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Karl Kautsky 19050201 Die zivilisierte Welt und der Zar

Karl Kautsky: Die zivilisierte Welt und der Zar*

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 23.1904-1905, 1. Band.(1904-1905), Heft 19, S. 614-617, 1. Februar 1905]

Die Redaktion der „Vie Socialiste“ fordert mich auf, meine Ansichten über den Zarismus und seine jüngsten Bestialitäten auszusprechen. Die Antwort darauf kann nur eine selbstverständliche sein. Denn selbstverständlich ist es, dass jeder Sozialist Grimm und Verachtung für die tückischen Bluthunde an der Newa empfindet, mit Grauen des Blutbads von Petersburg gedenkt, mit Jubel und Verehrung der Tausende von Helden, die sich der zarischen Soldateska entgegen warfen, um mit ihrem Herzblut die Sache der Revolution zur Sache des gesamten russischen Volkes zu weihen. Ebenso selbstverständlich aber ist es auch für jeden Sozialisten, dass er über den Helden von heute nicht die Helden von gestern vergisst und über den Helden mit klingenden Namen in Wissenschaft und Kunst nicht jene aus der großen anonymen Menge, die kämpfen und dulden bloß um der Sache willen, ohne die geringste Aussicht, jemals Anerkennung oder gar Ruhm dafür zu ernten; jene bescheidenen Proletarier, denen der Kampf gegen die herrschende Ordnung in Staat und Gesellschaft einfach Bedürfnis und Pflicht ist, der sie als einer Naturnotwendigkeit gehorchen.

Selbstverständlich ist es auch, dass wir uns erinnern, wie die riesenhafte Bewegung von heute unmöglich wäre, wenn nicht die russische Sozialdemokratie den eigentlichen kraftvollen Träger dieser Bewegung, das industrielle Proletariat, in zwanzigjähriger mühsamer und opfervoller Arbeit geschult hätte, immer wieder von neuem versuchend, es zu organisieren, es aufzuklären über seine Klassenlage und seine historische Rolle.

Das Große, was sich jetzt in Russland vollzieht, ist zum erheblichen Teile nur die Ernte dessen, was viele Jahre lang gesät worden, unter Verhältnissen. die geeignet waren, den Stärksten zu entmutigen und aufzureiben, in denen nur die tiefste theoretische Einsicht gepaart mit der selbstlosesten Hingebung die Hoffnungslosigkeit ebenso wie den Drang nach Abenteuern zu überwinden und durch nie erlahmenden Feuereifer und ruhige, zielbewusste Arbeit zu ersetzen vermochte.

Aber so selbstverständlich das alles ist, so schwierig ist die Antwort auf die Frage, die sich uns allen ebenfalls als selbstverständlich aufdrängt: Was tun, um unseren kämpfenden Brüdern in Russland zu Hilfe zu kommen?

Zunächst freilich ist das, was wir machen können, sehr wenig. Geld sammeln ist das Wichtigste, nicht minder wichtig aber ist es, allen Bundesgenossen des Zaren die Larve vom Gesicht zu reißen und ihnen ihr schmutziges Handwerk möglichst zu erschweren. Und dieser Bundesgenossen gibt es mehr, als man glaubt. Nichts verhängnisvoller, als wenn man im jetzigen Moment dem europäischen Proletariat einreden wollte, es sollte der liberalen Bourgeoisie und den konstitutionellen Monarchen und republikanischen Oberhäuptern vertrauen, deren Abscheu den Zarismus außerhalb ihrer Gemeinschaft stellen und dadurch zur Kapitulation nötigen würde. Es hat nie eine schlimmere Utopie gegeben als diese. Sie beruht auf einer Naivität, die sich der des Priesters Gapon würdig an die Seite stellt.

Tatsächlich hat der Zarismus nie mehr Bundesgenossen und Freunde unter den herrschenden Klassen Europas gehabt als eben jetzt. Vor einem halben Jahrhundert, als die Bourgeoisie noch nicht ganz ihrer revolutionären Phase entwachsen war, stand sie und standen vielfach auch die Regierungen Europas dem russischen Zaren feindselig gegenüber. Als während des Krimkriegs Preußen eine wohlwollende Neutralität für Russland beobachtete, blieb es damit ganz allein und erntete dafür die allgemeine Verachtung Europas. Seitdem hat die Bourgeoisie in Europa alles erreicht, was sie braucht. sie ist damit konservativ geworben, und ihr gegenüber ist ihr Nachfolger und Erbe und Totengräber zu drohender Kraft herangewachsen: das arbeitende Proletariat.

Wohl sind die herrschenden und ausbeutenden Klassen auch heute noch nicht eine einheitliche und einige Masse. Tiefe Interessengegensätze zerklüften sie, die wir auszunutzen haben.

