenschaftlich gebildet wären oder weniger wissenschaftliche Interessen verträten, sondern in dem, dass ihnen in der Politik nicht wissenschaftliche Einsicht, sondern die Erzielung moralischer und ästhetischer Gefühle und Empfindungen die Hauptsache ist.

Um nur ein Beispiel zu geben, das uns gerade zur Hand – wir sammeln nicht „drei Jahre lang Berge von Material" gegen ein Parteiorgan –, sei auf den Artikel hingewiesen, den die Redaktion des „Vorwärts" zum zehnten Todestag von Friedrich Engels am 5. August veröffentlichte, neben persönlichen Erinnerungen von Bernstein und einer Auslese von Zitaten auf den Werken des Meisters. Der Artikel ist ganz „Stimmung". Über das, was Engels in seinem Leben geleistet, nur allgemeine Redensarten, wie die, dass jeder von uns zu „seinen Schülern und Jüngern" gehört – „in irgend einer Weise", wie er vorsichtig hinzufügt. Die einzige Tatsache, die wir aus dem Artikel erfahren, bezieht sich auf die Behandlung des Engelsschen Leichnams, die allerdings eines stimmungsvollen Reizes nicht entbehrt. Davon handeln drei Vierteile des einleitenden Artikels.

Ich habe natürlich nicht die Absicht. hier einen philosophischen Exkurs über den Gegensatz zwischen dem ökonomischen und dem ethisch-ästhetischen Denken in der Theorie des Sozialismus zu schreiben. Das kann um so weniger meine Absicht sein, als wohl das erste einen sehr präzisen Ausdruck in der marxistischen Theorie gefunden hat, das andere aber noch eines Theoretikers harrt, wenn es je einen solchen produzieren sollte.

Hier handelt es sich bloß um die Wirkung der beiden Denkarten auf unsere politische Praxis. Auch da geraten sie leicht in Gegensatz zueinander, der in ihrem Wesen begründet und daher unabhängig ist von dem Wollen der einzelnen Personen.

Natürlich will ich nicht behaupten, dass Ethik und Ästhetik dem Kampfe der Sozialdemokratie fern zu bleiben hätten. In der politischen Ökonomie hat die Ethik freilich nichts zu suchen, auch nicht indem auf sie begründeten wissenschaftlichen Sozialismus. Dieser hat die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erforschen. Wenn er daraus Schlussfolgerungen für die Zukunft zieht, so sind diese ebenso wenig aus ethischen Forderungen abgeleitet wie die praktischen Konsequenzen, welche die Hygiene aus ihren Forschungen ableitet. Aber der wissenschaftliche Sozialismus bildet nur die eine Seite der Sozialdemokratie; diese ist Einheit von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Kampf, und so wenig Ethik oder gar Ästhetik in die wissenschaftliche Forschung dreinzureden haben, so wichtig sind sie für den Klassenkampf des Proletariats. Keine Klasse kann in ihren Klassenkämpfen völlig der ethischen Mächte, der Hingebung und Begeisterung ihrer Anhänger für ihre Ziele entbehren, aber am allerwenigsten eine Klasse wie das Proletariat, das den Zwangsmitteln des Staates und der ökonomischen Abhängigkeit nur die einmütige Entschlossenheit der Massen entgegenzusetzen hat, die um so kraftvoller wirken wird, je stärker ihr ethisches Empfinden.

Aber auch das ästhetische Element kann im Klassenkampf, in der Politik eine große Rolle spielen. Politik und Kunst, namentlich Dichtkunst, haben mannigfache Berührungspunkte; beide suchen sie den Menschen auf das Stärkste zu erschüttern und zu erheben, beide müssen sie trachten, die Menschenseele aufs Tiefste zu ergründest und auszuschöpfen. Weit entfernt davon, dass politisch Lied ein garstig Lied, können Politik und Kunst einander auf das mannigfachste befruchten, kann die Politik dem Künstler die erhabensten Stoffe, die leidenschaftlichsten Antriebe geben, kann die Kunst die Kräfte des Politikers gewaltig steigern.

So scheint es, als müsste eitel Harmonie zwischen den beiden Denkweisen in der politischen Praxis herrschen. Aber tatsächlich können nicht beide gleichzeitig dominieren. Wo nicht das ökonomische wissenschaftliche Denken überwiegt und den ethischen und ästhetischen Faktoren ihre Ausgaben und Richtungen anweist, müssen diese mit jenem in Konflikt geraten. Das illustriert der „Vorwärts" in deutlicher Weise.

Schon in der Bewertung der Bedeutung der Tagesereignisse zeigt sich der Gegensatz zwischen dem wissenschaftlichen und dem Gefühlssozialisten. Was den einen aufs Höchste anzieht und interessiert, erscheint dem anderen oft unwichtig, ja bedeutungslos. Denn das, was die stärkste momentane Wirkung auf das Empfinden übt, ist nicht immer das, was Staat und Gesellschaft am nachhaltigsten und tiefsten beeinflusst.

