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Karl Kautsky 19050906 Zum Parteitag

Karl Kautsky: Zum Parteitag

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 23.1904-1905, 2. Band.(1904-1905), Heft 50 (6. September 1905), S. 748-758]

1. Die Vertretung der Fraktion auf dem Parteitag

Noch jedem Parteitag sahen wir bisher mit frohen Erwartungen entgegen, und noch keiner hat getrogen, jeder nützliche Arbeit verrichtet, Hindernisse der Bewegung aus dem Wege geräumt, neue Kampfesmittel geschaffen, unsichere ober strittige Richtungslinien schärfer bestimmt. Mögen dabei die Geister mitunter schärfer aufeinander platzen, als sie selbst beabsichtigen und ihnen lieb ist; wer tiefer gräbt, dem wird jeder Parteitag eine Fundgrube reichen Gewinns werden. Und so dürfen wir erwarten, dass die Tage von Jena sich ihren Vorgängern würdig anschließen werden.

An Gegensätzen wird es ja auch hier nicht fehlen, aber es werden doch nur sachliche Gegensätze sein, namentlich in den beiden Hauptpunkten, die uns beschäftigen werden, der Parteiorganisation und dem politischen Massenstreik.

Die Fragen der Organisation werden vornehmlich die Praktiker der Partei auf die Tribüne rufen. Die vorliegenden Abänderungsvorschläge beabsichtigen ja nicht, die Partei auf eine neue organisatorische Basis zu stellen, sondern nur die bestehende Organisation etwas straffer zu gestalten. Diese wurde unmittelbar nach dem Sozialistengesetz geschaffen und trug noch seine Spuren: sie war ungemein lose, um ihre Störung durch behördliche Eingriffe möglichst zu erschweren. sie konnte so lose sein, da die Verfolgungen des Sozialistengesetzes bewirkten, dass nur die treuesten und bewährtesten Genossen an der Arbeit in der Organisation teilnahmen, eine Kerntruppe, deren Zusammenhalten schon durch die Bedürfnisse des Kampfes erzielt wurde.

Seitdem sind fünfzehn Jahre relativen inneren politischen Friedens ins Land gegangen und die Partei ist enorm gewachsen; damit haben sich aber auch ihre Elemente mannigfaltiger gestaltet. Die Partei ist nicht mehr eine große Familie, die zu ihrem Zusammenwirken besonderer Gesetze nicht bedarf. Diesen ungeheuren und mannigfaltigen Körper zusammenzuhalten zu einheitlichem Tun, müssen die äußeren Bande etwas straffer gezogen werden. Das ist die natürliche Folge unseres Wachstums; die Möglichkeit dazu wird aber dadurch gegeben, dass, momentan wenigstens, das Feld des Kampfes der Behörden gegen und etwas verschoben ist. Glaubten diese in den siebziger und achtziger Jahren noch mit uns fertig zu werden durch einfache Auflösung unserer Organisationen und Verfolgungen unserer Presse, so haben sie seitdem gelernt, dass uns auf diesem Wege allein recht wenig beizukommen ist. Sollte eine neue Ära energischsten Kampfes gegen uns anbrechen, so wird er in erster Linie dem bestehenden Reichstagswahlrecht gelten. Solange dieser Kampf nicht gefochten und ausgefochten wird, haben wir die Möglichkeit, unsere politische Organisation straffer zu gestalten, und wir tun gut, diese Möglichkeit auszunutzen.

Aber im Prinzip bleibt dabei unsere Organisation die gleiche, die sie bisher gewesen. Es kann sich bei ihrem Ausbau nur um Details handeln, über die ausreichend nur derjenige urteilen kann, der mit der praktischen Organisationsarbeit hinreichend vertraut ist.

Wir haben es daher auch bisher vermieden, in die Diskussion darüber einzugreifen. Aber über zwei Punkte möchten wir uns doch einige Bemerkungen erlauben.

Eine der meist umstrittenen Fragen wird die der Vertretung der Fraktion auf dem Parteitag sein. Sowohl für wie wider sind eine Reihe sehr wichtiger Argumente vorgebracht worden. Auf der einen Seite ist es sicher höchst wünschenswert, dass die Fraktion an den Verhandlungen des Parteitags teilnimmt. Der Abgeordnete soll der Vertreter der Gesamtheit der Partei sein, nicht bloß des einzelnen Wahlkreises. Das vornehmste Mittel, mit ihr in Fühlung zu bleiben, ist aber der Parteitag. Andererseits aber ist der parlamentarische Kampf eine der wichtigsten Funktionen der Partei, und wer soll darüber am sachgemäßsten Auskunft geben können, als wieder die Abgeordneten? Wie die anderen obersten Parteifunktionäre, Parteivorstand und Kontrolleure, gehört auch die Fraktion auf den Parteitag. In Österreich haben sogar die Redaktionen der Parteiblätter das Recht, Vertreter zum Parteitag zu entsenden, jedoch ohne Stimmrecht.

