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Karl Kautsky 19050705 Die Folgen des japanischen Sieges und die Sozialdemokratie

Karl Kautsky: Die Folgen des japanischen Sieges und

die Sozialdemokratie

[Nach „Die neue Zeit : Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 23.1904-1905, 2. Band.(1905), Heft 41-43, S. 460-465, 492-499, 529-537, 5., 12. und 19. Juli 1905]

1. Eine Revolution in Russland

Noch ist der Friede nicht geschlossen, noch schlagen die Völker tief unten in der Mandschurei aufeinander los, aber dennoch darf man den Sieg Japans heute schon als endgültig ansehen. Es kann sich nur noch darum handeln, wie groß der Siegespreis sein wird, der ihm zufällt, eine Frage, sehr wichtig für die Japaner und namentlich ihre herrschenden Klassen, aber von relativ untergeordneter Bedeutung für das internationale Proletariat.

Wie immer aber dieser Preis des japanischen Sieges ausfallen mag, auf jeden Fall muss er Konsequenzen für den proletarischen Emanzipationskampf nach sich ziehen, deren Bedeutung heute schon kaum überschätzt werden kann.

Vor allem, das ist ja das Nächstliegende und am meisten Auffallende, hat dieser Sieg den russischen Absolutismus so sehr ins Wanken gebracht. dass es für diesen unmöglich wird, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Man könnte sagen, die Theorie der Katastrophen und Zusammenbrüche feierte hier ihre schönsten Triumphe, wenn es eine solche Theorie gegeben hätte. Aber man darf sich durch die Begeisterung über diesen Zusammenbruch nicht verführen lassen, zu vergessen, dass er unmöglich wäre, ohne die unermüdliche langsame und unbemerkte Arbeit der Aushöhlung des Absolutismus, die jahrzehntelang vorhergegangen.

Nichts ist weniger berechtigt als das Trennen von unmerklicher Evolution und stürmischer Revolution, von Aushöhlung und Zusammenbruch. Beide gehören vielmehr notwendigerweise zusammen. Ohne Aushöhlung kein Zusammenbruch. Man darf nicht glauben, die Siege der Japaner allein verschuldeten die Katastrophe des russischen Absolutismus. Viele absolutistische Regierungen haben Unglück im Kriege gehabt und schmähliche Friedensbedingungen sich gefallen lassen müssen, ohne dass sie darüber zusammengebrochen wären. Nur die in langwieriger Aufklärungs- und Organisationsarbeit geschaffene Armee des kämpfenden Proletariats in Russland vermochte dessen Niederlagen zu einer Katastrophe des Absolutismus zu gestalten.

Gibt es aber ohne Aushöhlung keinen Zusammenbruch, so auch ohne Zusammenbruch keinen Sieg der aushöhlenden Klasse. Nur in einer gewaltigen Kraftprobe kann zutage treten, wie morsch die Stützen der herrschenden Klassen geworden sind, wie unfähig, den Stößen der aufstrebenden Klassen Widerstand zu leisten. Die stärkste Kraftprobe, die ein Regime auszuhalten hat, ist aber ein Krieg. Mit ehernem Besen fegt er hinweg, was aufgehört hat, lebensfähig zu sein. Es ist ein Unsinn, ihn, namentlich bei der modernen Waffentechnik, für ein Mittel der Auslese der tüchtigsten Individuen oder gar der Züchtung besonders erhabener moralischer Triebe zu erklären. Aber er bildet zweifelsohne in einer Gesellschaftsordnung, die auf Klassengegensätzen ausgebaut ist, ein machtvolles Mittel, gesellschaftliche und staatliche Formen aus dem Wege räumen zu helfen, die sich überlebt haben und kraftvollen aussteigenden Klassen die freie Entwicklung versperren. Insofern kann ein Krieg ein Mittel sein, das der sozialen Entwicklung dient, und unter den Kriegen, die eine solche Wirkung übten, verdient der russisch-japanische in erster Linie genannt zu werden.

Welches werden aber nun die nächsten Konsequenzen des Krieges für Russland sein?

Wir dürfen nicht den Illusionen der bürgerlichen Demokratie anheimfallen, die, blind für die Klassengegensätze, glaubt, das einzige, dessen ein absolutistischer Staat bedürfe, sei politische Freiheit, und mit deren Erringung habe die Revolution zu schließen. Noch ist die politische Freiheit nicht errungen, und schon sondern sich die Wege der. Liberalen und der Sozialdemokraten. Mit Recht hat die Genossin Luxemburg jüngst in der „Sächsischen Arbeiterzeitung" auf den offenen Brief hingewiesen, den der Exmarxist Struve, heute ein echter Liberaler, an Jaurès gerichtet. Das Kennzeichnende dieses Briefes ist das Verlangen nach einer starken Regierung, die Ordnung schafft. Der größte Vorwurf, den er der Autokratie zu machen weiß, ist der Hinweis darauf, dass diese nicht mehr imstande sei, die Volksmassen zu bändigen, so dass sie die Anarchie überhandnehmen lasse. Die Furcht vor der „Anarchie", das heißt vor der Erhebung der unteren Volksklassen, wird immer mehr der hervorstechendste Charakterzug der russischen Liberalen; dabei sind aber vielfach äußerlich Liberale und Sozialisten in Russland bisher so wenig scharf getrennt gewesen, das heißt haben sich russische Liberale so sehr als Sozialisten gefühlt, dass diese Furcht vor der Anarchie selbst in den sozialistischen Reihen hier und da einen Widerhall fand.*

Die Liberalen mögen nach einer starken Regierung schreien und dem zu wehrenden Chaos mit angstvoller Beklemmung entgegensehen, das revolutionäre Proletariat hat alle Ursache, es mit hochgespannten Hoffnungen zu begrüßen. Dies „Chaos", das ist nichts anderes als die Revolution in Permanenz. Die Revolution ist aber unter den heutigen Verhältnissen jener Zustand, in dem das Proletariat am raschesten reift, am vollkommensten seine intellektuellen, moralischen, ökonomischen Kräfte entwickelt, dem Staate und der Gesellschaft am tiefsten seinen Stempel aufprägt und die meisten Konzessionen von ihnen erringt. Kann auch diese dominierende Position des Proletariats in einem ökonomisch so rückständigen Lande wie Russland nur eine vorübergehende sein, sie schafft Resultate, die sich nicht wieder beseitigen lassen, und zwar um so größere und tiefer gehende, je länger sie dauert.

Bis heute wirken in Frankreich die Ereignisse der großen Revolution nach. Wenn das Proletariat trotz der relativen Schwäche der sozialistischen Organisationen in Frankreich mehr Macht ausübt als in Deutschland mit seinen drei Millionen sozialistischer Wähler, so ist das ganz und gar nicht der ministerialistischen Taktik und nur sehr wenig den demokratischen Formen der bürgerlichen Republik, wohl aber den revolutionären Instinkten zu verdanken, die bis in unsere Zeit aus den Tagen der Jakobinerherrschaft nachwirken. Wäre es nach dem Willen der Liberalen von Anno dazumal gegangen und hätte die Revolution mit der Umwandlung der Generalstände in eine Nationalversammlung aufgehört, um einem Regime gesetzlicher Ordnung Platz zu machen, kurz, wäre die Revolution eine nach bürgerlichen Begriffen so „schöne" geblieben, wie es die von Schiller im „Tell" verherrlichte war und heute zur Befriedigung aller Gutgesinnten die der Norweger ist; hätte sich die französische Revolution nicht durch die „Schreckensherrschaft“ „befleckt", dann wären die unteren Klassen Frankreichs politisch ganz unreif und machtlos geblieben, wir hätten kein 1848 erlebt, der Emanzipationskampf des französischen und damit der des internationalen Proletariats wäre unendlich verlangsamt worden.

Die Revolution in Permanenz ist also gerade dasjenige, was das Proletariat in Russland braucht. Heute schon hat sie es, namentlich in Polen, ungemein gereift und gestärkt. Einige Jahre Dauer werden es zu einer Elitetruppe, vielleicht zu der Elitetruppe, des internationalen Proletariats machen, einer Truppe, die mit allem Feuer der Jugend die Erfahrungen einer Praxis weltgeschichtlicher Kämpfe und die Kraft einer den Staat beherrschenden Macht vereinigt.

Wir haben aber alle Ursache, zu erwarten, dass es zur Revolution in Permanenz oder, um bürgerlich zu reden, zum Chaos, zur Anarchie kommt und nicht zu der starken Regierung, die Herr Struve und seine liberalen Freunde herbeisehnen. Selbst unter den Sozialisten gab es einige, die betrübt darüber waren, dass Nikolaus nicht der Revolution durch rechtzeitige Konzessionen entgegenkam oder am 22. Januar durch die Gaponsche Bewegung dazu gezwungen wurde. Aber gerade dieser rasche Sieg der Revolution hätte nur einer starken Regierung des Liberalismus die Wege geebnet. Die Fortdauer der Autokratie dagegen bedeutet die Eröffnung der Revolution in Permanenz. Nichts wirkt revolutionärer, nichts untergräbt mehr die Fundamente aller Staatsgewalt als die Fortdauer dieses erbärmlichen und hirnlosen Regimes, das gerade noch die Kraft hat, sich an seine Ämter zu klammern, aber nicht die mindeste Kraft mehr, zu regieren, das Staatsschiff in einem bestimmten Kurse zu steuern. Die Autokratie hat eben noch die Kraft, den Abschluss des Friedens zu verhindern, aber nicht mehr die Kraft, siegreich Krieg zu führen. Eben noch die Kraft, eine liberale Regierung hintan zu halten, nicht aber die Kraft, der Selbsttätigkeit des Volkes noch Schranken zu sehen. Die Autokratie wird selbst zu einer Quelle der Anarchie, indem sie in ihrer Verzweiflung, um sich zu behaupten, Bürgerkriege entfesselt, in den Städten das Lumpenproletariat aufhetzt, im Kaukasus die Mohammedaner, seine wildesten und unbotmäßigsten Insassen. Sie hofft mit diesen Werkzeugen ihre Gegner niederschlagen zu können und merkt nicht, dass sie damit nur die Revolutionäre anstachelt, gleichzeitig aber auch die friedlichsten und zahmsten Bürger in das Lager ihrer Gegner treibt. Derartige Methoden der Konterrevolution haben stets nur dazu gedient, die Revolution entschiedener und kraftvoller zu machen, die rücksichtslosesten unter den Revolutionären immer mehr in den Vordergrund zu drängen. Ohne die Erhebungen in der Vendée, die im März 1793 begannen, hätte die Bergpartei vielleicht nie die Kraft erhalten, die Gironde zu stürzen (Juni 1793) und das System des kleinbürgerlich-proletarischen Schreckens zum Siege zu führen.

Je länger es der Autokratie gelingt, den Frieden nach außen, eine liberale Regierung nach innen zu verhindern, desto furchtbarer muss ihr schließlicher Zusammenbruch werden, desto gründlicher die Auslösung aller Regierungsgewalt. Und wir dürfen überzeugt sein, dass der Zar und seine Leute alles aufbieten werden, was sie können, das ganze russische Volk in die wildeste Revolution hinein zu peitschen. Das ist ihre historische Mission geworden, und alles deutet darauf hin dass sie sie erfüllen werden.

Nachschrift. Eben, wie diese Zeilen in die Druckerei wandern sollen, kommt mir ein Artikel der Wiener „Arbeiterzeitung" zu Gesicht. der mich zu einigen Bemerkungen veranlasst. Unser Wiener Bruderorgan schenkt seit langem den russischen Dingen besondere Aufmerksamkeit und liefert über sie oft wertvolle Informationen. Sie ist auch wie keine andere Tageszeitung durch ihre ganze Situation dazu berufen, der proletarischen Bewegung deutscher Zunge das Verständnis der slawischen zu vermitteln. Um so peinlicher wirkt eine gelegentliche Entgleisung.