Die Ereignisse und Fragen, die auf die Gesamtentwicklung die stärksten und dauerndsten Einwirkungen ausüben, sind oft unscheinbarer Natur, schwer zu erkennen sind meist nur durch eine Gedankenarbeit zu begreifen, die mit ethischen Wirkungen sehr wenig zu tun hat. Der Hinweis auf einen Wucherer, der erbarmungslos Existenzen vernichtet, wirkt ganz anders aufreizend als eine Theorie des Kapitals. Die ethisch wirksamsten Erscheinungen und Fragen sind aber jene, die an der Oberfläche der Dinge liegen. So wird der vorwiegend ethisch gerichtete Schriftsteller geneigt, die oberflächlichen, in die Augen fallenden, sensationellen Erscheinungen des Augenblicks für die politisch wichtigsten zu halten und alles Tiefergraben als eine Arbeit zu betrachten, die für die Politik wenig Bedeutung hat. Die Untersuchung der Bedingungen und Aussichten des Massenstreiks zum Beispiel erscheint ihm ganz unwichtig, solange dieser nicht vor der Türe steht. Ein Ruhstratprozess dagegen wird ihm zu einem Ereignis, dem man nicht genug Interesse und Aufmerksamkeit widmen kann.

Aber das Überwiegen des ethischen Interesses verführt den politischen Parteischriftsteller nicht bloß zur Oberflächlichkeit und Sensationssucht, zur Unterschätzung des Forschens nach den Gründen der Erscheinungen – was nicht verhindert, dass er in der Theorie für solche Arbeiten, wie für alle „Wissenschaft" und „Aufklärung" die größte Hochachtung bezeugt. Dieses Tiefergraben wird ihm in der Praxis off direkt ein Gräuel.

Nichts leichter, als die Menschen „ethisch" zu einigen, ihre moralische Entrüstung gegen bestimmte krasse Erscheinungen zu erregen. Diese Erscheinungen der Oberfläche sind in der Regel sehr einfache, und es ist meist nicht schwer, darüber, ob sie gut oder schlecht, zu einem Urteil zu gelangen. Nichts war zum Beispiel leichter, als die öffentliche Meinung der ganzen zivilisierten Welt gegen die Urheber der Judenmetzeleien von Kischinew [Chișinău] zu erregen. So träumt denn auch der „Vorwärts" davon, wir können einmal einen solchen Eindruck auf die öffentliche Meinung hervorrufen, dass nur „wenige Prozent" der Bevölkerung uns entgegen und diese wenigen Prozent durch ihre Isolierung „zur Ohnmacht verurteilt" wären.

Begnügt man sich dagegen nicht mit dem Verurteilen, sucht man zu begreifen, betrachtet man die abstoßenden, krassen Erscheinungen unserer Gesellschaft nicht für sich allein, sondern in ihren Zusammenhängen, sucht man ihre Gründe zu erforschen, sich darüber klar zu werden, wie weit und wie sie zu überwinden seien, da stoßen wir aus Fragen höchst komplizierter Natur, über die wir je nach der Vorbildung und der Klassenstellung zu den verschiedensten Anschauungen kommen. Greifen wir zum Beispiel zu einer anscheinend so einfachen Frage zurück wie den Judenmetzeleien von Kischinew. Nichts selbstverständlicher, als sich darüber zu entrüsten. Dagegen treten sofort die größten Differenzen auf, sobald man fragt: Woher rühren diese Erscheinungen, wie ist ihnen abzuhelfen? In welchem Zusammenhang stehen sie mit den politischen und sozialen Verhältnissen Gesamtrusslands, ja der Welt? Sollen wir nach der Assimilation der Juden streben, ihrem Aufgehen in der übrigen Bevölkerung oder nach ihrer ungehinderten Organisierung als selbständige Nation? Und wenn wir für letzteres sind, sollen wir ihre nationale Selbständigkeit in Russland fordern oder den Aufbau eines neuen Staates für sie? Aber alle diese Fragen hängen wieder zusammen mit der des russischen Absolutismus. Wo liegen die Wurzeln seiner Kraft, wie sind sie zu unterwühlen? Auch darüber treten die mannigfachsten Differenzen zutage.

Führt also die ethische Methode zur leichten Einigung der verschiedensten Elemente, so die ökonomisch-materialistische ebenso leicht zum Streite, zur Entzweiung selbst solcher Elemente, die zusammengehören. Da liegt es nahe, dass die erstere Methode sich in ihrer Wirksamkeit durch die zweite gestört und gehemmt sieht, dass sie dieser vorwirft, sie säe Zwietracht. wo jene vereinigt. dass sie alle die „inneren Parteifragen" zum Teufel wünscht, welche anscheinend nur dazu dienen, die einheitliche moralische Entrüstung zu stören, die sie hervorgerufen hat oder zu haben glaubt.

Diese Vorwürfe sind freilich unbegründet. Nicht die Einheitlichkeit der moralischen Entrüstung, der „öffentlichen Meinung" ist es, was die Welt bewegt und unsere Gegner zur „Ohnmacht verurteilt", sondern die Einheitlichkeit der Aktion. Die wird aber durch bloße moralische Entrüstung noch lange nicht geschaffen. Um noch einmal auf unser Beispiel zurückzukommen. Wenn je Einheitlichkeit in der öffentlichen Meinung der ganzen zivilisierten Welt herrschte, so war das der Fall gegenüber dem Gemetzel von Kischinew. Wurde aber dadurch der russische Absolutismus „zur Ohnmacht verurteilt"? Nicht ein Härchen wurde ihm dadurch gekrümmt, nicht ein Deut seiner Gewalt dadurch genommen, nicht einmal eine einzige russische Anleihe beim europäischen Finanzjudentum wurde verhindert.