Aber andererseits hat der Parteitag nicht bloß die Aufgabe, die Abgeordneten zu kontrollieren, sondern auch die, ihnen Weisungen zu geben für ihre kommende Wirksamkeit, sie erkennen zu lassen, wie die Mehrheit der Genossen darüber denkt. Unter Umständen kann aber diese Erkenntnis bei dem bisherigen System der Zusammensetzung der Parteitage sehr erheblich verdunkelt werden, wenn die Mehrheit der Fraktion in diesen Punkten anders denkt als die Mehrheit der Genossen im Lande. Die nächste Wahl kann die Zahl unserer Abgeordneten so sehr vermehren, dass sie allein vielleicht schon ein Drittel der Teilnehmer eines Parteitags zu bilden vermöchten.

Das ist ein Bedenken, welches gegen Parteivorstand und Parteikontrolleure nicht zu erheben ist. Deren Zahl ist beschränkt; überdies werden sie von Jahr zu Jahr vom Parteitag selbst neugewählt, während der Abgeordnete sein Amt für fünf Jahre erhält, und zwar nicht bloß von den organisierten Parteigenossen, sondern den Wählern.

Wie aus dieser Zwickmühle herauskommen? Dadurch, dass man an Stelle der gesamten Fraktion bloß eine Abordnung derselben setzt? Aber wenn es wünschenswert ist, dass die Abgeordneten überhaupt auf dem Parteitag erscheinen, dann kann die Delegation von ein paar unter ihnen diesen Zweck nicht erfüllen. Und gerade für jenen Fall, dass die Anwesenheit der Abgeordneten auf dem Parteitag dessen Ergebnisse verdunkeln könnte, würde ihre Ersetzung durch eine bloße Delegation nicht am Platze sein. Denn jener Fall könnte doch nur dann eintreten, wenn über eine Streitfrage die Majorität der Fraktion im Gegensatz stände zur Majorität der Genossen im Lande. In diesem Falle aber vermöchte die Majorität der Fraktion ausschließlich ihre Anhänger zum Parteitag zu delegieren und die Minorität davon auszuschließen. So würden dadurch gerade jene Abgeordnetem die die Mehrheit der Partei im Lande repräsentieren, vom Parteitag ferngehalten. Oder will man etwa diese Delegation durch den Zufall, das Los, bestimmen lassen?

Es sind noch viele andere Gesichtspunkte zu dieser Frage vorgebracht worden, so unter anderem der sehr erhebliche, dass, wenn die Abgeordneten danach trachten müssen, Mandate zu erhalten, um auf dem Parteitag anwesend zu sein, dadurch die Zahl der anderen Delegierten verringert wird. Mancher Wahlkreis würde dann vielleicht nur durch seinen Abgeordneten vertreten sein, und das wäre auch kein gesundes Verhältnis.

Auf alle diese Gesichtspunkte sei hier jedoch nicht weiter eingegangen. Wir haben sie nur gestreift, um zu zeigen, wie schwierig eine Entscheidung in dieser Frage ist.

Die Frage wird aber noch mehr kompliziert durch eine andere: Jeder Wahlkreis hat das Recht, die gleiche Artzahl Delegierte zu entsenden. Kann das aber nicht auch ein Mittel werden, dass auf dem Parteitag eine Majorität zutage tritt, die nicht identisch ist mit der Majorität in der Partei? Haben wir nicht unzählige Male die schreiende Ungerechtigkeit denunziert, die darin liegt, dass Wahlkreise mit 700.000 Einwohnern im Reichstag nicht stärker vertreten sind als solche mit 40.000 Einwohnern? Aber wir selbst bauen unsere Parteivertretung nicht bloß auf diese selbe Ungerechtigkeit auf, sondern verschärfen sie noch maßlos; denn die Unterschiede in der Stärke der Partei zwischen den einzelnen Wahlkreisen sind noch weit größer als die in ihrer Bevölkerungszahl. Der 6. Berliner Wahlkreis hat 700.000 Einwohner und Schaumburg-Lippe nur 43.000. Aber der 6. Wahlkreis brachte 1903 79.500 sozialdemokratische Stimmen auf, Schaumburg-Lippe dagegen 2.300. Der 6. Wahlkreis hat also 16mal mehr Einwohner, aber 34mal mehr sozialdemokratische Wähler als Schaumburg-Lippe. Beide Wahlkreise haben aber das gleiche Recht, 3 Delegierte zum Parteitag zu schicken.