Aber einig ist die gesamte Bourgeoisie aller Arten in ihrem Abscheu gegen die Revolution und in ihrem Hasse gegen das kämpfende Proletariat. das heute die einzige wirklich revolutionäre Klasse geworden ist, ein Umstand der mehr noch als die nächsten Klasseninteressen des Proletariats einen unübersteiglichen Abgrund zwischen ihm und allen bürgerlichen Klassen eröffnet.

Dem Proletariat gegenüber unterscheiden sich die verschiedenen Schichten der Bourgeoisie nicht durch ihre Feindseligkeit, sondern nur durch die Art, wie sie seinen Fortschritt hemmen wollen: die einen wollen das erreichen durch seine gewaltsame Niederhaltung, die anderen durch seine Korrumpierung; die einen durch Polizei und Militär, die anderen durch demokratische Allüren, die sie heucheln, und durch Versprechungen, die sie nie einlösen.

Durch nichts kann man das Proletariat heute mehr schädigen als dadurch, dass man ihm einredet, es solle diese demokratischen Allüren ernst nehmen und diese Versprechungen für bare Münze halten. Man fördert dadurch das Intrigenspiel seiner gefährlichsten Feinde. Auch das Proletariat kann sagen: Gott schütze mich vor meinen Freunden. Mit meinen Feinden will ich schon fertig werden.

Wie sich aber dem Proletariat gegenüber die verschiedenen Schichten der besitzenden Klassen Europas nicht durch den Grad ihrer Feindseligkeit, sondern nur durch die Art seiner Bekämpfung unterscheiden, so gilt dasselbe von ihrer Haltung gegenüber der russischen Revolution.

Wohl kann diese zunächst in ihren Wirkungen nur eine bürgerliche sein; wohl ist sie eine Notwendigkeit geworden für die gesamte russische Nation, für alle Klassen des russischen Staates, mit Ausnahme des Hofes und der Spitzen der Bürokratie. Aber die Bourgeoisie Europas fühlt instinktiv, dass die Revolution in Russland nicht ohne Rückwirkung bleiben kann auf Westeuropa, und sie weiß es auch dank ihrem hochentwickelten Klasseninstinkt, dass die russische Revolution trotz ihrer bürgerlichen Resultate ihre vornehmste Triebkraft im Proletariat findet, einen Sieg des Proletariats darstellt, das Proletariat der gesamten Welt kräftigen muss.

So stehen sie alle der russischen Revolution mit mehr oder weniger schlecht verhehltem Missbehagen gegenüber und unterscheiden sich ihr gegenüber wie dem Proletariat gegenüber nur durch die Methoden, die sie zu ihrer Niederhaltung anraten: die einen rufen nach gewaltsamer Niederwerfung, indes die anderen fürchten, dies könne erst recht den Brand entzünden, und daher wünschen, der Zar möge versuchen, das russische Volk durch eine Scheinkonstitution zu beruhigen und um den Preis seines Kampfes zu betrügen.

Sie entsetzen sich über die Vorgänge in Petersburg nicht so sehr, weil diese Tausenden von Proletariern das Leben kosteten – Proletarierleben wiegen sehr leicht für diese Herrschaften –, als weil diese Vorgänge drohen, einen mächtigen Antrieb zur gewaltsamen Revolution zu bilden. Deswegen missbilligen sie so energisch das Blutbad von Petersburg. Dazu mag sich wohl bei vielen, namentlich den Intellektuellen, ein physischer Schauder vor dem Grässlichen gesellen. Das ist zu vergleichen der Arbeiterfreundlichkeit. die heute außerhalb der Sphäre der Politik und des Geschäftes immer mehr wächst, namentlich in der Belletristik und der bürgerlichen Ökonomie, soweit sie nicht wissenschaftlich, sondern belletristisch-sentimental oder, wie man sagt, ethisch betrieben wird, die aber Resultate auch nur in diesen ästhetischen Sphären, nicht in der Praxis der Politik und des Geschäftes zeitigt.

Nicht höher zu bewerten ist das Entsetzen der „zivilisierten Welt" über die russischen Scheußlichkeiten. Man würde sich gewaltig täuschen, wollte man in der Bourgeoisie davon mehr erwarten als jene vorübergehenden Regungen von Furcht und Mitleid, wie sie jede wirksam verfasste Tragödie hervorruft. So wie etwa der mächtige Eindruck, den „Die Weber" Gerhart Hauptmanns erzeugten, noch keinem einzigen Weber den Lohn erhöht und keinen einzigen Streik überflüssig gemacht hat, so wird der tiefe Eindruck der Petersburger Metzeleien auf das bürgerliche Publikum nicht die geringste Rückwirkung auf die Politik der bürgerlichen Regierungen und herrschenden Parteien erregen.