Aber auch wo die „öffentliche Meinung", die moralische Entrüstung, stark genug ist, zu einer Aktion zu drängen, braucht diese noch lange nicht so einig zu sein wie die Entrüstung. Diese sagt nur, dass man etwas nicht will, dass man es verurteilt, aber sie sagt gar nichts darüber, was an dessen Stelle treten und wie es erreicht werden soll. Und die Anschauungen darüber werden um so mehr auseinandergehen, die Aktion wird um so zersplitterter sein, je weniger man vorher den „Streit" der theoretischen Diskussion gehabt und die Anschauungen geklärt hat.

In den romanischen Ländern ist die Spielart des ethischen Gefühlssozialismus weit stärker verbreitet, auch in der Tagespresse, und die belletristisch-ethische Politik spielt dort eine größere Rolle als bei uns. Aber gerade dort finden wir die stärkste Zersplitterung in der Organisation und Aktion. Die Einheitlichkeit der Organisation und Aktion, welche die deutsche Sozialdemokratie so rühmend auszeichnet, ist nicht zum wenigsten eine Folge davon, dass sie seit jeher dem vom „Vorwärts" bedauerten „grundsätzlichen Irrtum" huldigte, den inneren Parteifragen auf den Parteitagen wie in der Parteipresse das größte Interesse zu schenken. So wäre zum Beispiel auch in der Frage des Massenstreiks eine einheitliche Aktion von Partei und Gewerkschaften nur möglich nach den eingehendsten Diskussionen über seine Bedingungen und seine Taktik. Würden sich Partei und Gewerkschaften mit der Konstatierung begnügen, wie unser Zentralorgan bei seiner Kritik des Roland-Holstschen Buches, dass im Falle eines Staatsstreichs alle Mittel, also auch der Generalstreik, moralisch berechtigt, dass in einem solchen Falle sogar alle Staatsbürger zum Streik moralisch verpflichtet sind, würden sie nur diese moralische, ganz nichtssagende Seite der Frage ins Auge fallen und das Studium ihrer materiellen Seite als gänzlich belanglos ablehnen, so könnte wohl mancher „Parteistreit" vermieden werden, es würde aber am Tage der Aktion die einmütige moralische Entrüstung in ein kopfloses Chaos der Anwendung aller Mittel, auch der widersprechendsten und unzweckmäßigsten, hinauslaufen.

Das Überwiegen des ethischen, des Gefühlsmomentes in der Parteijournalistik zeitigt aber noch eine andere Erscheinung. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass es sehr leicht ist, über einzelne krasse Erscheinungen der heutigen Gesellschaft sittliche Entrüstung bei der großen Mehrheit der Menschen zu erregen. In der Tat sind ja alle Menschen im Durchschnitt sittlich gleich veranlagt und entrüsten sich in gleicher Weise über jede Scheußlichkeit, aus der sie keinen Nutzen ziehen. Wer empört sich nicht über die Abrackerung von Frauen und. Kindern, über die Behandlung der Kohlengräber durch die Grubenmagnaten usw.? Der „Vorwärts" hat recht, wenn er annimmt, zu dieser Entrüstung sei die ganze Bevölkerung durch die nötige Aufklärung zu bringen, „mit Ausnahme. der wenigen Prozent derer, die durch ihre bevorzugte Stellung in der heutigen. Ordnung der Dinge naturgemäß Feinde der Arbeiterbewegung und der Volksrechte sind". Das beweist aber nicht, dass nun mit Ausnahme dieser „wenigen Prozent" alle Volksklassen schon bei der augenblicklichen Schichtung der Gesellschaft für den Kampf der Sozialdemokratie zu gewinnen sind, sondern dass diese Entrüstung kein besonderes Kennzeichen des Sozialisten bildet; dass er sich in dieser Beziehung von der übrigen Volksmasse nur durch stärkere Intensität seines Empfindens auszeichnet. Was ihn aber von den Angehörigen aller anderen Parteien wie von der Masse der Indifferenten unterscheidet, das ist seine ökonomische Einsicht in den Zusammenhang dieser Scheußlichkeiten mit dem Gesamtprozess der heutigen Gesellschaft; das ist seine Erkenntnis, dass sie nur mit dieser selbst überwunden werden können.

Das ist natürlich eine Anschauung, die jeder Parteigenosse teilt, die ihn erst zum Parteigenossen macht. Aber sie kommt um so weniger zum Ausdruck, je mehr man einseitig in der Politik die ethische Seite hervorhebt, jene Seite, die uns nicht allein eigentümlich, sondern mit zahlreichen bürgerlichen Elementen, zum Beispiel den Philanthropen und Sozialreformern, sowie den bürgerlich Radikalen, ja selbst ausgesprochenen Reaktionären, frommen Christen und dergleichen gemeinsam ist.