Wie aber das ändern? Es ist vorgeschlagen worden, die Zahl der Delegierten der Wahlkreise entweder nach der Zahl ihrer Mitglieder oder der sozialdemokratischen Stimmen, die sie aufgebracht, abzustufen, etwa so, dass die kleinsten nur 1, die größten bis 5 Delegierte entsenden könnten. Das würde die Ungleichheit ihrer Vertretung etwas, wenn auch lange nicht ganz beseitigen. Aber dafür wäre nun ein anderer Missstand in Kauf zu nehmen. Die Parteitage sollen nicht bloß über unsere Parteifragen entscheiden, sie sollen auch den Zusammenhang der Partei stärken und den rückständigen Wahlkreisen Anregungen geben dadurch, dass sie die Delegierten aus allen Teilen des Reiches zu gemeinsamem Arbeiten vereinigen. Diese Einwirkung wird aber um so stärker werden, je mehr Delegierte gerade die kleineren, rückständigen Wahlkreise entsenden. Für diese sind die Parteitage Schulen, durch die sie neue Kenntnisse erwerben, ihren Horizont erweitern, den Parteicharakter besser erkennen lernen. Gerade für den Proletarier wird die Schule des Lebens oft wichtiger als das Buchwissen.

Diese Wirksamkeit der Parteitage wird aber erheblich eingeengt, wenn den kleinen Wahlkreisen die Zahl der Delegierten verkleinert wird. Es wäre daher nicht wünschenswert, das Minimum der Delegiertenzahl zu verkleinern. Vergrößerte man aber entsprechend die Delegiertenzahlen der größeren Wahlkreise, käme man zu abenteuerlichen Ziffern.

Soll Berlin 6 das Recht haben, 100 Delegierte zu entsenden, weil Schaumburg 3 schickt? Schon bei dem heutigen Vertretungsmodus würde der Parteitag zu einer Massenversammlung, die völlig außerstande wäre, parlamentarisch zu verhandeln, wenn alle Wahlkreise von ihrem Rechte Gebrauch machten. Das gäbe fast 1200 Delegierte. Eine alte Erfahrung sagt, dass eine Versammlung, die über 400 Mitglieder zählt, aus technischen und anderen Gründen kaum noch zu parlamentarischen Verhandlungen fähig ist. Da geht es doch nicht gut an, die Zahl der Delegierten noch erheblich zu vermehren.

Freilich machen nicht alle Wahlkreise von ihrem Rechte Gebrauch, 3 Delegierte zu entsenden, und man konnte meinen, dass dadurch die Benachteiligung der größeren und stärkeren Wahlkreise etwas gemildert wird; denn diese sind naturgemäß auch die reichsten und können die Delegiertenkosten am ehesten aufbringen. Aber das ist nur zum Teil richtig. Der Umstand, dass die Entsendung von Delegierten von der Fähigkeit der Wahlkreise abhängt, die Kosten dieser Delegation zu tragen, wird gerade ein weiteres Moment, die Ungleichmäßigst in der Vertretung der Genossen auf dem Parteitag zu verstärken. Denn die Fähigkeit, die Delegationskosten zu tragen, wächst nicht nur von den finanziellen Mitteln des Wahlkreises, sondern auch mit der zunehmenden Geringfügigkeit dieser Kosten. Am geringfügigsten sind diese für die Genossen am Kongressort selbst und in seiner Umgebung. Diese Wahlkreise werden naturgemäß immer am stärksten vertreten sein. So wird der Charakter eines Parteitags auch durch das geographische Moment bestimmt, die Lage des Kongressortes.

Alles das sind Umstände, die einmal bewirken könnten, dass ein Parteitag nicht den getreuen Repräsentanten der Stimmung der Mehrheit bildete.