Jenes famose Ereignis, durch das die Schwarzmeerflotte in eine rote Meerflotte verwandelt zu werden drohte, hatte den offiziellen und offiziösen Telegraphen zu besonderer Verlogenheit angestachelt. Gar manche Zeitung fiel auf seine Nachricht herein, die Besatzung des „Knjäs Potemkin" habe ohne den Versuch einer Gegenwehr kapituliert, unter diesen Zeitungen befand sich auch die Wiener „Arbeiterzeitung". Das wäre nicht so schlimm, das kann einer jeden Zeitung passieren, die auf Fixigkeit etwas hält. Schlimmer aber ist es, dass es dem Lügentelegramm trotz der kurzen Beine, die Lügen bekanntlich haben, gelang, der „Arbeiterzeitung" ein Bein zu stellen und sie zum Stolpern zu bringen. Die Nachricht von der Kapitulation der Meuterer veranlasste sie zu folgendem Kommentar:

Ein Trotz, der sich zur vermessensten Tat auflehnt. und am nächsten Tage Ergebung, Unterwerfung – feige, traurige Auslieferung an den Henker! Das ist die ,breite, russische Seele', die Brutalität und frauenzartes Mitleid in einem Sacke hat. das ist das slawische Schwanken von jähen Äußerungen gewaltiger Kraft zur Erschlaffung in erbärmlicher Schwäche, jenes Umkippen der Empfindungen, das uns im Roman die Tiefen der menschlichen Seele enthüllt und beim Zusammentreffen im Leben so fremd und wunderlich anmutet." (Nummer vom 2. Juli.)

In der Tat, wenn uns etwas „fremd und wunderlich anmutet", so sind es diese Worte, die, wenn ich nach mir schließen darf, auf jeden Freund der russischen Revolution einen beklemmenden Eindruck machen müssen. Es wäre lebhaft zu wünschen, dass die Redaktion der „Arbeiterzeitung" Veranlassung nähme, sie als einen individuellen Lapsus zu desavouieren und diese ungeheuerliche Auffassung nicht als die eines der vornehmsten publizistischen Organe der Sozialdemokratie deutscher Zunge gelten zu lassen.

Ganz abgesehen davon, dass diese Sätze nach der modernen, ebenso widersozialistischen wie unsinnigen Rassentheoretik riechen, dass sie einen slawischen Gesamtcharakter konstruieren, wo es kaum eine Völkergruppe gibt. die so verschiedenartige Elemente umfasst, wie die slawische; ganz abgesehen davon, dass jeder Slawe nur zu leicht aus diesen Worten einen deutschvölkischen Hochmut heraus wittern kann – welche Prognose stellte die „Arbeiterzeitung" der russischen Revolution, wenn die zitierten Worte ihre wirkliche Anschauung aussprächen? Müssten wir nicht darauf gefasst sein, dass die revolutionäre Bewegung der „russischen Seele" morgen ebenso unvermittelt zusammenbricht, ohne eine Spur zu hinterlassen, wie ihrer Ansicht nach die Besatzung des „Potemkin" feig und traurig sich unterwarf?

Zum Glücke sind die fraglichen Bemerkungen über die russische und slawische „Seele'' nichts als belletristische Redensarten, aus Romanen geschöpft, die uns angeblich die „Tiefen der menschlichen Seele enthüllen". Wer sich geschichtlich mit dem russischen Volke beschäftigt hat. der erstaunt nicht über seine Wankelmütigkeit, sein „slawisches Schwanken", sondern vielmehr über seine Hartnäckigkeit und Zähigkeit, die auch den russischen Soldaten seit jeher kennzeichnen, wie sie zum Beispiel Friedrich der Große und Napoleon zu empfinden bekamen. Diese Eigenschaft beruht indes ebenfalls nicht auf irgend einer mystischen Eigenart der „slawischen Seele", sondern auf der russischen Produktionsweise. Der Ackerbau beherrschte sie bisher fast vollständig, und der erzeugt überall schwerfällige, aber auch zähe und hartnäckige Naturen.

Das Schwanken zwischen unvermittelten Extremen, zwischen „gewaltiger Kraft" und „erbärmlicher Schwäche", jenes „Umkippen der Empfindung" von „himmelhoch jauchzend" bis „zum Tode betrübt", ist das Kennzeichnen nicht der Bauern, sondern von Berufen, die die Nervosität entwickeln, findet sich also namentlich bei den Intellektuellen der Großstädte. Es tritt im engen Raume der meisten westeuropäischen Redaktionen viel stärker zutage, als in der „breiten russischen Seele".

Da aber die Russen ebenfalls eine Klasse der Intelligenz haben, so ist diese psychische Eigentümlichkeit auch bei ihnen zu finden und vielleicht noch ausgeprägter als in Westeuropa, nicht wegen ihrer slawischen Rasseneigentümlichkeiten, sondern wegen ihrer historischen Position. Wir finden viele Hamlets unter den russischen Intellektuellen, weil ihnen wie Hamlet eine Aufgabe zuteil wurde, die ihre Kräfte überstieg:

Die Zeit ist aus den Fugen, Schmach und Gram,

Dass ich zur Welt, sie einzurichten kam."

Ihnen, der kleinen machtlosen Schar von Gebildeten, fiel die Aufgabe zu, dem Herrn des größten Weltreichs, der stärksten Armee, der unterwürfigsten Bürokratie, diesem Koloss, vor dem alle Reiche sich beugten, den Krieg zu erklären. Kein Wunder, dass bei vielen von ihnen ihre Empfindungen leicht umkippten, dass sie sich heute an der Riesengroße ihrer Aufgabe bis zu den Wolken erhoben, um morgen unter ihrer Riesenlast im Staube zermalmt zu werden.

Derartige Intellektuelle im Ausland aber sind es, die dem Westeuropäer am meisten auffallen und dann als der Typus des Russen überhaupt erscheinen, derartige Intellektuelle sind es aber auch, die uns vielfach die Kenntnis der russischen „Volksseele" vermitteln, welche in einem solchen Spiegel natürlich ebenso schwankt wie er selbst, die in ihm einmal als Ausbund aller Tugenden und aller Heldengröße, und dann wieder als stumpfes Tier und unterwürfiger Sklave erscheint. Auch jetzt wieder sind es solche Intellektuelle, die vielfach noch der eigenen Revolution mit den gemischtesten Gefühlen zusehen, ihr heute als dem Erlöser zu jauchzen und sie morgen als eine grauenhafte Götterdämmerung aller Kultur beweinen.

Aber die Revolution als Selbsttätigkeit der Proletarier und Bauern Russlands geht inzwischen ihren Weg und lässt die Leute schwätzen – getreu dem Grundsatz, den schon Dante ausgesprochen und Marx sich zum Motto gewählt. Noch nie gab es eine Revolution, die sich so aufgerichtet hätte durch die Hartnäckigkeit der Revolutionäre, durch solche Abwesenheit von Schwanken und Wankelmütigkeit wie die russische. Die westeuropäischen, die von 1789 bis 1871 in den Großstädten sich abspielten, vollzogen jede ihrer entscheidenden Aktionen binnen wenigen Tagen, in denen sie nach kurzem Sturme entweder siegten oder unterlagen. Heute haben wir das unermüdliche Zu-Tode-Hetzen des Absolutismus aufgeführt. nicht durch die Bevölkerung einer einzigen Großstadt, sondern durch die eines ungeheuren Reiches. Schon seit einem halben Jahre geht die wilde Jagd, und kein Erschlaffen, kein Ermatten der Verfolger ist zu fühlen. Unzählige Mal niedergeworfen, erheben sie sich immer wieder mit vermehrter Kraft, zu immer wilderem Vorwärtsstürmen. Und gerade darin, in dieser Hartnäckigkeit und Zähigkeit. mit der sie das Wild des Absolutismus zum Verbluten bringen, liegt die Gewähr, dass die russische Revolution nicht vorzeitig zusammenklappen wird, dass der Sieg ihr sicher ist.

2. Die revolutionäre Situation in Europa

Die Revolution in Permanenz in Russland kann aber nicht ohne Rückwirkung bleiben auf das übrige europäische Festland.

Vor allem bedeutet sie den Staatsbankrott, den Verlust der vielen Milliarden, die das europäische Kapital dem russischen Absolutismus geliehen hat, um mit ihm die Früchte der Unterdrückung und Ausbeutung des russischen Volkes zu teilen.

Freilich, käme es zur starken, liberalen Regierung, so wäre es eine ihrer ersten Sorgen, den russischen Staatskredit zu heben, die Schuldenzinsen getreulich zu zahlen. Das schon aus allgemein kapitalistischem Klasseninstinkt, dem Profit und Zins die höchsten Heiligtümer sind, an die zu tasten eine Todsünde wider den heiligen Geist. Dann aber auch aus praktischem Bedürfnis; denn eine starke Regierung braucht eine starke Armee; deren Reorganisation wäre die erste Aufgabe des neuen liberalen Regimes. Das ist aber nicht möglich ohne neue Anleihen.

Kommt es aber nicht dazu, gelingt es der Autokratie, eine liberale Regierung unmöglich und die Revolution permanent zu machen, dann ist die erste Folge die, dass keine Steuern mehr entrichtet werden, und wovon soll man dann die Coupons bezahlen? Gerade das ist übrigens auch einer der Gründe, die es sehr erschweren, dass es zu einer starken, liberalen Regierung kommt. Denn eine ihrer Hauptausgaben wäre die, die Steuern einzutreiben und zu den bestehenden neue hinzuzufügen.

Es ist aber nicht notwendig, dass etwa eine Diktatur des Proletariats zustande kommt, um den Staatsbankrott zu erklären. Das bringt auch der bankrotte Absolutismus selbst fertig, wenn er in dieser verzweifelten Maßregel ein Mittel sieht. seinen politischen Bankrott um eine Galgenfrist hinauszuschieben.

Es ist sehr leicht möglich, dass die Kapitalisten Europas gerade mit dem gestraft werden, womit sie gesündigt. Hätten sie rechtzeitig ihren Einfluss dahin aufgeboten, den Zaren zu zwingen, ein liberales Regime einzuführen, so hätten sie wohl die Revolution verhindern und ihre Coupous retten können. Durch ihre bedingungslose Unterstützung aller Infamien und Dummheiten des absolutistischen Systems haben sie es glücklich dahin gebracht, das einzige Regierungssystem verhindert zu haben, das den russischen Staatsbankrott aufhalten konnte, das liberale.

Kommt es aber zu diesem Bankrott, und wie die Dinge heute stehen, ist hundert gegen eins zu wetten, dass er kommt, dann gibt es einen Krach, wie ihn die Welt noch nicht gesehen, gegen den der Panamakrach noch ein Kinderspiel. Denn der betraf nur Frankreich, nur dessen Kleinbürgertum. Der russische Krach trifft die ganze Kapitalistenklasse Europas; er trifft nicht bloß die „kleinen Sparer", sondern auch die großen Banken und damit indirekt auch die Industrie – dort, wo Banken und Großindustrie aufs Engste liiert sind, diese auch direkt. Beim Panamakrach handelte es sich um ungefähr eine Milliarde; bei den russischen Staatsschulden um das Fünfzehnfache. Man braucht man sich bloß der Erregung zu erinnern, die der Panamakrach in Frankreich hervorgerufen, wie er diesen Staat an den Rand einer Revolution geführt, und man kann sich ungefähr vorstecken, welches die Wirkungen eines Kraches sein müssen, der die Verheerungen des Panamakrachs vielleicht verzehnfacht und der mit einem wilden Bürgerkrieg in Osteuropa zusammenfällt.