Auch das macht sich im „Vorwärts" geltend, das heißt in jenen seiner Partien, von denen allein hier die Rede, in denen seine ethisch besonders veranlagten Redakteure zum Worte kommen – das sind aber gerade die leitenden Partien. Ohne dass ihr sozialistisches Empfinden irgendwie schwächer wäre, ohne irgend ein Bedürfnis nach Kompromisselei – ich betone das ausdrücklich, um nicht wieder von meinen Kollegen missverstanden zu werden – lassen sie doch in ihren Ausführungen häufig das spezifisch Sozialistische vermissen.

Als ein Beispiel aus der jüngsten Zeit sei der Artikel des „Vorwärts" vom August über den Katholikentag angeführt. Kein Satz darin, der spezifisch sozialdemokratisch wäre; der ganze Artikel könnte in der „Hilfe" oder der „Frankfurter Zeitung" ebenso gut stehen wie im Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie. Das ist kein Wunder, denn es sieht nur die oberflächlichsten Gründe der Macht des Klerikalismus, Gründe, die Deutschland besonders eigentümlich sind. Es sieht nicht, dass diese Macht überall zunimmt, und dass dies in letzter Linie der ökonomischen Entwicklung geschuldet ist. So ist auch seine Schlusserwartung ganz ungerechtfertigt, dass der Klerikalismus ohne jede ökonomische Umwälzung, durch bloße „Aufklärung" die Herrschaft über die „Massen" verlieren, damit aber auch für die herrschenden Klassen wertlos gemacht, für „alle" als „Kulturgeißel" gelten werde. Es ist nicht möglich, im Rahmen des vorliegenden Artikels die Irrigkeit dieser Anschauung nachzuweisen; es genügt, zu konstatieren, dass alle ökonomisch-materialistisch geschulten Denker der Sozialdemokratie einmütig zu der Überzeugung gekommen. sind, dass der Klerikalismus tiefe Wurzeln in den bestehenden ökonomischen Verhältnissen hat, die namentlich die Massen der versinkenden Klassen, Kleinbürgertum, Bauernschaft, an ihn ketten, dass erst in einer sozialistischen Gesellschaft seine Macht über diese Massen gebrochen werden kann.

Hätte der Artikelschreiber versucht, den ökonomischen Wurzeln des Klerikalismus nachzugraben, er wäre von selbst, ungezwungen zur Hervorhebung spezifisch sozialistischer Gesichtspunkt gekommen. Da er an der Oberfläche der Erscheinungen blieb, äußerte er nur Anschauungen, die auch ein bürgerlicher Demokrat entwickeln konnte.

Das ist natürlich nur ein Beispiel. Das Zurücktreten des spezifisch Sozialistischen gegenüber dem allgemein Demokratischen lässt sich durch einzelne Beispiele bloß illustrieren, nicht erweisen. Wer nicht den „Vorwärts" jahrelang liest und von selbst zu dieser Einsicht kommt, dem kann sie nicht zwingend erwiesen werden. Es ist aber eine Tatsache, dass zahlreiche Parteigenossen und nicht bloß eifersüchtige „Literaten", sondern auch Arbeiter zu der gleichen Anschauung gekommen sind, dass der „Vorwärts" die sozialistische Aufklärung zu sehr vernachlässigt. Die Klagen würden noch lauter werden, wenn nicht viele Mitarbeiter und einige seiner Redakteure in ökonomisch-materialistischem Sinne wirkten.

Nie war es dringender geboten als jetzt, die theoretische sozialistische Schulung in der Parteipresse in den Vordergrund zu stellen, nicht bloß ethische Entrüstung gegen Byzantinismus, Volksverdummung und Ausbeutung zu säen, sondern auch die Richtigkeit und Notwendigkeit des Sozialismus an den Tagesereignissen zu beleuchten und bereit tiefste ökonomische Triebkräfte nachzuweisen. Immer größer wird der Zuzug ungeschulter Elemente zur Partei und den Gewerkschaften, immer zahlreicher die praktischen Aufgaben hier und dort und immer geringer die Zeit, die dem einzelnen zu ruhigem Studium zu Gebote steht. Im Verhältnis zur Zahl der Parteigenossen und der Gewerkschaften nimmt unsere Bücher- und Broschürenliteratur an Bedeutung ab und wird verdrängt durch die tägliche Zeitung. Dieser fällt nun mehr als je die Ausgabe zu, theoretische Einsicht und sozialistisches Verständnis zu verbreiten, nicht bloß in wissenschaftlichen Beilagen, die von der Masse der Leser nicht beachtet werden, sondern gerade in jenen Gebieten, die der Aktualität gelten, der Politik, dem Gerichtswesen, den ökonomischen Kämpfen. Hier gilt es, die Blicke der Leser von den oberflächlichen Sensationen abzulenken, mit denen sie die bürgerliche Presse füttert, und ihnen Interesse einzuflößen für die Erkenntnis der tieferen, sozialen Zusammenhänge und ihrer Entwicklungsrichtungen.

