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Karl Kautsky 19050517 Eine Revision der gewerkschaftlichen Taktik

Karl Kautsky: Eine Revision der gewerkschaftlichen Taktik

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 23.1904-1905, 2. Band.(1904-1905), Heft 34, S. 243-247, 17. Mai 1905]

Unter dem Titel „Löhne und Verkaufspreise" geht ein vom Genossen R. Calwer verfasster Artikel durch die Parteipresse, der, soviel ich sehe, bisher keinen Kommentar gefunden hat, vielleicht deswegen, weil er von einem wenig bekannten Spezialfall ausgeht, dem Gedanken einer Preiskonvention in der Handschuhmacherbranche, in der die Löhne durch eine „Vereinigung von Kartell und Tarifgemeinschaft" festgesetzt werden sollten. Aber der Artikel ist von allgemeinerem Interesse.

Der Verfasser beginnt folgendermaßen:

r.c. Die Aufgabe der Gewerkschaften besteht darin, dem Arbeiter einen möglichst hohen Preis seiner Arbeitskraft zu sichern. Deshalb schließen sich die Arbeiter zu Organisationen zusammen. Ohne jede Rücksicht auf die geschäftliche Lage der Arbeitgeber verfolgen sie ausschließlich das eigene Interesse. Sie kümmern sich also nicht darum, ob ein Arbeitgeber bei einer gewissen Lohnhöhe bestehen kann oder nicht, sondern verwenden ihre gewerkschaftliche Macht zur fortgesetzten Steigerung des Wertes der Ware Arbeitskraft. Diese Taktik der Gewerkschaften ist so lange richtig, als die Arbeiter und ihre Organisationen keinen mitbestimmenden Einfluss auf die Regelung der Produktion, der Preise und des Absatzes haben. In dem Moment aber, wo ein solcher Einfluss garantiert ist, fallen die Voraussetzungen für die bisher richtige Taktik weg. Da den Arbeitern dieses Mitbestimmungsrecht noch für absehbare Zeit fehlt. so ist es ganz selbstverständlich, dass die bisherige Taktik aufrechterhalten und geübt wird.

Gleichwohl kann es keinem Bedenken unterliegen, wenn man die Möglichkeit einer anderen Taktik erörtert, die dann einzutreten hat, wenn die Voraussetzungen gegenüber heute sich total verändert haben."

Er kommt dann auf die besonderen Verhältnisse der Handschuhmacher zu sprechen, wo „der Gedanke eines Zusammengehens von Kartell und Tarifgemeinschaft" erörtert wurde, weist „auf die Abhängigkeit der Löhne von den Verkaufspreisen" hin und fährt schließlich fort:

In dem Augenblick, wo die Arbeiter eines Gewerbes Einfluss auf die Regelung der Produktion gewinnen, können sie auf keinen Fall die gegenwärtige gewerkschaftliche Taktik länger einhalten, da sie sonst unter Umständen sich die Beschäftigung selbst nehmen würden. Rücksichten auf die ausländische Konkurrenz sind es vor allem, die der Lohnhöhe eine Grenze ziehen.

Denn würden durch eine solche Bereinigung von Kartell und Tarifgemeinschaft Löhne festgesetzt. die die Verkaufspreise so steigerten, dass jede Konkurrenzfähigkeit auf dem Markte ausgeschlossen wäre, so würde eben die in Frage kommende Industrie ohne Absatz bleiben. Und weil dem so ist, hätten allerdings Arbeiter, die einer solchen Vereinigung angehören würden, bei ihren Lohnforderungen auf die ausländische Konkurrenz Rücksicht zu nehmen, da zu hohe Lohnsätze die Arbeitsgelegenheit vermindern würden. Es ist also zweifellos richtig, dass in einem solchen Falle die Löhne bis zu einem gewissen Grade sich nach den jeweiligen Verkaufspreisen, die mehr oder weniger von der Rücksicht auf die internationale Konkurrenz bestimmt werden, zu richten hätten."

Die Verhältnisse in der deutschen Handschuhmacherei sind mir nicht näher bekannt, aber es handelt sich hier bei der „Vereinigung von Kartell und Tarifgemeinschaft" offenbar um eine jener Allianzen zwischen Unternehmern und Lohnarbeitern, die in England den Namen Trade Alliances erhielten, wo sie zuerst auftauchten. Eine feste Vereinbarung zwischen einem Unternehmerkartell und einer Gewerkschaft, wodurch die Mitglieder des ersteren sich verpflichten, nur Gewerkschaftsmitglieder zu den vereinbarten Lohnsätzen zu beschäftigen, und diese wieder jede Arbeit für eine außerhalb des Kartells stehende Firma, die ihre Produkte zu niedrigeren Preisen verkauft als das Kartell, ablehnen, auch wenn diese Firma die gleichen Löhne zahlt, wie die mit dem Kartell vereinbarten. Also eine Tarifgemeinschaft, in der die Arbeiterorganisation dem Zwecke dient, nicht bloß die Löhne, sondern auch die Profite hochzuhalten. (Vergl. darüber unter anderem den Artikel von F. Schnetter über den „Zunftgedanken im Tarifvertrag", „Neue Zeit", XXIII, 1, S. 659 ff.)