Aber wie diesen störenden Umstanden abhelfen? Sie alle scheinen uns schwer überwindlich, wenn wir daran festhalten, dass der bisherige Modus der Abstimmungen auf den Parteitagen nach Personen der einzige sei, der in Betracht kommen könne. Dagegen verschwinden diese Schwierigsten sofort, wenn man einen neuen Abstimmungsmodus einführt, statt nach Personen nach Wahlkreisen abstimmen lässt.

Ein derartiges Abstimmungsverfahren ist nichts Unerhörtes. Etwas Ähnliches haben wir schon auf vielen Gewerkschaftskongressen, namentlich internationalen, gesehen, wo nicht nach Köpfen, sondern nach Organisationen abgestimmt wird. Jede Organisation repräsentiert so viel Stimmen, als sie Mitglieder zählt. Auch auf den internationalen Sozialistenkongressen wird bekanntlich nach Nationen, nicht nach Köpfen abgestimmt.

Das Verfahren brauchte gar kein kompliziertes zu sein. Die Delegierten der einzelnen Wahlkreise würden sich noch leichter untereinander über ihre Abstimmung verständigen, als die der einzelnen Nationen auf internationalen Kongressen. Wo nur zwei Delegierte sind und diese sich nicht einigen können, fällt die Stimme des Wahlkreises aus. Das Resultat ist in diesem Falle dasselbe wie nach dem bisherigen Modus, wo auch die eine Stimme die andere aufheben würde.

Wird aber nach Wahlkreisen abgestimmt, so bekommt man damit die Möglichkeit jedem Wahlkreis so viel Stimmen zuzurechnen, als ihm nach seiner Stärke zukommen, ohne an der Zahl der Delegierten das Geringste zu ändern. Auf diese Weise wird es möglich, dass bei den Abstimmungen auf dem Parteitag die Genossen jedes Wahlkreises so viel Gewicht in die Waagschale legen, als ihnen gebührt. Wie stark dann die Fraktion auf dem Parteitag vertreten sein, wie ungleichmäßig die Stärke der Partei in den einzelnen Wahlkreisen sich gestalten mag, wie ungleichmäßig ihre Vertretung infolge der finanziellen Momente, das alles kann dann nicht hindern, dass die Anschauungen der Genossen bei den Abstimmungen so getreu zur Geltung kommen, als beim Repräsentativsystem möglich.

Nebensächlich ist es, ob man die Stärke der Wahlkreise nach der Zahl der organisierten Genossen oder nach den Stimmen bemisst, die bei der Reichstagswahl abgegeben worden. Der letztere Maßstab wäre wohl der einheitlichere für das ganze Reich. Die Organisationsbedingungen in den einzelnen deutschen Vaterländern sind zu verschieden.

Man braucht nicht zu befürchten, dass bei diesem Stimmverfahren zu viel Zeit verloren ginge. Es wäre ja nicht absolute mathematische Genauigkeit bis auf die letzte Einheit bei der Summierung der Stimmenzahlen notwendig. Es genügte, für den Fall, dass nach der Zahl der Reichstagsstimmen entschieden würde, nur die Tausende zu zählen. Um bei unserem Beispiel zu bleiben, so hätte Schaumburg-Lippe 3 Stimmen und der 6. Berliner Wahlkreis 79. Aber es wurde auch hinreichen, etwa nur auf je 5000 Stimmen und Bruchteile davon eine Stimme zu geben. Dann erhielte Schaumburg-Lippe trotz der 3 Delegierten, die ihm zuständen, 1 und Berlin 6 bei eben so vielen Delegierten deren 16; die Mehrzahl der durch Delegierte vertretenen Wahlkreise 2 bis 3.

Die Zahl der Stimmen jedes Wahlkreises für den Parteitag könnte sofort nach jeder allgemeinen Reichstagswahl festgestellt werden und würde bis zur nächsten Wahl gelten.

Selbstverständlich wäre auch in dieser vereinfachten Form das Verfahren immer noch zu kompliziert, um bei jeder Abstimmung vorgenommen zu werden. Das wäre indes gar nicht nötig. Auch auf den internationalen Kongressen wird vielfach nach Köpfen abgestimmt. Nur bei wichtigen Entscheidungen kommt es zur Abstimmung nach Nationen. Diese vertritt die namentliche Abstimmung. So wäre es vollständig hinreichend, wenn man die Möglichkeit schüfe, sobald eine bestimmte Anzahl Delegierte es verlangt, nach Wahlkreisen abzustimmen.

Auch die Wahl der Parteifunktionäre – Vorstand und Kontrolle – könnte nach Wahlkreisen geschehen. Man brauchte bloß den Delegierten eines jeden Wahlkreises so viele Stimmzettel auszufolgen, als sie Stimmen auf dem Parteitag haben.