Aber dabei bleibt die Rückwirkung der russischen Revolution auf Westeuropa nicht stehen. Zu dem Staatsbankrott gesellt sich das Ausbleiben des russischen Getreideexports.

Wenn der russische Bauer heute Getreide verkauft, so tut er es nicht, weil er Überfluss daran hat, sondern weil er Steuern zahlen muss. Er verhungert, aber verkauft Getreide, um den Steuerexekutor zu befriedigen. Sobald die Revolution in Permanenz die Angst vor den Steuerbehörden aufhebt, beseitigt sie damit auch das Motiv zum Getreideverkauf. Der Bauer wird die Ohnmacht der Regierung während der Revolution dazu benützen, sich einmal satt zu essen. Sollte aber die Ernte so reichlich ausfallen, dass er einen Überschuss über sein Nahrungsbedürfnis hinaus erzielt, dann verwendet er diesen sicher auch nicht dazu, Steuern zu zahlen, sondern Industrieprodukte zu kaufen. Der Getreideüberschuss wandert dann nicht zur Bezahlung der Coupons ins Ausland, sondern zur Bezahlung von Lohnarbeitern und Unternehmern in die russischen Industriebezirke.

Sollte es also nicht baldigst zu einer „starken" liberalen Regierung kommen, die es versteht, „Ordnung" und „Gesetzlichkeit" in der Bauernschaft aufrecht zu halten, darin haben wir im nächsten Jahre – ja vielleicht schon in diesem Herbste – mit einem plötzlichen Nachlassen der russischen Getreideausfuhr zu rechnen. Welche Bedeutung das für den Getreidehandel und die Getreidepreise erlangen muss, kann man daraus ersehen, dass an der Getreideausfuhr der Exportstaaten Russland je nach der Ernte mit einem Viertel bis einem Drittel beteiligt ist (1903 fast 10.000 Millionen Kilogramm). Auch die günstigste Ernte in den anderen Ausfuhrgebieten dürfte kaum imstande sein, ein erhebliches Defizit im russischen Getreideexport zu decken. Die Folge davon muss ein starkes Hinaufschnellen der Getreidepreise sein. Und mit den Viehpreisen wird sich's ähnlich verhalten.

Diese unbeabsichtigte Teuerung wird aber im Deutschen Reiche zusammentreffen mit der absichtlich, künstlich durch den neuen Zolltarif herbeigeführten, die für sich allein schon genügen wird, die arbeitenden Klassen aufs Schwerste zu belasten, die aber zu den unerträglichsten Zuständen führen muss, wenn sie verstärkt wird durch eine allgemeine Teuerung aus dem Weltmarkt und vollzogen während einer schweren wirtschaftlichen Krisis.

Damit müssen sich die Klassengegensätze auch außerhalb Russlands zu unerhörter Schärfe zuspitzen und die Klassenkämpfe um so gewaltsamer werden, je mehr die gleichzeitige Revolution Russlands die Erregung der unteren Klassen wie die Nervosität der herrschenden steigert.

Aber mit alledem dürfte noch nicht genug des Unheils für diese sein.

Der militärische Zusammenbruch Russlands hat das europäische Gleichgewicht in bedenkliches Schwanken gebracht und dadurch die schwierigsten internationalen Probleme geschaffen. Das erheischt mehr als je eine weit schauende, ruhige und zielklare äußere Politik. Aber die europäischen Regierungen lassen wenig in dieser Beziehung erwarten. Frankreich wie England stehen vor Parlamentsauflösungen, die die mannigfachsten Überraschungen bringen können. In Österreich haben wir einen altersschwachen Kaiser, der die Zügel der Regierung immer mehr dem Thronfolger auszuliefern scheint, einem Heißsporn des Klerikalismus und des persönlichen Regiments. Diesem ist es wohl namentlich zuzuschreiben, wenn jetzt die Wiener Hofburg den Kampf gegen die politische Macht des ungarischen Junkertums eröffnet hat – eines Junkertums, weit trotziger, unbotmäßiger und kraftvoller noch als das Ostelbiens. Das ist ein Kampf, der für die Union zwischen Ungarn und Westösterreich leicht so enden kann, wie eben ein ähnlicher Kampf für die Union zwischen Schweden und Norwegen, der aber auf keinen Fall sich in so gemütlichen Formen vollziehen wird. Und das in einem Moment, wo die Revolution an den Grenzen Galiziens wütet und neue Unruhen auf dem Balkan drohen.

Die politisch entscheidende Macht für die internationale Politik Mitteleuropas ist aber das Deutsche Reich geworden, und gerade dessen äußere Politik wird unbegreiflicher als je. Sicher hat die deutsche Regierung nicht die Absicht, um Marokkos willen, also um nichts und wieder nichts einen Krieg mit Frankreich zu beginnen, um einer Lappalie willen einen Weltkrieg zu entzünden, der zum Ruin aller Beteiligten führen müsste. Eine solche Absicht wäre Wahnsinn oder Verbrechen. Aber gerade weil die Reichsregierung eine solche Absicht nicht gehegt haben kann, ist ihre Politik um so unbegreiflicher, diese Politik der Blitze aus heiterem Himmel, aus irgend einer Laune, die, ohne den Krieg zu wollen, die Gegenseite in den Glauben versetzt, dass ein Krieg geplant sei und dadurch einen Zustand nervöser Spannung erzeugt, in dem ein Ungefähr eine Situation schaffen kann, die tatsächlich zum Kriege führt.

Schon einmal hatte die preußische Regierung eine Revolution im Nachbarland zu ähnlicher Politik benutzt. Als die große Revolution in Frankreich ausbrach, und gleichzeitig Russland und Österreich im Kriege mit den Türken lagen, da hielt Preußen den Moment für gekommen, Österreich zu schwächen und ein neues Stück Polen zu annektieren. Noch dauerte die Revolution in Frankreich kein Jahr, und schon drängte Friedrich Wilhelm II. zum Kriege gegen Österreich. Nur die Nachgiebigkeit Österreichs, das alle Forderungen Preußens annahm, verhinderte ihn. Aber die polnische Frage war einmal aufgeworfen und bildete nun den Zankapfel zwischen den drei Mächten, die am Schlusse der Revolution die heilige Allianz gegen sie bilden sollten, zu ihrem Beginn aber, statt gemeinsam gegen den gemeinsamen Feind, die Revolution in Frankreich, mit voller Kraft vorzugehen, den Krieg gegen diesen entweder gar nicht – wie Russland – oder nur unentschlossen führten, wie Preußen und Österreich, da jede dieser Mächte fürchtete, von den anderen betrogen und überfallen zu werden.

So unbegreiflich es ist, die monarchische Diplomatie hat damals in ihrer kurzsichtigen Habgier und Unwissenheit es fertig gebracht, sich wegen der Teilung einer Beute in einem Augenblick zu zerzanken, wo die Grundlagen ihrer Herrschaft selbst bedroht waren.

Aber noch weit unbegreiflicher ist die heutige Diplomatie. Polen besaß doch noch eine ganz andere Bedeutung für Preußen, als sie Marokko heute hat. Außerdem gab es damals in Preußen wie in Österreich noch keine Spur einer politischen Opposition. Ihre Regierungen waren zunächst nur von außen bedroht, durch die französischen Revolutionsheere, nicht von innen. Ihre Niederlage bedeutete den Sieg der Revolution in Frankreich und damit die Bildung eines Revolutionsherdes im Herzen Europas, aber noch lange nicht den sofortigen Zusammenbruch der absolutistischen Regierungssysteme in den übrigen Teilen des europäischen Festlandes. Seit 1870 dagegen bedeutet jeder unglückliche Krieg für einen europäischen Staat die Revolution in seinem Innern.

Das marokkanische Abenteuer lässt also nicht gerade erwarten, dass die Reichsregierung zurzeit über jene Qualitäten verfügt, die es ihr ermöglichten, ohne erhebliche Friktionen die internationalen Schwierigkeiten zu überwinden, welche der Zusammenbruch Russlands nach sich ziehen muss.

So deutet alles darauf hin, dass wir einer Epoche der größten Verschärfung der Gegensätze der Staaten und Klassen entgegengehen, einer Epoche, in der die Revolutionierung des Nachbarlandes ohne alles Zutun einzelner Personen oder Parteien revolutionäre Situationen in Westeuropa selbst schaffen kann.

(Fortsetzung folgt.)

(Fortsetzung.)

3. Die Stimmung in der deutschen Sozialdemokratie. Ein kritisches Intermezzo.

Heute schon wird durch die im letzten Artikel geschilderten Verhältnisse das Denken und Empfinden weiter Parteikreise beeinflusst, und zwar vor allem jener, die einen weiteren Blick haben über die Traditionen des Herkömmlichen und über die lokalen Schranken des „Vaterlandes" hinaus. Dadurch wird es auch verständlich, warum das Interesse für die Idee des politischen Massenstreiks lawinenartig wächst, eine Idee, die vor zwei Jahren noch für unsere Partei eine rein akademische Bedeutung hatte.

Bömelburg meinte in Köln, je länger er sich die Frage des Generalstreiks überlegt habe, desto mehr habe er sich überzeugt, dass es sich dabei um eine Revolution handle; es könne dabei nichts herauskommen als die Revolution. Das ist nicht ganz richtig, wie schon das Beispiel Belgiens, Schwedens, Hollands, Italiens beweist. Der Massenstreik bedingt nicht notwendig die Revolution. Er ist ein Mittel politischer Pression, politischer Gewalt, das unter verschiedenen politischen Situationen und Bedingungen sehr Verschiedenes bedeuten kann. Aber eines ist richtig: unter den besonderen politischen Verhältnissen Deutschlands ist ein erfolgreicher Massenstreik nur denkbar in einer revolutionären Situation, und wäre es darum aussichtslos, ja verderblich, wollte man ihn anwenden in einer Situation, die zu einer revolutionären nicht werden kann. Es wäre zum Beispiel die größte Torheit, wollte man heute in Hamburg zur Verteidigung des dortigen Wahlrechtes einen Massenstreik inszenieren! Den Massenstreik für eine einzelne Stadt; das Aufgebot der letzten und schärfsten Waffe des Proletariats, die seine vollste Hingebung und seinen höchsten Opfermut erfordert, bloß zu dem Zwecke, um das jetzige, schon miserable Klassen-Wahlrecht gegen weitere Verschlechterungen zu schützen!

Aber selbst wenn es zur Aufhebung des Reichstagswahlrechtes käme, müsste man sich es noch sehr überlegen, ob man ohne Weiteres mit dem Massenstreik darauf antworten sollte; das käme ganz auf die Situation an, in der sich dies vollzieht. Wenn wir es für notwendig halten, den Massenstreik zu diskutieren und die proletarischen Massen mit seiner Handhabung vertraut zu machen, so vor allem deswegen, weil wir auch für Deutschland revolutionäre Situationen erwarten, die den Massenstreik ebenso geboten wie möglich machen. Eine Verschlechterung des Wahlrechtes zum Reichstag könnte zur Herbeiführung einer solchen Situation allerdings sehr viel beitragen und insofern eine Provokation zum Massenstreik werden. Wir halten es aber nicht minder für notwendig, ihn deswegen zu diskutieren, weil er nicht überall unter allen Umständen anwendbar ist und seine verkehrte Anwendung großes Unheil nach sich ziehen kann.