Nein, wo es zu praktischem Wirken kommt, da werden Regierungen und Kapitalisten das Mordregime von Petersburg auch weiterhin ebenso unterstützen, wie sie das von Kischinew trotz aller ethischen Entrüstungsausbrüche unterstützt haben. Noch ist die Allianz zwischen der Republik und dem Zaren nicht gelockert, die liberale Regierung Dänemarks wurde erst unlängst dabei ertappt, wie sie mit frechem Bruch der Neutralität Waffen für Russland fabrizierte, Deutschland und Österreich unterstützen den Zaren auf das Beste und erschweren seinen Opfern Auswanderung und Desertion; selbst der Alliierte Japans, England, liefert Kohlen für die Kriegsflotten des Zaren – und die Kapitalisten drängen sich dazu, die Anleihen des bankrotten Staates zu zeichnen, um die Tage der Autokratie zu verlängern!

Das sind die Taten der Regierungen und der Kapitalisten gegenüber demselben Regime, über dessen Fluchwürdigkeiten sie in Salons und Zeitungen einige billige Tränen vergießen.

Nein, auch hier kann kein Bündnis zwischen Proletariat und Bourgeoisie fruchtbringend wirken, gibt es keine Regierung, der das Proletariat trauen könnte; auch der russischen Revolution gegenüber steht das Proletariat Europas allein, hat es keine zuverlässigen Bundesgenossen, ist es auf seine eigene Kraft angewiesen.

Es ist aber um so notwendiger, dass es sich dessen voll bewusst wird und sich nicht auf andere Faktoren verlässt, als die russische Revolution es vielleicht gar bald vor eine entscheidende Kraftprobe stehen wird.

Siegt früher oder später die Revolution in Russland, wie wir allen Grund haben, zu erwarten, dann ist zu befürchten, dass die reaktionären Mächte Europas nicht ruhig zusehen, sondern sich ebenso gegen die Revolution im Osten verschwören, wie sie sich Ende des achtzehnten Jahrhunderts gegen die Revolution im Westen verschworen haben. Dann würde dem gesamten europäischen Proletariat eine gewaltige Aufgabe erwachsen, weil es dann gälte, das Spiel dieser konterrevolutionären Koalition zu durchkreuzen.

Die wichtigste Entscheidung fiele aber in einer solchen Situation dem französischen Proletariat zu, denn von seiner Kraft hinge es ab, welchen Sinn nun die franko-russische Allianz erhielte. Es müsste alles aufbieten, ihr einen revolutionären Sinn zu geben, sie aus der Mesalliance zwischen dem Despoten und der Republik zu dem natürlichen Bündnis zwischen der russischen und der französischen Revolution zu gestalten. Das ergäbe die wirksamste Paralysierung der reaktionären Koalition.

Aber dieser Bündnisfall wird, dessen können wir versichert sein, in allen bürgerlichen Parteien Frankreichs seine Gegner finden. Sie alle, die hündisch vor dem Zaren gekrochen sind – einmütig von der äußersten Rechten bis weit in die äußerste Linke – sie alle werden sich weigern, die Allianz mit Russland fortzusetzen und ihre praktischen Konsequenzen zu ziehen, wenn das russische Volk an Stelle des Zaren getreten ist. Die bürgerliche Republik hält nur den Unterdrücker Russlands, nicht die Revolution Russlands für bündnisfähig. Nur die soziale Republik wird ein treuer und kampffroher Bundesgenosse eines freien Russland sein.

So kann das sozialistische Proletariat Frankreichs vielleicht gar bald vor eine schwere Kraftprobe gestellt werden, von deren Ausfall das Schicksal nicht nur Russlands und Frankreichs, sondern auch das des gesamten internationalen Sozialismus in den nächsten Jahrzehnten abhängt. Wir alle müssen wünschen, dass dieser große Moment das französische Proletariat einig, stark und klar über seine wirklichen Freunde und Feinde vorfinde. Die russische Revolution wird das Proletariat ganz Europas vor die größten und schwierigsten Probleme stellen. Wir werden alle Kraft, allen Scharfsinn, allen Opfermut aufbieten müssen, der riesenhaften Aufgabe gewachsen zu sein. Aber wenn's gelingt, bedeutet das auch einen mächtigen Sprung nach vorwärts, zur Eroberung einer ganzen neuen Welt.

* Die „Vie Socialiste“ in Paris hat eine Umfrage bei einer Reihe von Genossen der internationalen Sozialdemokratie über den russischen Absolutismus veranstaltet. Außer in unserem französischen Bruderorgan veröffentliche ich meine Antwort auch hier.

K. K.

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