Im Organisationsstatut könnte natürlich dieser Abstimmungsmodus keinen Platz finden. Er müsste in der Geschäftsordnung festgesetzt werden, an der Stelle des jetzigen Punkt 7. Damit aber würden unseres Erachtens alle Einwendungen hinfällig, die gegen den bisherigen Vertretungsmodus auf den Parteitagen vorgebracht wurden. An dem brauchte nichts geändert zu werden.

2. Die Zusammensetzung des Parteivorstandes

Die Frage der Vertretung der Fraktion auf dem Parteitag hat den meisten Staub aufgewirbelt. Viel weniger eine andere, die uns nicht weniger wichtig erscheint, die der Zusammensetzung des Parteivorstandes. Hier wären vor allem die Erfahrungen zu berücksichtigen, die wir in der letzten Zeit über das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften gemacht haben.

Der Kölner Gewerkschaftskongress war uns eine ernste Mahnung, und es wäre das Verkehrteste, wollten wir, um das gute Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften aufrecht zu halten, uns jenen Beschwichtigungshofräten zugesellen, die da erklären, das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften sei das denkbar beste. Nein, die Gefahr ihrer wachsenden Entfremdung liegt vor, und darum ist es unsere dringendste Aufgabe, alles aufzubieten, um diesem Prozess entgegenzuwirken.

Man lasse sich dabei nicht beirren durch den Ruf, dass die Partei nicht das Recht habe, in das innere Leben der Gewerkschaften einzugreifen. Es handelt sich hier nicht um die Aufgaben der Gewerkschaften, sondern um die Aufgaben der Parteigenossen in den Gewerkschaften. Nicht darum, ob die Gewerkschaften, sondern ob die Parteigenossen in den Gewerkschaften neutral sein sollen, ob sie nicht vielmehr die Pflicht haben, in den Gewerkschaften, wie überall, als Sozialdemokraten aufzutreten und sozialdemokratisches Denken zu verbreiten. Darüber zu urteilen ist der Parteitag kompetent, und sollte er auf diese Frage zu sprechen kommen, wird er es wohl an der nötigen Betonung dieser Verpflichtung für alle gewerkschaftlich organisierten Parteigenossen nicht fehlen lassen.

Die Kräftigung des sozialistischen Geistes in den Gewerkschaften und das Zusammenarbeiten dieser mit der Partei würde aber sehr gefördert, wenn im Parteivorstand Genossen säßen, die in der gewerkschaftlichen Bewegung praktisch tätig sind.

Es wäre überhaupt wünschenswert, dass im Parteivorstand alle Seiten des proletarischen Klassenkampfs ihre Vertretung fänden. In den Parteileitungen der meisten sozialdemokratischen Parteien des Auslandes ist das mehr oder weniger der Fall. In der Leitung der deutschen Sozialdemokratie Österreichs zum Beispiel ist nicht bloß die Reichsratsfraktion vertreten, sondern auch die Parteipresse, die Gewerkschaften, mitunter auch die Frauenbewegung, ja – horribile dictu – wir finden darin sogar Genossen, die leitende Stellungen in Konsumvereinen und Krankenkassen einnehmen. Natürlich werden sie nicht von diesen Institutionen entsendet, sondern als Parteigenossen vom Parteitag gewählt. Ihre Haltung und Befähigung als Parteigenossen kommt in erster Linie in Betracht. Aber man legt bei ihrer Auswahl Wert darauf, dass möglichst alle Seiten der Arbeiterbewegung dadurch zu einer Vertretung in der Parteileitung kommen, ähnlich wie bei uns die Kontrolleure auch vom Parteitag, nicht von den Organisationen einzelner Gegenden gewählt werden, bei ihrer Auswahl aber getrachtet wird, möglichst allen Teilen des Reiches zu einer Vertretung in der Kontrollkommission zu verhelfen.