Wir müssen damit rechnen, dass die Situation in den verschiedensten Ländern außerhalb Deutschlands sich in einer Weise gestaltet, die den Massenstreik dort nötig und möglich macht, und dass diese Erfolge dazu verführen, ihn dann ohne Weiteres auch in Deutschland zur Anwendung zu bringen, aber unter Bedingungen, die seinen Erfolg ausschließen. Hat man doch schon davon gesprochen, ihn in Hamburg zu proklamieren, um das bestehende Wahlrecht zu verteidigen, in Preußen und Sachsen, um das Klassenwahlrecht zu stürzen. Studieren wir nicht die Bedingungen und Methoden des Massenstreiks, dann laufen wir Gefahr, nicht bloß, dass wir ihn dort nicht anwenden, wo seine Anwendung geboten, sondern auch, dass wir ihn dort anwenden, wo seine Anwendung verderblich. Wer die Theorie verachtet, wer sich darauf verlässt, dass Probieren über Studieren geht, der muss stets teures Lehrgeld zahlen.

Trotzdem beharrt unser Zentralorgan dabei, jedenfalls, um den Einklang zwischen Partei und Gewerkschaften aufrecht zu halten, das Diskutieren des Massenstreiks zu verpönen. Es hatte das in seinem Artikel über den Gewerkschaftskongress erklärt. Als ich in meiner Vorrede zur Schrift der Genossin Roland-Holst über den Generalstreik diesen sonderbaren Standpunkt kritisierte, beschwerte sich der „Vorwärts", ich hätte ihm unrecht getan und seine Argumente falsch wiedergegeben. Er hat mich aber von meinem Irrtum nicht überzeugt, und ich sehe keine Veranlassung, von dem, was ich dort gegen den „Vorwärts" geschrieben, ein Wort zurückzunehmen.

Seitdem hat er denselben Standpunkt von neuem vertreten in einer ausführlichen Besprechung der in Rede stehenden Schrift, wobei er sich anderer Argumente bedient, aber wie mir scheint, nicht besserer.

Er hat einmal die ganze Schrift nicht verstanden, wenn er ihr vorwirft sie mache den politischen Streik „aus einem unter ganz bestimmten Verhältnissen möglichen und erforderlichen Akt der proletarischen Notwehr zur Methode des Klassenkampfs, zum eigentlichen Mittel des proletarischen Sieges“.

In der Roland-Holstschen Schrift heißt es ausdrücklich:

Sie (die Sozialdemokratie) sieht im politischen Massenstreik keinen Gegensatz, sondern eine Ergänzung ihrer bisherigen Mittel und Methoden, eine Ergänzung, die der Arbeiterklasse im Verlauf und als Folge der sozialen Entwicklung … ihr eigenes Wachstum an Kraft und Selbstbewusstsein einbegriffen … als geschichtliches Produkt des Klassenkampfes aufgedrängt wird. Vor allem trennt kein Widerspruch den politischen Massenstreik vom Parlamentarismus. Der Parlamentarismus bleibt ein äußerst geeignetes, vielleicht unentbehrliches Mittel, die Massen über den kulturwidrigen Charakter des modernen Staates aufzuklären, sie aus dumpfer Teilnahmslosigkeit zu erwecken und dem proletarischen Emanzipationskampf zuzuführen, den bürgerlichem Parteien Reformen abzuringen, sie vorwärts zu treiben und die Differenzen auszunutzen. Er bleibt das einzige Mittel, das gesamte Proletariat unausgesetzt und unaufhaltsam gegen die gesamte herrschende Klasse zu organisieren und ins Feld zu führen. Der politische Massenstreik, der eine nur selten, in bestimmten geschichtlicher Situationen anwendbare Waffe ist, kann den Parlamentarismus nie ganz ober teilweise überflüssig machen. Er kann ihn keineswegs ersetzen, wie dies jetzt von der äußersten Linken der französischen und italienischen Partei, wohl als Reaktion gegen den parlamentarischen Illusionismus der letzten Jahre, gepredigt wird. Wohl aber wird er wahrscheinlich als ein Mittel in Betracht kommen, die parlamentarische Aktion des Proletariats erst möglich zu machen, zu erhalten und zu erweitern“ usw.

So die Genossin Holst, deren Schrift wohl die bei weitem wichtigste sozialistische Publikation dieses Jahres über eine taktische Frage ist, die ihrerseits wieder die größte Bedeutung unter allen taktischen Problemen unserer Zeit besitzt. Unser Zentralorgan aber kritisiert sie, ohne auch nur begriffen zu haben, was sie sagt.

Dies Missverständnis ist das einzige, was es vorzubringen weiß, um Methode und Schlussfolgerungen des Buches abzulehnen. Was es außerdem darüber sagt, gilt dem Nachweis, dass die ganze Diskutierung des Massenstreiks überflüssig ist. Denn es bestehe die Gefahr, dass „durch das eifrige Studieren und Diskutieren solcher Fragen die Phantasie der Arbeiter auf unsichere Hoffnungen gerichtet und von wichtigen, näherliegenden Aufgaben abgezogen wird … ganz abgesehen davon, dass das reichliche Reden von und Drohen mit der Revolution mehr geeignet ist, die reaktionären Zettelungen gegen die Sozialdemokratie zu stärken, als die Arbeiterschaft zur Entschlossenheit zu erziehen" usw. Dann: „der oberste Grundsatz der sozialdemokratischen Taktik ist und bleibt die Revolutionierung der Köpfe"; weiter: in einem Ausnahmezustand „sind alle Mittel der Notwehr berechtigt, nicht nur der Massenstreik"; selber ist „in jedem Lande die Situation eine besondere", und endlich „wir wünschen wenig Worte, kraftvolles Handeln".

Die ganze lange Litanei, auf der wir hier nur einen Auszug geben können, erinnert lebhaft an die Reden, die Sancho Pansa an Don Quixote richtet, wobei er, wenn er recht weise erscheinen will, einen Haufen von Sprichwörtern zusammenträgt, die kein Mensch bestreiten kann, die aber mit der Sache nichts zu tun haben oder vielmehr ebenso gut bei jeder anderen Gelegenheit vorgebracht werden können.

Es gibt in der Tat keine große taktische Frage in der Partei, von Fragen des Endziels gar nicht zu reden, deren Diskutierung man nicht mit diesem Ragout von Gemeinplätzen ablehnen könnte.

Diese Armseligkeiten aber sind alles, was unser Zentralorgan bisher aus eigenem zur Diskutierung des Massenstreiks beizubringen gewusst hat. Kein Wunder, dass sie ihm unbequem ist. Ist doch noch nie die Unfähigkeit des „Vorwärts", der Partei in inneren Parteifragen als führendes Organ in seiner jetzigen Form zu dienen, so deutlich zutage getreten als bei dieser Gelegenheit. Natürlich ist unter einem führenden Organ nicht ein kommandierendes zu verstehen, sondern eines, das durch die Tiefe und Wucht seiner Gründe, durch sein Wissen und seine Erfahrung allgemeine Beachtung und Anerkennung erobert.

Zum Glücke steht der „Vorwärts" aber mit seiner Abneigung gegen „das Studieren und Diskutieren solcher Fragen" in der Partei so ziemlich allein: soweit man nach der übrigen Parteipresse urteilen darf, teilen außerhalb der Redaktion unseres Zentralorgans nur wenige Parteigenossen die etwas kosakische Anschauung, dass durch derartiges „Studieren und Diskutieren" nur die Phantasie der Arbeiter ungesund entzündet und von nützlicher Tätigkeit abgelenkt wird, und so hat auch fast die gesamte Parteipresse der Diskutierung des Massenstreiks bisher schon mehr Interesse und Verständnis entgegengebracht als unser Zentralorgan, so dass dessen Verständnislosigkeit nicht der Partei aufs Konto geschrieben werden darf.

Neben dem in den letzten zwei Jahren rapid gewachsenen Interesse und Verständnis für den politischen Massenstreik ist aber noch eine Erscheinung bemerkenswert: die wachsende Missachtung des Parlamentarismus im Proletariat, die sich in allen kapitalistischen Staaten geltend macht, auch in Deutschland. Ein Symptom davon scheint mir unser Stimmenrückgang bei den Nachwahlen zum Reichstag zu sein.

Manche Leute lieben es, diesen Rückgang auf das Konto des Dresdener Parteitags zu setzen. So erst jüngst wieder Herr v. Gerlach in der „Nation" („Die Sozialdemokratie seit Dresden"). In gewissem Sinne haben sie Recht, nur in anderem, als sie meinen. Nicht weil, wie Herr v. Gerlach schreibt, der Ton dort „so beschimpfend, der Kampf so rein persönlich war". Wäre das richtig, so träfe das viel weniger den „Radikalismus" als dessen Gegner. Aber Herr v. Gerlach selbst legt nicht besonderen Nachdruck aus diesen Punkt, wohl aber darauf, dass der Parteitag von Dresden weite Kreise enttäuschte.

Der 16. Juni", erzählt Herr v. Gerlach, „hatte die deutsche Sozialdemokratie als die mächtigste Sozialdemokratie der Welt und zugleich als die stärkste Partei Deutschlands erscheinen lassen. ,Unser der Sieg, unser die Welt!' hatte der ,Vorwärts' im Siegestaumel ausgerufen."

Was geschah aber? Nichts. Es blieb alles beim alten. In Dresden wurde keine neue Route eingeschlagen. Kein Zweifel, dass mancher dadurch enttäuscht werden musste, um so mehr enttäuscht, je größer die Erwartungen, die man an den Dreimillionensieg geknüpft, je fester man geglaubt, als läge nun die Welt offen vor uns, und wir brauchten uns bloß darüber zu einigen, wie wir am besten zulangen. Aber diese Erwartungen waren eben nur Illusionen naiver Gemüter, die die Partei keineswegs beherrschten. Ich darf wohl, als das mir nächstliegende Beispiel nüchterner Anschauungen, die Worte anführen, die ich unmittelbar nach dem großen Siege, noch vor den Stichwahlen, in der „Neuen Zeit" schrieb:

Erwägen wir alle die Widersprüche und Gegensätze innerhalb der Regierung selbst wie innerhalb der herrschenden Klassen und Parteien, dann kann es keinem Zweifel unterliegen, dass heute, wo unsere Gegner notwendiger als je einer einheitlichen und konsequenten, auf große Ziele gerichteten Politik bedürfen, die Politik, die sie wirklich befolgen werden, kleinlicher, widerspruchsvoller, konfuser sein wird denn je. Wir dürften große Worte zu hören bekommen, große Anläufe sehen, sowohl zu einer Politik der Reformen wie zu einer Politik der Verfolgungen und der Einschränkungen der staatsbürgerlichen Freiheiten und Rechte, aber über gewaltige Besprechungen und Drohungen wird man nicht weit hinauskommen. Keine Taten werden ihnen folgen, sondern höchstens noch krampfhafte Zuckungen, die sehr gewaltsam sein mögen, aber rasch vorübergehen. Macht man dem Proletariat Konzessionen, so wird das Erfüllte so weit hinter dem versprochenen zurückstehen, dass es, weit entfernt, auch nur vorübergehend zu befriedigen, vielmehr fast ebenso erbittert und empört wie Drohungen und Beschimpfungen, denen keine Tat folgt, die einschüchternd wirken könnte."

Und ähnlich äußerten sich zahlreiche andere Stimmen in der Partei.

Man sieht, man hat keine Ursache, der ganzen Sozialdemokratie „Siegestaumel" vorzuwerfen. Wir haben vielmehr schon vor Dresden ganz genau die Folgen erkannt, die der Dreimillionensieg nach sich ziehen wird.

Dass aber mancher unter den „Siegern" mehr erwartete und enttäuscht wurde, liegt nahe. Daraus folgte, dass unser Sieg wohl aus der einen Seite die Wirkung hatte, die Gegner aufzupeitschen, so dass sie bei allen Nachwahlen mit verstärkter Wucht gegen uns losgehen, dass aber die arbeitenden Massen diesem vermehrten Drucke nicht einen vermehrten Gegendruck, keinen gesteigerten Enthusiasmus entgegensetzen.