Gegen derartige Vereinbarungen bestehen schwere Bedenken vom Standpunkt des proletarischen Klassenkampfes. Aber diese kommen hier nicht in Betracht, und wir können von ihnen absehen, da auch in dem Calwerschen Artikel von ihnen nicht die Rede ist. Nirgends deutet Calwer an, dass ihm solche Konventionen bedenklich und nicht allgemein durchführbar erscheinen. Seine Ausführungen haben keinen Sinn, wenn er nicht in der „Vereinigung von Kartell und Tarifgemeinschaft" und dem dadurch herbeigeführten „Einfluss der Arbeiter und ihrer Organisationen auf die Regelung der Produktion, der Preise und des Absatzes" das erstrebenswerte Ziel des gewerkschaftlichen Kampfes erblickte. Wohl erregen auch ihm diese Konventionen Bedenken, aber sie sind ganz anderer Art als die eben angedeuteten.

Sobald solche Konventionen allgemein werden, dann, sagt er, entsteht die Gefahr, dass dadurch die Preise zu sehr in die Höhe gehen und dadurch – die Konkurrenzfähigkeit der Industrie auf dem Weltmarkt leidet. Diese allein kümmert ihn hier, nicht die Belastung der Konsumenten des Inlandes. Es stimmt dazu, dass derselbe Calwer wohl ein Anhänger der Schutzzölle ist, aber in einem Artikel über „Syndikatspreise und Zollpolitik", der ebenfalls jüngst durch die Parteipresse ging, „Zollfreiheit für Rohstoffe und Halbfabrikate" „ganz allgemein und ständig" verlangt, „sofern diese für Ausfuhrzwecke Verwendung finden". Das Inland mag nach wie vor teure Preise zahlen, wenn wir nur in das Ausland recht billig verkaufen können!

Indes wenn wir auch Calwer nicht darin zustimmen, dass ihn bloß die Konkurrenzfähigkeit der Industrie auf dem Weltmarkt kümmert, so ist damit natürlich nicht gesagt, dass diese Konkurrenzfähigkeit gleichgültig sei. Sie interessiert uns freilich weniger als die Wirkung der Preispolitik der Kartelle auf Produktion und Konsum im Inland, und die Aufrechthaltung der Konkurrenzfähigkeit der kapitalistischen Unternehmungen weniger als die Aufrechthaltung der Kampffähigkeit der Gewerkschaften. Diese ist eine proletarische Ausgabe, die das Proletariat und auch seine proletarischen Vertreter zuerst angeht. Für ihre Konkurrenzfähigkeit mögen die Kapitalisten selbst sorgen; wir dürfen sicher sein, dass sie diese historische Ausgabe nicht vernachlässigen werden. Die Theoretiker und Zeitungen der Sozialdemokratie brauchen darüber nicht ängstlich zu wachen. Wir müssen vor allem dahin trachten, dass es nicht das Proletariat ist, auf dessen Kosten die kapitalistischen Unternehmungen konkurrenzfähig erhalten werden.

Die Erfahrung zeigt, dass die Kartelle noch immer der Konkurrenzfähigkeit ihrer eigenen Produktionszweige auf dem Weltmarkt die höchste Aufmerksamkeit gewidmet haben. Die Gefahren der Kartellpolitik rühren in dieser Beziehung nicht daher, dass die Kartelle die Preise ihrer Produkte auf dem Weltmarkt zu sehr erhöhen, sondern dass sie sie im Inland zu sehr steigern, um dadurch instand gesetzt zu werden, die auswärtige Konkurrenz zu unterbieten. Wir haben nicht die geringste Ursache, anzunehmen, darin würden Abmachungen mit den Gewerkschaften etwas ändern. Die Kartelle würden auch solche Konventionen dazu benutzen, das Inland möglichst zu schröpfen, um dadurch die Mittel zu gewinnen, an das Ausland unter dem Produktionspreis zu verkaufen.

Aber nehmen wir an, Calwers Befürchtungen wären gerechtfertigt; die Kapitalisten wären dumm genug, infolge ihrer Abmachungen mit den Arbeitern auch dort, wo nicht das Kartell, sondern die freie Konkurrenz herrscht, auf dem Weltmarkt, die Preise so sehr zu erhöhen, dass sie dadurch die Industrie konkurrenzunfähig machten. Was folgte daraus? Doch offenbar, dass das ein neuer Grund für die Arbeiter wäre, auf solche Konventionen mit den Unternehmern zu verzichten und alles zu vermeiden, was derartige schädliche Kartelle stärken könnte.