Hier hätte der „Vorwärts" mit seinen großen Mitteln und allen den Möglichkeiten, die ihm sein Sitz in der Reichshauptstadt verleiht, vor allem die Pflicht, führend voranzugehen. Aber diese Ausgabe kommt bei ihm nicht minder zu kurz als die, in unsere inneren Parteifragen anregend und befruchtend einzugreifen. In unserer Provinzpresse ist im Allgemeinen weit mehr theoretisches Interesse und weit mehr das Bedürfnis nach Hervorhebung des spezifisch Sozialistischen wahrzunehmen als im „Vorwärts".

Das beruht natürlich nicht darauf, dass dessen Redakteure schlechte Sozialisten oder unfähige Köpfe sind, wohl aber darauf, dass sie, das heißt die ethisch-gerichteten unter ihnen, unter sozialistischer Aufklärung, unter der „Revolutionierung der Köpfe" etwas ganz anderes verstehen als die ökonomisch-materialistisch Denkenden in unseren Reihen.

Zu allen diesen Gegensätzen in der Auffassung der Art unserer Propaganda gesellt sich aber schließlich auch noch ein taktischer. Der Ethiker, der die Klassengegensätze nicht untersucht oder praktisch mitten in ihren Kämpfen drin steht, ist naturgemäß geneigt, das ethische Element auch bei den Gegnern zu überschätzen, deren ethischer Entrüstung größere Bedeutung beizulegen, als sie verdient. Das kann den „Vorwärts" freilich nur selten zur Überschätzung des deutschen Liberalismus führen, der zu kläglich ist und mit dem unsere Partei zu lange im Kampfe. Indessen hat es trotzdem der „Vorwärts" fertig gebracht, zum Beispiel zur Zeit des Bergarbeiterstreiks, auf die Kraft der öffentlichen Meinung der Bourgeoisie besondere Hoffnungen zu bauen. Am 11. Februar schrieb er: „Die öffentliche Meinung war so gut wie vollständig auf Seite der Streikenden. … Das ist wahrlich ein moralischer Erfolg, wie ihn deutsche Arbeiter noch nie errungen haben. Das, sollte man meinen, muss mit der Zeit auch materielle Folgen haben." Am schlimmsten aber äußerten sich die ethischen Illusionen des „Vorwärts" gegenüber dem französischen und russischen Liberalismus und brachten ihn in lebhafte Konflikte mit den Marxisten der genannten Länder.

Diese Andeutungen dürften genügen, zu zeigen, wie auch dort, wo die vorwiegend ethische Denkweise sich nicht zu einer besonderen Theorie und Taktik im Gegensatz zur ökonomisch-materialistischen verdichtet hat, wo sie vielmehr mehr Sache des Instinktes und Gefühls ist und nicht im Geringsten beabsichtigt, zur marxistischen Theorie und Taktik in revisionistischen Widerspruch zu treten: wie auch dort diese ethische Denkweise in Gegensatz zur ökonomisch-materialistischen geraten muss in der journalistischen Praxis, durch verschiedene Bewertung der Tagesereignisse, durch Vernachlässigung der sozialistischen Aufklärung, die durch Appelle an die moralische Entrüstung zurückgedrängt wird, durch steigende Verständnislosigkeit und Abneigung gegenüber der Erörterung innerer Parteifragen, endlich durch Überschätzung der Kraft und des guten Willens der „ethischen" Schichten der Bourgeoisie.

5. Persönliche Literatenreibungen

Die ethische Denkweise ist im „Vorwärts" sehr stark geworden, aber sie beherrscht ihn nicht ausschließlich. Neben dem ethischen finden wir auch das ökonomisch-materialistische Denkers in ihm stark vertreten, indes nicht so stark, dass es das erstere überwöge, dem „Vorwärts" seinen Charakter gäbe. Es dient nicht dazu, die aus der ersteren Denkweise entstammenden Schwächen aufzuheben, sondern eher dazu, sie noch zu verstärken. Das Bestehen des Gegensatzes in den beiden Denkweisen, der durchaus kein persönlicher ist und die Kameradschaftlichkeit nicht hindert. erzeugt einen hohen Mangel an Einheitlichkeit, einen der schlimmsten Missstände, der einem Organ anhaften kann, das bestimmt ist. führend zu wirken. Er erzeugt Unentschiedenheit. in allen inneren Parteifragen, Schwanken und Widersprüche in der Gesamtpolitik, lähmt das Organ auch dann, wenn der Gegensatz der beiden Richtungen nicht offen zutage tritt, was natürlich nur in äußersten Fällen vorkommt.

Nicht minder unerfreulich als dieser Gegensatz innerhalb der Redaktion ist aber der Gegensatz, der seit dem Vorherrschen der ethischen Denkweise in unserem Zentralorgan zwischen diesem und einem Teil unserer Parteigenossen erwachsen ist, gerade solchen Parteigenossen, die sich die Verbreitung und Vertiefung des ökonomisch-wissenschaftlichen Denkens in unserer Partei besonders angelegen sein lassen. Da der Gegensatz der beiden Denkrichtungen kein gelegentlicher, sondern ein ständiger ist. erzeugt er auch immer wieder Friktionen, so sehr beide Teile dieses Zustandea müde sein mögen und nach Ruhe verlangen.