Das ist sicher nicht angenehm, aber der Partei könnte man daraus nur dann einen Vorwurf machen, wenn es in ihrer Macht gelegen gewesen wäre, den Dreimillionensieg zu „positiven" Erfolgen auszunutzen, und sie das versäumt hätte. Das wird auch von manchen Kritikern behauptet.** Aber wodurch hätten diese „positiven" Erfolge errungen werden sollen? Durch ein Entgegenkommen gegen die Reichsregierung, durch den Versuch, Konzessionen gegen Konzessionen einzutauschen? Jeder derartige Wunsch, wenn er gehegt worden sein sollte, wurde allerdings in Dresden im Keime erstickt. Und mit Recht.

Wenn je eine Situation dem sozialistischen Ministerialismus günstig war, so die Frankreichs nach dem Dreyfusprozess. Es erforderte damals wirklich große Klarheit und Charakterstärke, sich dieser Lockung zu entziehen. Heute ist der sozialistische Ministerialismus auch in Frankreich tot und begraben. Aber in Deutschland war von vornherein nicht die mindeste Lebensbedingung für ihn gegeben, vermochten nur politische Kinder oder politische Hanswurste an ihn zu glauben. In Deutschland können höchstens Differenzen über den Ton und die theoretische Begründung, nicht aber über die Praxis unserer Opposition aufkommen. Noch weniger als anderswo ist in Deutschland von der Reichsregierung oder der Mehrheit des Reichstags etwas für das Proletariat zu erwarten. An dieser Tatsache konnte auch der Dreimillionensieg nichts ändern.

Er hat sie im Gegenteil noch stärker zum Ausdruck gebracht. Er hat den herrschenden Klassen die Gefahren gezeigt, die das allgemeine und gleiche Wahlrecht für sie birgt; aber noch war er nicht gewaltig genug, um ihnen das Wasser an die Kehle reichen zu lassen und sie zu drängen, die nicht minder große Gefahr der direkten Abschaffung dieses Wahlrechtes auf sich zu nehmen. Wohl aber bildet er ein mächtiges Motiv, das Produkt des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes, den Reichstag, noch ohnmächtiger zu machen, als er bisher schon gewesen. Mehr noch als bisher werden alle wichtigen Materien den Landtagen zugeschoben; mehr noch als bisher wird der Reichstag mit Missachtung behandelt – unter Zustimmung seiner Mehrheit, auch des Zentrums.

So sucht man das allgemeine und gleiche Wahlrecht, dessen offene Aufhebung man noch scheut, hinterrücks hinweg zu eskamotieren, indem man dem aus ihm hervorgehenden Körper. alle Bedeutung, alles Leben nimmt.

Die notwendige Rückwirkung dieser schlauen Politik ist die wachsende Gleichgültigkeit der arbeitenden Massen für den Reichstag und die Reichstagswahlen. Sie zweifeln immer mehr daran, auf diesem Wege noch etwas Erhebliches zu erreichen. Deshalb unser Stimmenrückgang bei den Nachwahlen.

Aber derjenige würde sich sehr täuschen, der aus dieser wachsenden Ohnmacht des Reichstags auf die Ohnmacht der Sozialdemokratie, aus ihrem Stimmenrückgang bei den Nachwahlen auf einen Rückgang ihres Einflusses im Volke schlösse. Wir haben zum Glücke neben dem Reichstagswahlrecht nach einen anderen Maßstab für die Größe dieses Einflusses: die Verbreitung unserer Presse. Keine Presse trägt so entschieden den Parteicharakter an der Stirne wie die sozialdemokratische, und keine hat mehr mit der Konkurrent der parteilosen Presse zu kämpfen, da sie mehr als jede andere von aller gewissenlosen Spekulation auf die Sensationslust der indifferenten Masse sich frei hält und halten muss. Wer ein sozialdemokratisches Blatt liest, der bekundet daher damit auch Interesse und Sympathie für die Gedankenwelt und die Tätigkeit der Sozialdemokratie. Da ist es denn doch bemerkenswert, dass trotz allen Stimmenrückganges bei Nachwahlen die Zahl der Leser der Parteipresse in steter und rascher Steigerung begriffen ist. Der Dresdener Parteitag hat hier nicht die mindeste Änderung gebracht.

Bemerkenswert ist auch das gleichzeitige Wachstum der gewerkschaftlicher Organisationen.

Das zeigt doch deutlich, dass die arbeitenden Massen bei der augenblicklichen Situation in der Presse und den Gewerkschaften schärfere Waffen ihres Emanzipationskampfes erblicken als in den Reichstagswahlen. Die bürgerlichen Parteien bezeugen aber ihre ganze Kurzsichtigkeit, wenn sie diese Entwicklung mit Freuden begrüßen. Der Einfluss der Sozialdemokratie auf das arbeitende Volk schwindet damit nicht. Das wäre nur dann möglich, wenn das politische Interesse im Proletariat geringer würde oder neben der Sozialdemokratie eine andere Partei aufkäme, die, wenn auch nur anscheinend, besser als sie die proletarischen Interessen zu wahren verstände. Damit aber hat es seine guten Wege.

Die Gleichgültigkeit gegenüber den Reichstagswahlen muss auch in dem Moment wieder verschwinden, in dem der Reichstag wieder der Mittelpunkt einer großen politischen Aktion wird. Soweit aber Reichsregierung und Reichstagsmehrheit das zu verhindern wissen und fortfahren, den Reichstag zu immer größerer Nichtigkeit herabzudrücken, so müsste das nur dazu führen, jener revolutionären Stimmung neue Nahrung zu geben, die durch die russische Revolution und ihre Konsequenzen ohnehin im deutschen Proletariat erzeugt werden muss.

Das Interesse an der Politik und an der Gesetzgebung wird dadurch nicht vermindert, sondern eher verstärkt werden, denn die Wirkungen, die Gesetze und Behörden auf das ökonomische Leben und damit auch auf die proletarischen Bewegungen üben, werden dann nur noch fühlbarer zutage treten. Aber dies politische Interesse muss sich dann von der Wahlbeteiligung um so mehr abwenden, je wirkungsloser sie gemacht wird; es muss sich um so mehr allen Methoden und Aktionen zuwenden, die geeignet erscheinen, die gesetzgebende Maschinerie von außen zu beeinflussen und in einem Sinne umzugestalten, der sie wieder zu einem tauglichen Werkzeug des proletarischen Emanzipationskampfes gestaltet. Diejenigen, die das Wahlrecht verschlechtern oder die Bedeutung des Reichstags verkümmern, leiten damit also nur Wasser auf die Mühle derjenigen, die im Massenstreik ein Mittel sehen, die schwindende Macht des Reichstags neu zu beleben und ihm neue und höhere Macht und den Willen wie die Kraft zu einer wirklich proletarierfreundlichen Gesetzgebung einzuflößen. Das deutsche Proletariat lässt sich auf die Dauer um das allgemeine gleiche Wahlrecht ebenso wenig betrügen, als es sich dies Recht offen rauben lässt.

(Schluss folgt.)

(Schluss.)

4. Ostasien und Amerika

Wenden wir uns nun von den uns zunächst liegenden zu den am weitesten von uns entfernten Gebieten.

Dass die japanischen Siege auf Japan selbst den größten Einfluss haben müssen, ist klar. Und doch können wir darüber hier kurz hinweggehen da sie in der Richtung und der Art seiner Entwicklung keine Änderung hervorbringen, sondern nur ihr Tempo beschleunigen werden. Im Einzelnen mögen daraus sehr wichtige Erscheinungen resultieren, darüber zu urteilen, wäre aber wohl nur einem genauen Kenner von Land und Leuten möglich. Im Allgemeinen kann man bloß sagen, dass das Land noch mehr als bisher die kapitalistische Produktionsweise in seiner besonderen Art entwickeln wird. Es ist das Kennzeichen Japans und die Wurzel seiner Kraft, dass es ihm möglich war, ein wichtiges Entwicklungsstadium zu überspringen, das der Decadence des Feudalismus. Mochte auch sein Feudalwesen schon im Niedergang sein, als es sich der kapitalistischen Produktionsweise erschloss, so war es doch noch weit davon entfernt, solche Fäulniserscheinungen zu produzieren, wie sie etwa das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert in Westeuropa erzeugten. Mit einem Menschenmaterial, das noch nicht Jahrhunderte feudalen Verkommens und ursprünglicher Akkumulation des Kapitals entnervt und korrumpiert hatten, das etwa noch auf derselben Höhe stand, wie die Menschen der Renaissance, bemächtigte es sich sofort der Technik und des Wissens der bisher höchsten Stufe des Kapitalismus. Mit der ganzen ritterlichen Tatkraft und Tatenlust, aber auch spartanischen Einfachheit der Feudalzeit vereinigt es die ganze Macht der modernen Produktions- und Kriegstechnik, aber auch den ganzen Expansionsdrang und die ganze revolutionierende Unruhe des modernen Kapitals.***

Diese eigenartige und vielleicht kraftvollste unter den verschiedenen Erscheinungsformen des Kapitalismus im zwanzigsten Jahrhundert wird jetzt durch ihre Siege vermehrte Kapitalien und ein stark vergrößertes Ausbeutungsgebiet erhalten. Sollte, wie wahrscheinlich, Russland außerstande sein, eine Kriegsentschädigung zu zahlen, so muss um so umfangreicher das Gebiet werden, das Japan besetzt, und der größte Teil der mandschurischen Eisenbahn fällt ihm dann sicher kostenlos zu, deren Erbauung allein Russland rund eine Milliarde Mark gekostet hat. Und neue Kapitalien werden der rasch aufstrebenden neuen Großmacht auf dem Wege des Kredits zuströmen, den sie weit profitabler anwenden wird als Russland die unzähligen Milliarden, die es aus Europa herausgepumpt.

Mit dem japanischen Kapitalismus muss sich aber auch der japanische Sozialismus entwickeln, und wir dürfen annehmen, dass er die gleiche Tatkraft und das gleiche Expansionsbedürfnis äußern wird wie die Gesamtheit der japanischen Nation, wenn auch natürlich in ganz anderer Weise und auf ganz anderen Gebieten als die herrschenden Klassen. Der Eigenart seines Kapitalismus entsprechend wird auch sein Sozialismus ein eigenartiger sein müssen; aber wie jener wird auch dieser sein Handwerkszeug aus Europa und den Vereinigten Staaten holen, und je mehr Japan durch seine ökonomische Entwicklung in den Weltverkehr eintritt, desto mehr wird auch der japanische Sozialismus trotz aller Eigenart einen internationalen Charakter entwickeln.

Aber mehr noch vielleicht als Japan wird China durch dessen Siege beeinflusst werden. Sie dürften hier eine völlige Umwälzung der Situation herbeiführen, der Politik der Abschließung den Todesstoß versehen.