Calwer ist anderer Meinung. Mit größter Gemütsruhe erklärt er, in einem solchen Falle müssten die Arbeiter eben auf ihre bisherige gewerkschaftliche Taktik verzichten, von den Unternehmern so viele Konzessionen zu erzwingen, als sie ihnen abzuringen vermögen, und sie müssten freiwillig ihre Forderungen auf ein bestimmtes Maß beschränken. Mit anderen Worten, sie sollten freiwillig das vornehmen, wozu sie heute durch die Kapitalisten gezwungen werden. Die proletarischen Organisationen sollen die Macht gewinnen, die „Schmutzkonkurrenz" im Inland zu beseitigen, um den Kapitalisten der eigenen Nation die Möglichkeit zu geben, „Schmutzkonkurrenz" auf dem Weltmarkt zu machen. Aus Organisationen des Kampfes gegen die Begehrlichkeit der Unternehmer sollen sie Organisationen zur Bekämpfung der Begehrlichkeit der Lohnarbeiter werden. Das ist, genau genommen, nicht mehr eine Revision der gewerkschaftlichen Taktik, das ist ein völliger Umsturz der ganzen bisherigen gewerkschaftlichen Theorie und Praxis.

Womit wird dieser Umsturz gerechtfertigt? Durch die Preiserhöhungen, welche die Kartelle vornehmen, und die die Konkurrenzfähigkeit der Industrie auf dem Weltmarkt gefährden. Aber wodurch werden diese Preiserhöhungen verursacht? Einzig und allein durch die Lohnerhöhungen? Diese spielen meist eine unbedeutende, nirgends die allein bestimmende Rolle dabei. Nein, durch die hohen Profite, die die kartellierten Unternehmer einstecken wollen. Warum also von den Arbeitern fordern, dass sie ihren Löhnen eine Grenze ziehen, und nicht von den Unternehmern, dass sie, im Interesse der Konkurrenzfähigkeit der Industrie, ihren Profiten eine Grenze ziehen?

Calwer erkennt theoretisch hier die Lohnpolitik der bürgerlichen Vulgärökonomie als berechtigt an, die genau mit denselben Worten, wie er, behauptet, die „Arbeiter müssten bei ihren Lohnforderungen auf die ausländische Konkurrenz Rücksicht nehmen, da zu hohe Lohnsätze die Arbeitsgelegenheit vermindern würden", indem sie „die Verkaufspreise so steigerten, dass jede Konkurrenzfähigkeit aus dem Markte ausgeschlossen wäre". Die „sozialistische" Lohnpolitik Calwers unterscheidet sich von dieser vulgärbürgerlichen bloß dadurch, dass er sie in der Gegenwart wegen der Machtlosigkeit der Gewerkschaften noch für überflüssig hält und sie zu einem Ziel des proletarischen Emanzipationskampfes, zu einem Stückchen seines Zukunftsstaates stempelt. In der Tat, eine erhebende und begeisternde Ansicht, die das kämpfende Proletariat zu den höchsten Opfern anstacheln muss, damit es „Einfluss auf die Regelung der Produktion gewinne"

Aber heute schon müsste diese Kapitulation sozialdemokratischer „Realpolitik" vor bürgerlicher Vulgärökonomie auf den gewerkschaftlichen Kampf, ja auf jede Betätigung proletarischer Macht lähmend einwirken, wenn die Anschauungen Calwers Geltung gewönnen. Denn ihre logische Konsequenz ist die, dass die Arbeiter bei jeder Lohnerhöhung, jeder Herabsetzung der Arbeitszeit auch heute schon sich ängstlich fragen müssen, ob sie nicht den Profit oder die Konkurrenzfähigkeit ihrer Unternehmer dadurch beeinträchtigen, was diese ja stets mit großer Emphase versichern. Diese „Realpolitik" ist ein würdiges Seitenstück zur Peusschen, die die Besteuerung der Konsumvereine rechtfertigt.

Ich habe von einer Kapitulation vor der bürgerlichen Vulgärökonomie gesprochen. Es hieße der klassischen Ökonomie unrecht tun, wollte man hier von einer Kapitulation vor der bürgerlichen Ökonomie im Allgemeinen reden.

Schon vor hundertunddreißig Jahren erklärte Adam Smith:

Unsere Kaufleute und Unternehmer klagen lebhaft über die schlimmen Wirkungen der Lohnerhöhungen, die die Preise erhöhen und dadurch den Absatz ihrer Waren im Inland und Ausland verringern. Sie sagen nichts über die schlimmen Wirkungen hoher Profite. Sie schweigen über die verderblichen Wirkungen ihrer eigenen Gewinne. Sie beschweren sich bloß über die anderer Leute."

Vier Jahrzehnte später bewies Ricardo, dass Lohnerhöhungen nicht notwendigerweise Preiserhöhungen nach sich ziehen müssten, unter Umständen sogar Preissenkungen hervorrufen könnten. Aber freilich, wer wird sich mit so langwelligen theoretischen Dingen befassen und über den Zusammenhang zwischen Löhnen und Warenpreisen nachdenken! Man sieht lieber hochmütig auf jeden „Dogmenfanatismus" von oben herab, wird „Praktiker" und „Realpolitiker" und endet damit, als Sozialdemokrat selbst nächstliegende praktische Forderungen des Proletariats preiszugeben, welche die klassische bürgerliche Ökonomie gegen das interessierte Gerede der Anwälte der praktischen kapitalistischen Ausbeutung noch verteidigte. Welch ein Fortschritt!

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