Der „Vorwärts" möchte diese Friktionen mit seinen Kritikern gern als sinn- und zweckloses Werk bloßer persönlicher Ranküne und zwar speziell nur der „Leipziger Volkszeitung" erscheinen lassen. Aber außerhalb dieses Blattes empfinden zahlreiche Parteigenossen, denen die ökonomisch-materialistische Auffassung und die dieser entsprechende Schulung des Proletariats besonders am Herzen liegt, ganz in der gleichen Weise die Unzulänglichkeit des „Vorwärts". Und wenn die Kritiker des „Vorwärts" sich öffentlich äußern, sind sie nicht einmal immer der angreifende Teil – obwohl die Kritik naturgemäß stets nur angreifend, nie defensiv antreten kann.

Da der „Vorwärts" auch mir persönliche Kampfesweise vorgeworfen hat, seien hier meine Rencontres mit ihm seit einem Jahre kurz zusammengefasst. Sie geben ein Bild der sachlichen Berechtigung unserer Differenzen.

Die Äußerungen Bebels auf dem Amsterdamer Kongress über die Republik hatten auch mich zu einigen Äußerungen darüber veranlasst. Darob wurde ich von Kurt Eisner im „Vorwärts" vom 30. August 1904 angegriffen. Ich empfand das als einen vom Zaun gebrochenen Streit mit mir, aber selbstverständlich fiel es mir nicht ein, darüber zu klagen. Nur meine ich, brauchte deshalb Eisner nicht gerade, wie er es jüngst tat, derartige Diskussionen als „persönliche Literatenreibungen ohne Sinn und Zweck" den Parteigenossen zu denunzieren.

Zur Verherrlichung der französischen Bourgeoisrepublik brachte Eisner im Laufe der Diskussion die unglaublichsten Dinge über die trefflichen Richter Frankreichs, seine „antikapitalistische" Steuergesetzgebung und derartiges vor.

Das veranlasste mich, in der „Neuen Zeit" das Wesen der französischen Bourgeoisrepublik und ihren arbeiterfeindlichen Charakter in sieben ausführlichen Artikeln zu kennzeichnen. Ich vermied es fast vollständig, dabei nochmals auf die Eisnerschen Anzapfungen einzugehen, weil mir der persönliche Streit zuwider war, und beschränkte mich darauf, ein ausgedehntes Tatsachenmaterial vorzuführen. Ich liebe eben das „tiefe Niveau der persönlichen Reibereien"!

Aber Eisner begnügte sich nicht damit, die französische Bourgeoisrepublik zu verherrlichen. Er, der allen „persönlichen Literatenreibereien" so abhold ist, griff in seinen Artikeln ohne jede vorhergegangene Provokation unseren verdienten Parteiveteranen Jules Guesde aus das Schärfste an. Er behauptete, dass dessen „Taktik in jedem Punkte der deutschen Taktik widerspricht". „Mit einem solchen Guesde könnte, wenn er in Deutschland wirkte, die Sozialdemokratie niemals einig werden, er würde sich unter anarchistischen Eingängern verlieren. Kann man es da für möglich halten, dass auf Grundlage dieses Programms eine Einheit in Frankreich zustande kommen kann? Das ist unmöglich, und deshalb sollten wir im Interesse der französischen Einheit ernst und nachdrücklich gegen derartige Auffassungen Stellung nehmen. anstatt sie scheinbar zu unterstützen."

Wenige Wochen später war die Einigkeit in Frankreich perfekt, perfekt mit demselben und durch denselben Guesde, den Eisner so lebhaft als das Hindernis aller Einigung bezeichnete, und ohne dass dieser auch nur ein Wort von jenem Programm zurückgezogen hätte, von dem Eisner so entschieden behauptete, es mache die Einigung in Frankreich unmöglich.

Vielleicht noch nie hatten die Tatsachen einen unberechtigten Angriff, wie den Eisners aus Guesde, so rasch in seiner vollen Nichtigkeit enthüllt wie damals.

Soviel über diese „Literatenreibung". Und nun unsere nächste.

Die französische Regierung hatte ihre Offiziere auf ihre politischen Gesinnungen hin geheim bespitzeln lassen, und das war von den Klerikalen herausgebracht und an die große Glocke gehängt worden. Selbst ein großer Teil der eigenen Anhänger der Regierung fand ihr Spitzelsystem wenig anständig und bestritt bloß ihren klerikal-monarchistischen Anklägern das Recht, sich darüber zu entrüsten, da es deren eigene Methoden seien, die da angewendet würden. Der „Vorwärts" dagegen musste auch hier sich für die bürgerlich-republikanische Regierung einsetzen, rechtfertigte ihr Vorgehen, erklärte es für unbedingt notwendig zur Rettung der Republik. Er schloss aus den Kammerdebatten, die eine Mehrheit für die Regierung brachten, dass die „militaristische Reaktion eine entscheidende Niederlage erlitten habe", der Sturm auf den Kriegsminister abgeschlagen sei und das Ministerium fester stehe als je.