Der Vorstand unserer Partei ist dagegen eine ausschließlich parlamentarische Körperschaft geworden. Nur die Reichstagsfraktion ist darin vertreten. Das mochte früher nicht viel ausmachen, wo alle unsere Institutionen kleiner, die Arbeitsteilung und Spezialisierung in der Arbeiterbewegung nicht weit vorgeschritten waren. Heute nimmt jedes ihrer Gebiete den Menschen vollständig gefangen, erlaubt ihm nur mühsam und unvollständig die anderen Gebiete zu verfolgen. So werden die Parlamentarier des Parteivorstands von der Parteiarbeit und den parlamentarischen Aufgaben, zu denen bei manchen noch die von Stadtverordneten kommen, völlig absorbiert. Es ist ganz menschenunmöglich, dass sie auf allen anderen Gebieten so sattelfest sind, dass sie die Mitarbeit von Genossen entraten könnten, die dort ihr spezielles Arbeitsgebiet gefunden haben. So eifrig sie auch die anderen Gebiete durch Lektüre und persönliche Informationen studieren, sie werden nicht immer das erfahren, was gerade für die Parteileitung das wichtigste: die nötige Beleuchtung der werdenden Dinge. Gewordene Dinge, vollzogene Tatsachen sind höchst hartnäckiger Natur, sie lassen sich wohl kritisieren, aber meist schwer ändern, nie ohne Friktionen. Werdenden Dingen gegenüber ist eine Beeinflussung leichter und in der Regel schmerzloser, als gewordenen. Um die werdenden richtig abzuschätzen, kann man aber, namentlich bei so großen Körperschaften wie den Gewerkschaften, das Urteil derjenigen nicht entbehren, die praktisch mitten in ihnen drinstehen.

Man wird vielleicht befürchten, dass durch das Eindringen von gewerkschaftlichen und anderen Elementen in den Parteivorstand dieser mit konservativen Tendenzen erfüllt werde, die sich in den ökonomischen Institutionen leichter und stärker entwickeln als in den politischen. Aber man vergesse nicht, dass diese Institutionen auf die Partei in jedem Falle einwirken. Die Mehrzahl ihrer Mitglieder sind Parteigenossen, und zwar nicht die schlechtesten, und wenn sie einen konservativen Geist entwickeln, so wirkt das auf die Genossen und damit auf die Partei zurück. Aber eben darum haben wir alle Ursache, uns um die Genossen in diesen Organisationen zu kümmern, und dürfen wir sie nicht aus missverstandener Neutralität einfach allen Einflüssen überlassen, die dort auf sie einwirken. So viel Zutrauen zu der Kraft des politischen Klassenkampfes müssen wir aber haben, dass diese sich stark genug erweist, die konservativen Tendenzen der ökonomischen Institutionen zu überwinden, sobald wir uns einmal dahinter machen, darauf zu achten, dass die Tätigkeit der Genossen in ihnen mit unseren großen Prinzipien im Einklang bleibt.

Das eben geäußerte Bedenken, dass der Parteivorstand durch die Einführung gewerkschaftlicher und anderer Elemente konservativer werde, konnte höchstens dann gerechtfertigt sein, wenn nicht der Parteitag, sondern die ökonomischen Institutionen selbst deren Auswahl zu treffen hätten. Davon kann aber natürlich aus den mannigfachsten Gründen keine Rede sein. Niemand wird aber leugnen wollen, dass unter unseren Gewerkschaftern alle Richtungen vertreten sind, der Parteitag daher stets in der Lage ist, jene Richtung unter ihnen in den Vorstand zu berufen, die der Mehrheit entspricht.

Hält man es aber für notwendig, den Parteivorstand mannigfaltiger zu gestalten, dann muss man auch im Organisationsstatut die Möglichkeit dazu schaffen. Niemand denkt daran, einen Personenwechsel im jetzigen Vorstand vorzunehmen. Aber selbst wenn man einen solchen Wechsel vornehmen wollte, würde damit die Möglichkeit, die Parteileitung mannigfaltiger zu gestalten, nicht gegeben. Denn dass die politische, also die parlamentarische Tätigkeit im Vorstand einer politischen Partei stets die erste Violine zu spielen hat. ist selbstverständlich. Man müsste also wieder Parlamentarier in den Vorstand wählen, und diese wären von ihren Arbeiten wieder so absorbiert, dass sie nicht vermöchten, daneben noch auf anderen Gebieten praktisch tätig zu sein.

Will man den Parteivorstand mannigfaltiger gestalten, dann kann dies nur dadurch geschehen, dass man ihn erweitert, dass man zu seinen jetzigen Mitgliedern neue hinzufügt.