China ist von Natur aus ein von der übrigen Welt abgeschlossenes Land. Im Osten von einem Meere begrenzt. das bis vor kurzem aus dem Weltverkehr heraus-, nicht in ihn hineinführte, mit einer Küste, die, namentlich nördlich des Jangtsekiang wenige gute Häfen enthält, welche geeignet wären, tiefgehende Schiffe aufzunehmen, im Süden von fast unzugänglichen Gebirgen und Wildnissen begrenzt, im Norden von einem dünn bevölkerten Gebiet, im Westen von der Wüste, war es gegen Einbrüche oder Einwanderungen großer Völkermassen sehr geschützt. Mochte es auch von räuberischen Nomaden hin und wieder belästigt werden, im Ganzen konnte sich seine Bevölkerung in den fruchtbaren Flussebenen ganz dem Ackerbau widmen, ohne dass über dem Ackerbauer eine eigentliche Kriegerkaste, ein Feudaladel, auf die Dauer stark geworden und sich als solche behauptet hätte. Wenn ein solcher sich bildete, verweichlichte er bald aus Mangel an Übung. Der sesshafte Ackerbauer aber wird durch seine Beschäftigung friedliebend und abweisend gegen alles Fremde, das ihm Furcht einflößt; ihm fehlt der Wagemut, die Rastlosigkeit und Rücksichtslosigkeit des Jägers, Seefahrers und nomadischen Hirten. Ohne gründliche Schulung gibt er daher einen schlechten Soldaten ab. Diese Schulung und ein aneiferndes Vorbild kann er dort erhalten, wo ein starker und stets tätiger Kriegsadel mit ihm zusammenlebt. Der fehlte aber in China. Seine Aristokratie bilden Bürokraten, nicht Krieger.

Als daher die Europäer zur See dies Land erreichten, da fühlte es sich von ihnen trotz seines Volksreichtums gefährdet. und es sah seine beste Verteidigung darin, die Abschließung, die ihm von der Natur auferlegt worden, künstlich fortzusetzen. Die wachsende Macht der Europäer schoss zwar immer mehr Bresche in dies System, trotzdem beharrten die chinesischen Behörden bei ihrer unbehilflichen und unzulänglichen Methode des zähen, passiven Widerstandes, weil sie sich eben zu jedem aktiven Widerstand unfähig fühlten. Wohl zwang sie das stete Vordringen der Europäer, diesen ihre Waffen zu entlehnen, aber es fehlte an der kriegerischen Mannschaft, ohne welche die beste Waffe unnütz wird; bei jedem gewaltsamen Zusammenstoß zog China den kürzeren und sah sich dadurch in der Politik des passiven Widerstandes immer wieder neu bestärkt. Es war aber klar, dass diese Politik auf die Dauer keinen Erfolg haben konnte, dass sie nur die Schwäche und Widerstandslosigkeit des Landes maskierte. So schien China eine leichte Beute der europäischen Mächte zu werden, ein Opfer, das sein Leben nur noch dadurch zu fristen vermochte, dass diese über seine Teilung nicht einig werden wollten.

Dieser Zustand muss jetzt ein Ende nehmen. Japan hat nicht nur den gefährlichsten Feind Chinas, Russland, so zu Boden geworfen, dass ihm die Lust zu weiterer Eroberungspolitik in Ostasien für lange hinaus vergangen sein dürfte, es hat damit auch den Beweis geliefert. dass die Europäer nicht unüberwindlich sind. Es hat aber auch aufs Peinlichste gezeigt, wie sie nicht dadurch überwunden werden können, dass man sich von ihnen abschließt, sondern nur dadurch, dass man aufs Eifrigste alles von ihnen übernimmt, was sie Großes geschaffen haben. Geschah bisher das Eindringen moderner Technik und modernen Wissens in China nur mühsam, wurde es nur widerwillig geduldet und möglichst abgewehrt, so muss jetzt das japanische Beispiel maßgebend, müssen die Japaner selbst die Lehrmeister werden. Nicht nur in Wissenschaft und Technik, da können die Chinesen auch direkt von den Europäern lernen, sondern auch und namentlich im Kriegswesen. Was China fehlt, hat Japan in reichem Maße, einen zahlreichen, ritterlichen Kleinadel, der vortrefflich geeignet ist zum Führer im Kriege und befähigt und gewillt, den friedfertigen chinesischen Bauern zum Mordhandwerk zu drillen.

Es ist bezeichnend, dass, wie das „Independent Magazine“ in Amerika berichtet (zitiert im Londoner „Social-Democrat“ vom 15. Juni), von 1100 Büchern, die im letzten Jahre in China gedruckt wurden, meist Übersetzungen aus europäischen Sprachen ins Chinesische, nicht weniger als 120 vom Kriegswesen handelten.

Aber nicht nur daraus muss eine gewaltige Erstarkung Chinas erfolgen, sondern auch aus der Kräftigung, die sein nationaler Geist durch die japanischen Siege erfahren hat.

Die bisherige Produktionsweise Chinas – Überwiegen des Ackerbaues, einfache Warenproduktion in den Städten – ist einem nationalen, das heißt das ganze Gebiet der Nation umfassenden Denken und Empfinden nicht günstig. Jedes Dorf ist ein Organismus für sich, die Städte selbst haben nur wenige Beziehungen untereinander, die Provinzen bilden fast selbständige Staaten. Man bedenke, dass das Reich ebenso viel Bewohner zählt wie ganz Europa. Wenig mehr als eine Tributzahlung fesselt die Provinzen an die Zentralgewalt.

Diese herrscht freilich unumschränkt, aber sie hat wenig Gelegenheiten, in das Leben des Volkes einzugreifen. Ihre wichtigste ökonomische Funktion war bisher die Instandhaltung der Wasserbauten, Schutzdämme und Kanäle, die in den Flussebenen für den Fortgang der Landwirtschaft zum Schutze gegen Überschwemmungen, Berieselung des Kulturbodens, sowie zum Lastentransport unentbehrlich sind, die aber die Kräfte der einzelnen Gemeinden übersteigen.

Für die gemeinsamen Angelegenheiten des ganzen Reiches herrschte wenig Interesse, selbst die Kriege, welche China führte oder vielmehr, von denen China heimgesucht wurde, betrafen stets nur einzelne Provinzen und erregten über deren Gebiet hinaus keine tieferen Wirkungen.

Indes haben sie doch begonnen, die Keime eines nationalen Geistes zu entwickeln, und der ist rasch erstarkt, als in den letzten Jahren die Gefahr einer Aufteilung Chinas unter die Europäer greifbarere Formen annahm und Russland die Mandschurei, Deutschland Kiautschou „pachtete". Nicht minder tiefen Eindruck, aber einen ganz anderen, als den beabsichtigten, machte der „Hunnenfeldzug". Und die japanischen Siege über die russischen Eindringlinge haben endlich ganz China aufgewühlt.

Dass das aber nicht ein vorübergehendes Strohfeuer bleibt. dafür werden die ökonomischen Verhältnisse sorgen. Der Bau von Eisenbahnen und Telegraphen, der Aufbau des Postwesens, bisher widerwillig und zögernd betrieben, muss unter dem Anstoß Japans ein rascheres Tempo annehmen, damit werden aber alle Teile des Reiches in innigere Beziehung zueinander gebracht und so eine solide ökonomische Grundlage eines nationalen Bewusstseins und des Interesses für die Angelegenheiten des gesamten Reiches geschaffen.

Das oben zitierte „Independent Magaazine“ teilt mit, dass noch vor wenigen Jahren nur 7 Zeitungen in China existierten; heute gibt es ihrer 157. Der staatliche Postverkehr, den Sir Robert Hart kürzlich organisierte, zählt 1192 Postämter. 1903 beförderte er 49 Millionen Postpakete, 1904 bereits 72 Millionen.

So wird das ungeheure Gebiet immer mehr und mehr zu einem festgefügten Reiche zusammengeschweißt, dessen 400 Millionen bald geschlossen und wohlgerüstet jeden europäischen Angriff abzuwehren und jeden Eindringling hinauszuwerfen imstande sind. Kommt es so weit, so wird jede Aufteilung Chinas unmöglich.

Dass aber China unbelästigt bleibt, bis es so weit erstarkt ist, dafür zu sorgen hat jetzt Japan die Macht. Und es wird wohl auch den Willen haben. Denn für absehbare Zeit wenigstens gehen seine Interessen parallel mit denen Chinas. Es hat die gleichen Feinde und es hat dasselbe Interesse, keiner europäischen Macht zu gestatten, festen Fuß in China zu fassen. Endlich muss es aber schon durch seine geographische Lage und durch die Kulturverwandtschaft bei der ökonomischen und militärischen Reorganisationsarbeit in China um so mehr die Hauptrolle spielen, je mehr europäische Einflüsse ausgeschaltet werden, und muss seine Industrie bei der Politik der offenen Türe in China am meisten profitieren.

Die Siege Japans dürften also nicht bloß dieses, sondern auch China gerettet, damit aber auch jede weitere Expansionspolitik der kapitalistischen Nationen weißer Rasse unmöglich gemacht haben. China war das letzte große Gebiet, das noch der Verteilung offen schien. Ist seine Aufteilung unmöglich geworden, dann ist die Welt verteilt. Dann kann keine kapitalistische Nation mehr auf anderem Wege als auf Kosten ihrer Genossen sich erweitern. Damit beginnt auch in dieser Beziehung eine neue Epoche der Weltgeschichte.

Natürlich kann diese plötzliche Ausweitung des Ausbeutungsgebiets für den japanischen Kapitalismus und die Verbesserung und Ausdehnung der Militärmacht und der Kommunikationen Chinas nicht vor sich gehen, ohne auch den Markt für den ganzen internationalen Kapitalismus zu erweitern. In weiten Kreisen wird denn auch vom Friedensschluss eine neue Ära der Prosperität. ein neuer „Boom“ erwartet. Aber es scheint doch, als dürfte man die Erwartungen, namentlich in Frankreich und Deutschland, nicht allzu hoch spannen.

Freilich, wenn es gelingt, ein kraftvolles liberales Regime an Stelle des permanenten Aufruhrs in Russland zu setzen, ein Regime, das die Finanzen ohne Bankrott in Ordnung zu bringen und das Reich kreditfähig zu machen weiß, so wird es, namentlich zur Neuausrüstung der Armee und Schaffung einer neuen Flotte, die Industrie des Auslandes in hohem Maße heranziehen müssen, und dabei würden die getreuen Helfer in der Not, die dem Zarismus so viele Gefälligkeiten erwiesen, wohl in erster Linie berücksichtigt werden. Von solchen Neuanschaffungen kann jedoch keine Rede sein, wenn die Anarchie in Russland noch länger andauert.

Von Japan und China aber haben Deutschland und Frankreich nichts zu erwarten, gerade wegen der Liebesdienste, die sie Russland während des Krieges erwiesen. Und Kiautschou bleibt ein Pfahl im Fleische Chinas, der dieses stets aufs Neue gegen Deutschland aufreizt. Dies Plätzchen an der Sonne dürfte die Ursache werden, dass die Industrie Deutschlands in Ostasien noch recht oft in den Schatten gestellt wird, bis zu jenem Moment, wo China stark genug geworden ist, den „Pächtern" seines Grund und Bodens die Türe zu weisen.

Der Löwertanteil an der neuen Prosperität wird jedenfalls den Vereinigten Staaten zufallen, die durch ihre geographische Lage wie durch ihre kluge Politik dem ostasiatischen Markte am nächsten gerückt sind. Gleichzeitig aber wird für sie eine besondere Seite der Arbeiterfrage besonders brennend werden: die der chinesischen Einwanderung.

In jedem Lande beginnt die kapitalistische Produktionsweise damit, einen Teil der Landbevölkerung durch die verschiedensten Methoden zu expropriieren und damit eine große Armee Arbeitsloser zu schaffen, die nur langsam und niemals völlig durch die anwachsende Industrie aufgesaugt wird, die aber, ehe es eine starke kapitalistische Industrie gibt, nicht bloß eine Reservearmee von Lohnarbeitern bildet, sondern auch eine Bevölkerungsschicht, die nur die Wahl hat entweder zwischen der Auswanderung oder Betteln und Stehlen. Je nach den Verhältnissen der Nachbarländer und der Höhe des Verkehrswesens wird der eine oder der andere Ausweg ergriffen.