Mir erschien diese Auffassung sehr zweifelhaft. Die Enthüllungen waren so skandalös, dass sie das Ministerium trotz eines Augenblickssieges aufs Tiefste erschüttern mussten. Die Auffassung des „Vorwärts", wenn sie unwidersprochen blieb, erschien mir aber auch gefährlich, weil sie einmal, auch in Deutschland, gegen uns selbst gerichtet werden konnte.

Daher protestierte ich dagegen im „Vorwärts". Dessert Redaktion behielt natürlich das letzte Wort gegen mich, aber sie konnte nicht verhindern, dass die Ereignisse sie abermals ebenso desavouierten wie damals, als Eisner Guesdes Taktik für das unüberwindliche Hindernis jeder Einigung erklärt hatte. Kaum hatte unsere Diskussion einen Abschluss gefunden, da war auch schon nicht bloß der Kriegsminister, sondern die ganze radikale Regierung mit ihrem Latein zu Ende, um dem reaktionären Ministerium Rouvier Platz zu machen. Die Bespitzelung der Offiziere hatte nicht, wie der „Vorwärts" gemeint, das radikale Regime gerettet, sondern es unmöglich gemacht.

Das war im November. Aber mein unstillbarer Trieb nach „Literatenreibungen" ließ mich im Februar schon wieder gegen den „Vorwärts" polemisieren. Der „Vorwärts" hatte, verführt durch liberale Berichterstattung, sich etwas pessimistisch über die russische Revolution geäußert. Da hielt ich es für geraten, diese Befürchtungen zu zerstreuen in meinem Artikel der „Neuen Zeit" über die „Bauern und die Revolution in Russland". Ich darf wohl sagen, dass die seitherigen Erfahrungen meine damalige Auffassung bestätigten.

Dazu kam im März ein weiterer Differenzpunkt. Der „Vorwärts" hatte wiederholt, so im Januar, unsere russischen Genossen angegriffen, weil diese sich geweigert hatten, eine Konferenz einiger oppositionellen – teilweise liberalen – Organisationen in Paris zu beschicken. Er hielt die Teilnahme an dieser Konferenz für notwendig, um ein Stück „Erziehungswerk an den bürgerlichen Elementen" zu vollziehen. Endlich im März warf er, allerdings nur indirekt, den russischen Sozialdemokraten vor, dass sie nicht bereit seien, sich mit den Sozialrevolutionären zu vereinigen.

Diese ständigen Angriffe konnten kein anderes Ergebnis haben, als unsere russischen Genossen in den Augen des deutschen Proletariats zu diskreditieren Dabei waren sie sachlich völlig ungerechtfertigt. Die Pariser Konferenz, die dem „Vorwärts" so imponierte, blieb völlig bedeutungslos und zeitigte nicht die geringste Aktion. Nebenbei bemerkt: Heute schwärmen verschiedene der bürgerlichen Teilnehmer an dieser „revolutionären" Konferenz für eine „starre Regierung", manche davon organisieren sogar, wie mir mitgeteilt wird, gelbe Gewerkschaften und rufen die Polizei zur Niederschlagung der proletarischen Revolution auf. Zur Rechtfertigung der russischen Sozialdemokratie hielt ich es damals für notwendig, die deutschen Genossen über die Sachlage aufzuklären, und veröffentlichte meine Artikel darüber in der „Leipziger Volkszeitung" und in der „Neuen Zeit".

Dazu gesellten sich endlich unsere Differenzen wegen des Massenstreiks. Vom 22. bis 28. Mai hatte der Gewerkschaftskongress getagt und in der Parteipresse eine reiche Diskussion über das Verhältnis von Partei und Gewerkschaft und den Massenstreik entfesselt. Diese Diskussion hatte schon im Wesentlichen ihr Ende erreicht, als erst unser Zentralorgan auf dem Plane erschien mit seinem Leitartikel vom 8. Juni, der es sich zur Hauptausgabe stellte, die Verhandlungen des Gewerkschaftskongresses über den Massenstreik und die Fernhaltung der Politik von den gewerkschaftlichen Organisationen zu rechtfertigen – im Gegensatz zu der Auffassung der großen Mehrheit der übrigen Parteipresse. Dagegen wendete ich mich in meinem Vorwort zur Roland-Holstschen Broschüre, die den gegenteiligen Standpunkt vertritt.

Die Diskussion fand eine Fortsetzung durch die Besprechung dieser Broschüre im „Vorwärts" und meine Antwort darauf in der „Neuen Zeit".

Matt sieht, um welche „Kleinigkeiten" sich unsere „persönlichen Literatenreibungen ohne jeden Sinn und Zweck" drehten: um die französische Einigung, unsere Stellung zur Bourgeoisrepublik, die Mittel, die Republik zu retten, die russische Revolution, das Verhältnis von Partei und Gewerkschaft den Massenstreik – lauter Fragen, die von der ganzen internationalen Sozialdemokratie aufs Eifrigste diskutiert werden. Und ich verfocht dabei nicht persönliche Schrullen, sondern Anschauungen, die ich mit weiten und ernsten Parteikreisen gemeinsam hatte. Aber wenn man da in Konflikt mit unserem Zentralorgan gerät, steht dieses in solchen Diskussionen sofort bloße persönliche Reibereien, in denen es weder Zweck noch Sinn zu entdecken vermag. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn, statt sich ethisch zu entrüsten, tiefer zu graben und zu untersuchen, ob diese fortgesetzten Zusammenstöße nicht vielmehr dem Umstand zuzuschreiben sind, dass alle die Gebiete, aus denen sie erfolgen, in innerem sachlichen Zusammenhang stehen als Teile unseres großen Emanzipationskampfes und ob nicht unsere Anschauungen darüber so weit auseinandergehen, dass sie immer wieder feindlich aufeinanderstoßen müssen.