Der deutsch-österreichische Parteivorstand ist 8 Mann stark – von denen mitunter einer eine Frau war – ohne die 8 Kontrolleure; und doch hat dieser Vorstand nur die Geschäfte des deutschen Teiles der österreichischen Bewegung zu besorgen. Da sollte man annehmen, dass für die Leitung der viel größeren Sozialdemokratie des Deutschen Reiches 11 bis 13, ja selbst 15 Mitglieder nicht zu viel wären. Man muss bedenken, dass der größeren Mannigfaltigkeit des Parteivorstandes auch eine Vermehrung der Mannigfaltigkeit, damit aber auch der Zahl seiner Geschäfte folgen, dass damit manches neue Arbeitsgebiet sich ihm erschließen dürfte.

In welcher Weise man diese Erweiterung vollzöge, ob man neue Sekretäre einstellte oder aber nur die Zahl der Beisitzer vergrößerte, ist eine praktische Frage, die uns hier nicht zu beschäftigen braucht. Für uns ist jetzt nur die Tatsache wichtig, dass eine derartige Vergrößerung des Parteivorstandes um 4 bis 8 Mitglieder dem Parteitag die Möglichkeit böte, Vertreter der Gewerkschaften, der Parteipresse, der Frauenbewegung, vielleicht noch anderer Spezialgebiete des proletarischen Emanzipationskampfes in den Parteivorstand zu entsenden. Eventuell nur mit beratender Stimme, wenn man fürchtet, die neuem mit der Parteiverwaltung noch nicht vertrauten Elemente könnten den Parteivorstand überfluten und durch übermäßigen Tatendrang gefährliche Experimente und Schwankungen herbeiführen. Es würde genügen, wenn sie das Recht besäßen, jederzeit in der Parteileitung gehört zu werden, und das Mittel würden, eine engere Fühlung zwischen den verschiedenen Gebieten der proletarischen Bewegung herbeizuführen und ihr planmäßiges Zusammenwirken zu erleichtern.

Dass in dieser Beziehung etwas geschehen muss, dafür ist der Kölner Gewerkschaftskongress ein warnendes Menetekel.

Natürlich ist es unmöglich, vorherzusehen, wie der Parteitag in diesen und den anderen Fragen der Organisation schließlich entscheiden wird. Aber aus der Richtung der Masse der Anträge dazu kann man schon ersehen, dass sie alle das gleiche Streben zeigen wie die Vorschläge der Organisationskommission. ja eher es noch schärfer betonen: das Streben, die Organisation der Partei straffer und einheitlicher zu gestalten. Wir dürfen daher mit gutem Fug erwarten, dass der Parteitag hier nützliche Arbeit schaffen und die organisatorischen Grundlagen der Partei befestigen wird.

3. Der Massenstreik

Mit dem größter Vertrauen dürfen wir auch den Verhandlungen des Parteitags über den Massenstreik entgegensehen. Wohl kann man hier noch weniger voraussagen als in der Frage der Organisation, wie die Beschlüsse des Parteitags ausfallen werden. Hier bestehen unter den Genossen nicht bloß Differenzen über die Details, sondern weitgehende Gegensätze über die grundlegenden Fragen selbst. Das ist kein Wunder, wenn man erwägt, wie neu noch die Idee des politischen Massenstreiks für die große Mehrzahl der Parteigenossen ist und wie relativ wenig zahlreich noch die praktischen Erfahrungen, auf die man seine Schlussfolgerungen bauen kann.

Es gibt vielleicht keine andere Frage der Parteitaktik, über die in unseren Reihen augenblicklich die Meinungen so sehr auseinandergehen und in der noch vieles so dunkel ist, die Tatsachen so deutbar sind. Man kann hier im Ganzen und Großen nicht weniger als fünf Richtungen in unserer Partei unterscheiden.

Einmal diejenige, die noch auf dem Standpunkt steht, der Generalstreik sei Generalunsinn, die ihn unbedingt, unter allen Umständen verwirft. Diese Anschauung, noch vor wenigen Jahren die weitaus überwiegende, ist unter dem Eindruck der Erfahrungen der letzten Zeit in raschem Rückgang begriffen, scheint aber immer noch ziemlich stark zu sein.

Dann die zweite, die den politischen Massenstreik nicht unbedingt verwirft, aber ihn für Deutschland entschieden ablehnt, weil hier seine Bedingungen nicht gegeben und auch in absehbarer Zeit ausgeschlossen seien.

Neben diesen beiden Richtungen, die den Massenstreik ablehnen, haben wir nicht weniger als drei, die ihn befürworten. Da zunächst die Richtung, deren bekanntester Repräsentant in Deutschland Friedeberg ist, die sich an die anarchistische Anschauung vom Generalstreik anlehnt, trotzdem aber auch in unseren Reihen mehr oder weniger bewusste Anhänger gefunden hat.