Amerika aber ist das Eldorado aller dieser Elemente, Amerika mit seinem vielen noch unbebauten Ackerland und seiner starken Industrie. Die Überzähligen aller Nationen strömen mit Vorliebe dahin. So auch die Chinesen. Ihr Andrang muss sich um so mehr steigern, je weiter die Eisenbahnen ins Innere Chinas dringen, je lebhafter der Schiffsverkehr zwischen China und den Vereinigten Staaten.

Die australischen und amerikanischen Arbeiter, kurzsichtige und prinziplose Nurgewerkschaftler, haben es bisher vermocht, sich der Konkurrenz der lohndrückenden Arbeiter der gelben Rasse dadurch zu erwehren, dass sie ihnen kurzweg die Einwanderung verboten. Diese Einwanderungsverbote dürften aber jetzt ein Ende nehmen. Die neue Großmacht Japan wird es nicht dulden, dass man ihre Bürger auf eine niedrigere Stufe stellt als die anderer Länder; aber auch China scheint nicht gewillt, sich die Ausschließung seiner Söhne länger gefallen zu lassen. Es kann ihre Zulassung freilich nicht durch die Macht der Kanonen erzwingen, aber der Markt, den es bietet, ist ein so ausgedehnter, dass es sehr wohl imstande ist, durch die Drohung seiner Abschließung eine gewisse Pression auszuüben. Es ist aber sehr fraglich, ob die Kapitalisten der Vereinigten Staaten gewillt sein werden, ihren Absatz in China zu schädigen, bloß um lohndrückende Elemente von ihrem Lande fernzuhalten.

So kann die Chinesenfrage noch zu einem wichtigen Streitobjekt zwischen amerikanischen Arbeitern und Kapitalisten werden, einer Ursache, den Gegensatz zwischen beiden zu vertiefen. Trotzdem würde freilich zunächst die Position der Sozialdemokratie in Amerika dadurch nicht erleichtert werden. Sie käme in eine schwierige Zwickmühle zwischen der Verfechtung der Interessen der amerikanischen Lohnarbeiterschaft und der der internationalen Solidarität. Selbstverständlich hat sie alle Ursache, jeder Einwanderung unfreier Arbeiter, von Schuld- oder Kontraktsklaven, entgegenzuwirken. Aber ebenso sicher verbietet es ihr die internationale Solidarität, die Lohnarbeiter irgendeiner Nation, wenn sie freie Menschen sind, von der internationalen Freizügigkeit auszuschließen. Wie immer aber die Kämpfe sich gestalten mögen, die hieraus resultieren, die amerikanischen Arbeiter werden schließlich zur Erkenntnis kommen müssen, dass alle Abschließungspolitik ein vergebliches Wehren ist, die ihrige nicht minder wie die bisherige chinesische; dass nur im Fortschritt zum internationalen Sozialismus ihr Heil liegt, was in diesem Falle bedeutet, dass sie die Organisation und sozialistische Aufklärung der Japaner und Chinesen in Amerika wie in Ostasien für eine der wichtigsten Aufgaben der amerikanischen Arbeiterbewegung erkennen und dementsprechend fördern.

5. Indien und England

Neben Japan und China gibt es aber noch ein gewaltiges Gebiet in Asien, das durch die japanischen Siege aufgestachelt und vielleicht mehr noch revolutioniert wird als das Reich der Mitte. Es ist dies Indien mit seinen 300 Millionen Einwohnern.

Wie China war auch Indien bisher schwach durch den Mangel eines einheitlichen nationalen Bewusstseins. Dieselbe Produktionsweise wie in China machte auch in Indien jede Dorfgemeinde zu einer Welt für sich, die sich um die übrige Welt nicht kümmerte. Wenn aber in China wenigstens eine gemeinsame Sprache, Religion, Literatur Bande sind, die die ganze Nation umfassen und das Aufkommen eines einheitlichen nationalen Gefühls sehr erleichtern, so fehlt diese Gemeinsamkeit in Indien. Weit leichter fremden Eroberern zugänglich, hat es von Zeit zu Zeit Masseneinbrüche fremder Völker gesehen, die sich nicht immer mit den früheren Bewohnern völlig vermischten. So hat sich im Laufe der Jahrtausende auf dem weiten Gebiet eine bunte Musterkarte der verschiedensten Völkerschaften, Sprachen, Religionen und Kasten entwickelt, die einander nicht bloß fremd, sondern oft direkt feindselig gegenüberstehen. Das ist eine der stärksten Wurzeln des absoluten Regimes, welches die Engländer in Indien errichtet haben. Und daneben stützt es noch der durch so viele Niederlagen in Kriegen und Empörungen bekräftigte Glaube an die Unüberwindlichkeit europäischer Kriegskunst.

Diesem Glauben wurde ein Ende bereitet durch die glänzende Kriegführung Japans, seine Niederwerfung jenes Feindes, den die Herren Indiens selbst so sehr fürchteten, dass sie ihm eine Konzession nach der anderen machten und ihn widerstandslos bis an die Tore ihres Reiches gelangen ließen. Aber diese Kriegführung hat nicht nur das Selbstgefühl der Asiaten gehoben, sondern auch eine Art asiatisches Nationalgefühl erzeugt, in dem die bisherigen Stammesgefühle wenn auch nicht ganz verschwinden, so doch so weit zurücktreten, dass ein gemeinsames Handeln gegen den gemeinsamen Feind dadurch erheblich erleichtert wird.

In den letzten Tagen ging ein Artikel durch die Parteipresse über „Das Erwachen Asiens", der einige sehr bemerkenswerte Tatsachen darüber mitteilt, dass man in Indien beginnt, auf den höheren Schulen Japanisch zu lehren, dass indische Studenten nicht mehr nach England, sondern nach Japan studieren gehen und Japan dort in allen Dingen für vorbildlich gehalten wird. Ähnliches wird auch von anderer Seite berichtet, unter anderem hat Genosse Hyndman, der genaue Kenner Indiens, darauf hingewiesen, dass unter dem Einfluss der japanischen Siege das Selbstgefühl und die oppositionelle Stimmung gegen England in Indien rasch wächst. Bei den gut entwickelten Kommunikationen, der großen Vereins- und Versammlungsfreiheit, der gut entwickelten Presse kann aber eine solche Stimmung dort rasche Verbreitung finden, und wie leicht, selbst bei mangelnder Presse- und Vereinsfreiheit, die Opposition gegen einen unerträglichen Druck die Angehörigen der verschiedensten Nationen zu einheitlichem Vorgehen vereinigen kann, zeigt eben jetzt Russland im großartigsten Maße.

Die Niederlage Russlands kann aber noch in anderer Weise das Wachstum der indischen Opposition gegen die britische Herrschaft begünstigen. Solange ein starkes, angriffslustiges Russland an den Grenzen Indiens lauerte, lief jede energische Bewegung gegen das englische Regime Gefahr, nur die Pläne Russlands zu fördern. Wie drückend aber auch die britische Verwaltung empfunden werden mag, so steht sie doch noch hoch über der russischen. Die Indier kämen vom Regen in die Traufe, würden sie das englische Joch mit dem russischen vertauschen. Diese Erwägung musste gerade die intelligentesten und weitest blickenden Inder davon zurückhalten, eine Bewegung zu fördern, die Englands Position zu schwächen vermochte.

Jetzt, nach Russlands Niederlage, sind diese Befürchtungen für lange hinfällig geworden. England in Indien schwächen, heißt jetzt nicht mehr, Russlands Eindringen dort fördern. Schon einmal haben ähnliche Erwägungen die Engländer eine Kolonie gekostet. Solange die Franzosen in Nordamerika ein großes Kolonialreich besaßen, dicht an den Grenzen der englischen Kolonien, und durch ihr Vordringen deren Unabhängigkeit bedrohten, waren diese voll der größten Loyalität für das Mutterland, das sie schützte und dessen Oberhoheit sie dem Regime der Soldaten, Bürokraten und Jesuiten des französischen Absolutismus vorzogen. Als aber Frankreich geschlagen war und im Pariser Frieden auf seine nordamerikanischen Besitzungen verzichten musste, da begann sich sofort in den englischen Kolonien der Geist der Unabhängigkeit und der Widerspenstigkeit gegen das Mutterland zu regen, dessen Schutz man nicht mehr brauchte, und es dauerte nur wenige Jahre, so hatten sie dem Stammland den Krieg erklärt und sich von ihm losgerissen. 1763 wurde der Pariser Friede geschlossen, und schon 1773 brach die Rebellion in Boston los, mit der der Unabhängigkeitskrieg begann, der dann, wieder zehn Jahre später, 1783, durch die Anerkennung der .Vereinigten Staaten seinen Abschluss fand.

Natürlich ist nicht zu erwarten, dass die anregenden Wirkungen des japanischen Krieges auf Indien sich sofort in einer Losreißungsbewegung äußern werden. Wohl aber dürften sie die Opposition gegen das jetzige Regime erheblich verstärken und verschärfen. Das kann zweierlei Folgen haben: entweder das Streben, die Opposition durch Gewaltmittel niederzudrücken, was darin der Bewegung erst recht einen rebellischen Charakter verleihen müsste; oder das Streben, sie durch Konzessionen zu entwaffnen, wodurch freilich England sich den Besitz von Indien noch für längere Zeit sichern könnte, aber nur durch Verzicht auf die reiche Beute, die es bisher jahraus jahrein aus dem Lande zog. Die allgemeinen Tendenzen der englischen Kolonialpolitik und der englischen Politik überhaupt sprechen für das letztere Verfahren. Aber man darf nicht vergessen, dass die Engländer die Methode der Konzessionen in der Regel nur dort anwenden, wo sie durch die entgegengesetzte wenig zu gewinnen haben. Es ist die Methode des berechnenden Kaufmanns. Aber so sehr ein solcher sonst bereit sein mag, mit sich handeln zu lassen und durch Entgegenkommen die Kundschaft zu fesseln, er wird unerbittlich, brutal, grausam, wo großer Gewinn lockt oder auf dem Spiele steht. Das hat England erst jüngst in Südafrika bewiesen.

In Indien handelt es sich aber um noch viel mehr als in Südafrika. Es ist heute die einzige große Kolonie alten Stils. Während die Kolonien der anderen Länder alle viel kosten, die anderen englischen Kolonien mindestens keinen erheblichen Ertrag abwerfen, alle aber, englische wie andere, Kapitalien bloß importieren, nicht exportieren, ist das britische Indien noch ein Überbleibsel jener Periode, in der die Kolonien ein Mittel ursprünglicher Akkumulation von Kapital waren, Kapitalien exportierten oder vielmehr Reichtümer, die zu Kapital werden konnten, sehr unfreiwillig abgaben und dadurch den Kapitalreichtum des Stiefmutterlandes rasch vergrößerten. Enorme Reichtümer wandern heute noch jedes Jahr von Indien nach Großbritannien. Dadabhai Naorodschi berechnet sie in seinem Buche über Indien („Poverty and unbritish Rule in India“, London 1901, Swan Sonnenschein) auf 600 Millionen Mark, in einem Artikel der „Justice“ vom 24. Juni dieses Jahres auf 700 Millionen (über 34 Millionen Pfund Sterling) jährlich.

Seit Jahrhunderten wird Indien von England geplündert. Aber anfangs waren es die großen Machthaber, deren Schatzkammern geleert wurden; das konnte das Land ertragen. Je leerer diese wurden, desto mehr trat die Ausplünderung durch Besteuerung der armen Volksmasse in den Vordergrund, und diese Art der Plünderung wächst zusehends und wird immer verderblicher. Ihr Betrag hat sich in den letzten hundert Jahren verzehnfacht. Das bedeutet eine Verelendung der Volksmasse, eine Lähmung des Hauptproduktionszweigs, der Landwirtschaft, in einem nicht geringeren Maße, als dies in Russland der Fall. Hier wie dort ist denn auch die Hungersnot ein ständiger Gast, ist eine Umwälzung dieses Systems zu einer Lebensfrage geworden.