Ich sprach hier nur von mir, aber schon diese paar, mir besonders naheliegenden Beispiele zeigen, dass der „Vorwärts" auch in Kampf geriet mit den Marxisten Frankreichs, Russlands, wie er denn auch tatsächlich im Gegensatz steht zu allen entschieden marxistischen Elementen der internationalen Sozialdemokratie und nicht bloß zu denen von Leipzig.

Je länger dieser Zustand dauert, der sich historisch, unmerklich, gebildet hat, um so mehr häufen sich natürlich die Reibungen zwischen den gegensätzlichen Elementen, um so größer wird ihre gegenseitige Irritation, die dann nur zu leicht bei geeigneten und mitunter auch ungeeigneten Anlässen explodiert und sich in mehr oder weniger heftigen Tönen Luft macht, die sicher für den Zuhörer, sehr oft auch für den Beteiligten höchst unerquicklich sind.

Kein Zweifel, das sind Zustände, die, wenn sie fortdauern, die Partei schädigen müssen. Sie werden aber nicht dadurch beseitigt, dass die Parteigenossen nun ihrerseits in moralische Entrüstung verfallen, nach dem Karnickel suchen, das angefangen hat, und es gehörig abkanzeln. Möge diese Entrüstung die eine ober die andere Seite treffen, sie wäre in jedem Falle verfehlt und würde die Zustände nicht ändern.

Wir haben gesehen, dass die Wurzel der Unzulänglichkeit des „Vorwärts" in dem Überwiegen des ethisch-ästhetischen Gefühlssozialismus innerhalb seiner Redaktion zu suchen ist. Diese erzeugt Gegensätze in seinem Innern und damit Mangel an Einheitlichkeit. wir haben aber auch gesehen, dass das Überwiegen der ersteren Elemente ihn nicht nur daran hindert. seinen Aufgaben der sozialistischen Aufklärung und der geistigen Fortentwicklung der Partei gerecht zu werden, sondern auch die Grundursache seines Gegensatzes zu einer Reihe der wichtigsten Elemente der internationalen Sozialdemokratie geworden ist. Damit ist auch gesagt, in welcher Richtung wir die Heilung seiner schwachen Seiten zu suchen haben.

Wollte man ihn zur vollen Höhe seiner Aufgabe erheben, ihn zu einem allseitig berichtenden, auf allen Gebieten führenden Organ gestalten, dann müsste man trachten, in seiner Redaktion volle Einheitlichkeit herzustellen.

Aber viel wäre schon gewonnen, wenn es gelänge, das ökonomisch-wissenschaftliche Element in dieser Redaktion so zu stärken, dass es imstande ist, den inneren Parteifragen und der sozialistisch-ökonomischen Aufklärung zu dem ihnen gebührenden Rechte zu verhelfen.

Wenn die ethische Methode im „Vorwärts" nicht mehr dominierte, würde die Grundursache des dauernden sachlichen Gegensatzes verschwinden, der zwischen ihm und einer Reihe der eifrigsten und wichtigsten Parteiorgane besteht, damit aber auch die Irritation zwischen ihnen, die so peinlich geworden ist. Gelegentliche sachliche Differenzen würde es auch dann noch geben, müsste es geben – die inneren Parteifragen werden nicht aussterben. Aber die gegenseitige Reizbarkeit, das gegenseitige Misstrauen wird aufhören und damit der schlechte Ton, der nicht die Ursache, sondern die Folge der ständigen Reibereien ist.

Weiter zu gehen und bestimmte Vorschläge zu machen, steht mir nicht zu. Ich glaube meine Pflicht erfüllt zu haben, wenn ich den Parteigenossen darlegte, wo nach meinem Ermessen die Gründe der ewigen Kämpfe mit dem „Vorwärts" und um den „Vorwärts" zu suchen sind. Das Recht zu diesen Ausführungen glaube ich schon daraus abzuleiten, dass ich selbst in diese Kämpfe verwickelt bin und von ihnen den Parteigenossen Rechenschaft zu geben habe. Ich halte es aber auch für meine Pflicht, darüber zu reden als Parteigenosse, der, wie jeder andere Parteigenosse, das lebhafteste Interesse daran hat, dass unser Zentralorgan den großen Aufgaben, die ihm seine Stellung auferlegt, auch gerecht zu werden vermöge. In dieser meiner Pflichterfüllung lasse ich mich auch dadurch nicht beirren, dass das Zentralorgan selbst mich darob auf das „niedrige Niveau persönlicher Reibereien" versetzt.

Kommentare