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Karl Kautsky 19051026 Die Herausgabe des Marxschen Nachlasses

Karl Kautsky: Die Herausgabe des Marxschen Nachlasses

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 24.1905-1906, 1. Band.(1905-1906), Heft 5 (26. Oktober 1905), S. 167 f.]

Im neuesten Hefte der „Dokumente des Sozialismus" zeigt Bernstein den von mir herausgegebenen zweiten Band der Marxschen „Theorien über den Mehrwert" an und hängt daran zum Schlusse folgende „persönliche Bemerkung":

Der Herausgeber spricht im Vorwort davon, dass Friedrich Engels seinerzeit ihm die Veröffentlichung des wissenschaftlichen Nachlasses von Marx überwiesen habe. Das ist nicht ganz richtig. Friedrich Engels hatte zwei Personen für diese Ausgabe bestimmt. Wenn die Marxschen Erben von der zweiten Person absehen zu müssen glaubten, so soll ihr Recht dazu nicht in Frage gestellt werden. Aber es war ihre und nicht Engels' Verfügung.“

Die Frage, die Bernstein hier aufwirft, ist recht gleichgültiger Natur, aber erst kürzlich hat ein Vorkommnis gezeigt, wie viele gute Freunde wir haben, die geneigt sind, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, der bestimmt ist, unseren guten Ruf niederzutrampeln. So könnte auch die Erklärung Bernsteins zu dem Klatsch oder der „Legende" Anlass geben, als hätten die Marxschen Erben im Gegensatz zu den Absichten von Friedrich Engels Bernstein an der Erfüllung einer ihm zugedachten Aufgabe gehindert oder als hätte ich ihn von einem Posten verdrängt, zu dem ihn Engels bestimmt.

Da muss ich denn doch konstatieren, dass die Bernsteinsche Darstellung „nicht ganz richtig" ist. Vor allem lässt sie mich eine Behauptung aufstellen, die ich nie gemacht. Ich spreche in meinem „Vorwort" keineswegs von dem „wissenschaftlichen Nachlass von Marx", sondern nur von jenem Manuskript „Zur Kritik der politischen Ökonomie", das Engels als vierten Band des „Kapital" herausgeben wollte, ich als „Theorien über den Mehrwert" herausgebe. Darüber sagte ich in der Vorrede zum ersten Bande:

Schon eitrige Jahre vorher hatte Engels mich als denjenigen bezeichnet, der das in Rede stehende Manuskript, den sogenannten vierten Band, herauszugeben hätte, wenn ihm selbst etwas Menschliches passierte, hatte mich auch in das schwer zu entziffernde Manuskript und dessen Gedankengang eingeführt."

Das hatte ich im Auge, als ich in der Vorrede zum zweiten Bande von der „großen Aufgabe" sprach, „die mir als kostbarstes Vermächtnis vor zehn Jahren der Tod meines unvergesslichen Meisters und Freundes Friedrich Engels überwies".

Wenn Bernstein jetzt schreibt, Engels habe „zwei Personen für diese Aufgabe bestimmt", so ist mir davon nichts bekannt. Sollte darunter die Bemerkung gemeint sein, die Engels 1887 zu mir machte und die ich wahrscheinlich Bernstein mitteilte, dass als Herausgeber des fraglichen Manuskripts nur zwei Leute in Betracht kommen können, Bernstein oder ich? Aber Engels fügte eben hinzu, dass er zunächst mich dazu ausersehen habe, und er hat auch später mir gegenüber stets nur von meiner Aufgabe gesprochen, den „vierten Band" zu publizieren. Aber auch den Marxschen Erben gegenüber hat Engels nie eine zweite Person zur Herausgabe bestimmt. wie mir meine Freundin Laura Lafargue ausdrücklich versichert. Hätte ihnen Engels jemals eine derartige Verfügung hinterlassen, so wäre 1895 für die Marxschen Erben noch nicht der mindeste Grund vorgelegen, von ihr abzuweichen, und ebenso wenig hätte ich dem entgegengewirkt, der ich damals, von der Größe der mir zugefallenen Arbeit erschreckt, selbst mit dem Gedanken umging, die Mithilfe Bernsteins dazu zu gewinnen, was freilich durch seine bald darauf einsetzende Wandlung ausgeschlossen wurde.

Anderseits hat Bernstein selbst bisher nie, weder unmittelbar nach Engels' Tode noch später, ein Wort darüber fallen lassen, dass Engels gewünscht hätte, wir beide sollten das Marxsche Manuskript zur Geschichte der Theorien über den Mehrwert gemeinsam herausgeben. Sein Anspruch darauf ist mir völlig neu.

Noch unrichtiger ist die Bernsteinsche Darstellung, wenn sie, ihrem Wortlaut entsprechend, auf den ganzen Nachlass von Marx bezogen wird. Über die Personen der Herausgeber dieses Nachlasses hat Engels, soviel mir bekannt. überhaupt keine Verfügungen getroffen. In seinem Testament bestimmte er, dass alle Manuskripte literarischer Natur, die Marxsche Handschrift trügen, aus seinem Nachlass der Tochter von Karl Marx, Eleanor Marx-Aveling, ausgefolgt werden sollten. Diese nahm auch zunächst die Herausgabe des Marxschen Nachlasses, abgesehen von dem Manuskript „Zur Kritik der politischen Ökonomie", selbst in die Hand. Sie veröffentliche eine Reihe Marxscher Artikel aus der „New York Tribune“ englisch („Revolution und Konterrevolution in Deutschland", von mir ins Deutsche übersetzt, 1896, sowie die Eastern Question 1897, Secret Diplomatic History of the Eighteenth Century“ und „The Story of the Life of Lord Palmerston“, 1899 erschienen). Nach ihrem vorzeitigen Tode übertrugen die anderen Marxschen Erben die Herausgabe eines Teiles des noch verbleibenden Nachlasses an F. Mehring, der die bekannte vierbändige Ausgabe besorgte. Bernstein war bei alledem nie in Frage gekommen.

Aber selbst wenn seine „Richtigstellung" ebenso begründet wäre, als sie unbegründet ist. bleibt es völlig unerfindlich, welchem Zwecke sie heute noch dienen soll. Unmittelbar nach Engels' Tode hätte man es noch für eine Unbilligkeit halten können, wenn entgegen einem Wunsche von Engels Bernstein von der Herausgabe des Marxschen Nachlasses ausgeschlossen wurde.

Seit der Veröffentlichung seiner „Voraussetzungen" dagegen halten es die Marxschen Erben für ihre Pflicht, Bernstein von jeder Publikation Marxscher Gedankengänge fern zu halten. Sie würden sich dazu verpflichtet fühlen auch für den Fall, dass Engels Bernstein eine derartige Publikation zugedacht hätte. Denn der Bernstein, den Engels kannte und dem er sein Vertrauen schenkte, existiert heute nicht mehr.

Welchen Zweck hat also die Bernsteinsche „Richtigstellung"?

K. Kautsky

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