Aber sie bedeutet eine Lebensfrage nicht bloß für Indien, sondern, wenn auch in anderer Weise, für die herrschenden Klassen Englands. Der eine Pfeiler seiner ökonomischen Macht, seine industrielle Alleinherrschaft, ist freilich schon geborsten, aber noch steht der andere: die Ausbeutung Indiens. Und je mehr der erstere zusammenbricht, um so wichtiger wird der zweite. Mit Recht erklärte Lord Curzon, der Vizekönig Indiens, in der „Times" (3. Dezember 1898): „Indien ist der Angelpunkt unseres Reiches. Den Verlust jeder anderen seiner Besitzungen könnte es überleben, aber wenn wir Indien verlören, ginge die Sonne für unser Reich unter."

Das heißt, die Sonne für das Reich der Reichen. Dieses versänke in finstere Nacht. Sein ganzes ökonomisches System erlitte einen Zusammenbruch, aus dem der Sozialismus den einzigen Ausweg zu erneutem Wohlstand böte.

Aber schon eine Politik der Konzessionen an Indien, die, um dem Verlust vorzubeugen, seine Ausbeutung erheblich verminderte und damit die Summe der Reichtümer einschränkte, die nach England fließt und bis in einen Teil seiner arbeitenden Klassen hinein Wohlstand verbreitet, schon eine solche Politik müsste die Arbeitslosigkeit und die Staatskosten in England vermehren, die Staatseinnahmen aus den bisherigen Quellen vermindern, die Klassengegensätze verschärfen.

Wohl hoben sich alle Erwartungen bisher als trügerische erwiesen, die wir seit einem Vierteljahrhundert immer wieder von neuem auf das Erwachen der englischen Arbeiterklasse auf der Tatsache ableiteten, dass die Ausnahmestellung Englands als industrieller Alleinherrscher auf dem Weltmarkt ihr Ende erreicht hat. Bisher hat nur die Kapitalistenklasse Englands die Konsequenzen daraus gezogen durch wachsende Feindseligkeit gegen jegliche Art proletarischer Kampforganisationen. Aber vielleicht wird die Erhebung Indiens endlich zum Anstoß werden, das schlafende Proletariat Englands zu erwecken, indem dadurch der zweite Pfeiler jener Ausnahmestellung Englands ins Wanken gebracht wird, die gegenüber dem Ausland eine Art Interessenharmonie zwischen seinen Kapitalisten und Proletariern wenigstens für kurzsichtige Beschauer herstellte. Wachsende Schwierigkeiten in Indien, ökonomische Krise, vermehrte Steuern, vielleicht Lebensmittelzölle in England, zusammenfassend mit der russischen Revolution in Permanenz, mit großen politischen Kämpfen in Deutschland und Frankreich, mit Umwälzungen in Österreich und der Türkei, vielleicht gar noch internationalen Kriegen – wenn das die englischen Arbeiter nicht aufrüttelt, dann ist auf sie in unseren nächsten Befreiungskämpfen überhaupt nicht mehr zu rechnen, dann wird das auserwählte Volk der Nurgewerkschaftlerei für den Sozialismus erst dann reif werden, wenn auch Japaner, Chinesen, Hindus dazu reif sind – von den Botokuden wollen wir vorläufig noch absehen.

Aber trotz aller trüben Erfahrungen ist zu einer derartigen pessimistischen Auffassung noch keine Veranlassung. Noch dürfen wir hoffen, dass die gewaltige Umwälzung der politischen und sozialen Verhältnisse des gesamten Erdballs, die der russisch-japanische Krieg entfesselt hat, auch am britischen Proletariat nicht spurlos vorübergeht und dass er es vermag, jede der drei großen konservativen Mächte, die jeglicher Revolution unzugänglich schienen, China, Russland, England, mitten in die Strömung der großen Emanzipationskämpfe unserer Zeit hineinzuziehen und damit deren Tempo enorm zu beschleunigen.

Wie immer diese Kämpfe in Wirklichkeit sich gestalten, wie Unerwartetes sie bringen, wie sehr sie die Schlussfolgerungen, die ich hier aus den vorliegenden Tatsachen zu ziehen versucht, modifizieren mögen, eines kann man jetzt schon mehr als wahrscheinlich, kann man als sicher betrachten: eine Ära revolutionärer Entwicklung hat begonnen; das Zeitalter langsamen, mühsamen, fast unmerklichen Fortschreitens wird weichen einer Epoche der Revolution, sprunghaften Vorwärtsschnellens – freilich vielleicht auch zeitweiliger großer Niederlagen, aber, so viel Zutrauen müssen wir zur Sache des Proletariats haben, auch schließlicher großer Siege. Damit werden wir aber nur ernten, was wir und unsere Vorgänger gesät. Ohne die Aufklärungsarbeit unserer großen Theoretiker und Redner, ohne die unermüdliche propagandistische und organisatorische Kleinarbeit unserer zahllosen anonymen Kämpfer, ohne alle jene Arbeiten, die oft als Sisyphusarbeiten erschienen, deren geringe äußerliche Erfolge manchen entmutigten, indes sie manchem anderen den Blick so verengten, dass er andere Methoden des Fortschreitens nicht mehr für möglich hielt – ohne all diese emsige Vorbereitungsarbeit von Jahrzehnten, ebenso wie ohne die unermüdliche revolutionierende Tätigkeit des Kapitalismus, der alle alten Verhältnisse ausgehöhlt und haltlos gemacht –, ohne alles das wäre es unmöglich, dass jetzt das kleine, ferne Japan eine solche Summe revolutionärer Energie in der Welt auslöste.

Dass aber Japan dies vermochte, dass der Sieg einer weit entfernten ostasiatischen Macht den proletarischen Klassenkampf in Europa so gewaltig anzustacheln vermag, beweist auch, wie sehr das Proletariat eine Weltmacht geworden ist, dass nichts Großes mehr in der Welt sich vollziehen kann, das nicht den Siegeszug des Sozialismus beschleunigt.

* Stellenweise hat sie sogar die russische Politik des „Vorwärts“ beeinflusst und ihm recht pessimistische Äußerungen über die russische Revolution entlockt. Ich hatte schon einmal Gelegenheit, eine solche Äußerung über drohende Bauernunruhen (im „Vorwärts“ vom 10. Februar) in der „Neuen Zeit" zu beleuchten (Nr. 21 dieses Jahres. Eine ähnliche Stimmung sprach erst jüngst wieder aus dem Briefe seines Korrespondenten in Petersburg (20. Juni), der von „Pessimismus“ und „Müdigkeit“ überströmt und über das „Chaos“ jammert, „wo von Ordnung, Gesetz und zweckmäßiger Tätigkeit keine Spur … dann werden die Gefühle müde, man hört beinahe auf zu hoffen, und ohne Hoffnung bleibt der politische Gedanke tot...“

Diese ganz unglaubliche Jeremiade veröffentlicht der „Vorwärts“ ohne ein Wort des Kommentars – wenn man nicht einen Kommentar darin sehen will, dass er unmittelbar darunter die Nachricht von der Versammlung der rebellischen Offiziere bringt, eine Nachricht, die einem wirklichen Revolutionär alles andere einflößen musste als Pessimismus, Müdigkeit. Hoffnungslosigkeit.

Ganz anders und sehr erfrischend wirkt dagegen ein Brief aus Russland, den die Dortmunder „Arbeiter-Zeitung“ veröffentlicht und der jubelt: „Es ist eine Lust zu leben." Der Korrespondent gibt ein herzerfreuendes Bild der unermüdlichen Arbeit des revolutionären Kampfes, der Organisation und Aufklärung der Proletariermassen, die von unseren Genossen jetzt in Russland geleistet wird.

** Der „Vorwärts" scheint ebenfalls dieser Ansicht zu huldigen oder vielmehr, genau gesagt, die Mehrheit seiner Redaktion, von der allein das in diesem Artikel über den „Vorwärts" besagte gilt. Vorliegende Ausführungen waren schon geschrieben, als der Leitartikel des „Vorwärts" über die „Tagesordnung des Parteitags" erschien (6. Juli), in dem dieselbe Melodie angestimmt wird, die Herr v. Gerlach vorgesungen. Es wird dort darauf hingewiesen, dass „wir (die Redaktion) vor zwei Jahren eindringlich bedauert haben, dass der Parteitag schon durch seine Tagesordnung sich gehindert hat, der großen politischen Situation gerecht zu werden, welche damals infolge des überwältigenden Wahlsiegs vorn 16. Juni gegeben war". Er habe sich dadurch „der unmittelbaren Einwirkung auf das politische Leben Deutschlands in nicht unerheblichem Maße entschlagen".

Diese Auffassung hätte absolut keinen Sinn, wenn der „Vorwärts" nicht der Meinung wäre, durch eine andere, mehr „positive" Gestaltung der Tagesordnung hatten sich praktische Erfolge aus dem Wahlsieg ziehen lassen. Denn er kann nicht sagen, dass der Dresdener Parteitag die Reichstagswahlen ignoriert hatte. Der Punkt 4 der Tagesordnung lautete: Taktik der Partei – Reichstagswahlen, Vizepräsidialfrage, die revisionistischen Bestrebungen.

Freilich solche taktische Diskussionen passen dem „Vorwärts" nicht. Sein Artikel hat die Tendenz, die Parteitage mehr nach bürgerlichem Muster zu agitatorischen Schaustellungen zu gestalten, in denen nicht über jene Fragen diskutiert wird, über die wir uneinig, sondern über jene, über die wir einig sind, wie Zehnstundentag, Kampf gegen Marinismus und Militarismus.

Die propagandistische Behandlung solcher Fragen fällt jedoch in erster Linie der Reichstagsfraktion zu. Die letztere wäre ein ebenso kostspieliges wie überflüssiges Luxusmöbel, würde sie diese Aufgabe nicht genügend lösen. Der Parteitag aber soll das kräftigste Mittel der Weiterentwicklung der Partei sein, soll alle jene Fragen zur Entscheidung bringen, die innerhalb der Partei selbst auftauchen und in ihr geteilte Anschauungen hervorrufen. Der geistige Fortschritt der Partei wäre völlig gehemmt, wenn nicht solche neue Streitfragen von Zeit zu Zeit auftauchten, aber sie würden zur Zersetzung der Partei führen, würden sie endlos debattiert. Die Parteitage haben die Aufgabe, ebenso die freie Diskussion solcher Fragen zu entfesseln, wie auch, nachdem alle Argumente erschöpft, erkennen zu lassen, wie die Mehrheit der Partei darüber denkt. und der Diskussion dadurch einen Abschluss zu geben.

Wie weit der Parteitag die Möglichkeit hat, daneben noch Fragen zu behandeln, über die wir im Wesentlichen einig sind, die bloß der propagandistischen Wirkung wegen auf die Tagesordnung kommen, hängt davon ab, wie zahlreich und wichtig die Meinungsverschiedenheiten in unserer Mitte.

Gerade in der heutigen revolutionären Situation gibt es aber keine Frage, die für uns größere Wichtigkeit hätte als die des Massenstreiks. Dem „Vorwärts" mag sie ebenso minim erscheinen wie alle anderen großen Streitfragen der letzten Zeit, in denen er nur kleine persönliche Reibereien zu entdecken vermochte, der Parteivorstand hat sicher dem Empfinden der Masse der Parteigenossen Ausdruck gegeben, als er den Massenstreik auf die Tagesordnung setzte.

*** Sehr anregend ist. was Genosse Beer darüber in seinem Artikel „Der Kampf um den Stillen Ozean“, „Neue Zeit", XXIII 1, S. 419 geäußert hat.

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