Dieser steht gegenüber jene Auffassung, die bisher ihren systematischsten Ausdruck in der Schrift der Genossin Roland-Holst gefunden hat. Daneben kommt endlich noch eine dritte Richtung in Betracht, die man wohl als die Katzenstein-Bernsteinsche bezeichnen kann.

Wodurch unterscheiden sich diese drei Richtungen? Alle drei stehen der Idee des Massenstreiks sympathisch gegenüber. Aber die erstere, die halb-anarchistische, wie die letztere, nehmen an, wenn ich sie recht verstanden habe, dass der politische Massenstreik ähnlichen Bedingungen unterliegt und eine ähnliche Taktik erfordert wie der gewöhnliche, ökonomische Streik. Seine Vorbedingungen seien eine ausreichende gewerkschaftliche Organisation, ein energisches Klassenbewusstsein sowie das Vorhandensein eines rücksichtslosen Gegners. Wo diese Bedingungen gegeben sind, da könne man den Massenstreik ebenso inszenieren wie jeden anderen Streik und eventuell wieder abbrechen. Diese beiden Richtungen unterscheiden sich jedoch dadurch, dass die eine dem Streik gegenüber den Parlamentarismus vernachlässigt, und dass sie jenen als das souveräne Mittel betrachtet, das Proletariat mit revolutionärem Drange zu erfüllen und revolutionäre Situationen herbeizuführen, indes die andere Richtung im Gegenteil den Parlamentarismus sowie Friedlichkeit und Gesetzlichkeit über alles schätzt und im Massenstreik ein legales und friedliches Mittel sieht, dort, wo der Parlamentarismus auf demokratischer Grundlage zu versagen droht, ihn zu stärken und sein gedeihliches Wirken zu sichern.

Die dritte Richtung sieht in ihm weniger ein legales und friedliches Pressionsmittel, als vielmehr ein revolutionäres Kampfmittel; wohl könne er unter Umständen als ersteres dienen, in den modernen militaristischen Großstaaten dürfte er aber nur als revolutionäres Mittel in Betracht kommen. Aber gerade weil der Massenstreik ein revolutionäres Mittel ist, wird er – wenigstens in modernen Großstaaten mit einer zentralisierten Bürokratie und starken Armee und bei hochgespannten Klassengegensätzen – ein untaugliches, ja ein verderbliches Mittel in nicht revolutionären Zeiten, ein Mittel, dessen Anwendung in solchen Zeiten nur bewirken könnte, die Organisationen der Arbeiter zu gefährden, unter Umständen zu vernichten. Es war ein sehr gesunder Instinkt, der die sozialdemokratischen Arbeiter Deutschlands bis vor kurzem den Gedanken des politischen Massenstreiks ablehnen ließ. Wenn sie diese Ablehnung jetzt immer mehr fahren lassen, geschieht es deswegen, weil die Verhältnisse sich ändern und die Notwendigkeit an sie herantritt, mit der Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit revolutionärer Situationen zu rechnen und dafür kampfbereit zu sein.

Das sind die fünf Auffassungen des Massenstreiks, die in der deutschen Sozialdemokratie zu finden sind. Sie treten nicht immer so scharf umrissen auf, da ja der Gedanke noch neu, noch in voller Gärung begriffen ist. Aber im Ganzen und Großen wird man alle die verschiedenen Auffassungen in unseren Reihen auf diese fünf Grundtypen zurückführen können.

Daneben kommen aber noch jene Genossen in Betracht, die sich über den Massenstreik gar nicht äußern und nicht äußern wollen, sondern meinen, so etwas tut man, von so etwas spricht man nicht. Je weniger man darüber rede, um so besser. Kommt Zeit, kommt Rat.

Wie immer der Parteitag schließlich entscheiden mag, diese letztere Richtung wird dort sicher nicht auf ihre Kosten kommen. Alle Versuche, die Diskussion des Massenstreiks zu unterbinden, sind bisher fehlgeschlagen, haben das Gegenteil erreicht, diese Diskussion auf das Lebhafteste angeregt. Die Verhandlungen des Parteitags werden sie aufs Neue beleben und in die entlegensten Enden der Partei tragen. Aber wir dürfen erwarten, dass er noch mehr leisten wird, wie immer sein schließliches Urteil über den Massenstreik lauten mag. Er wird nicht bloß das Interesse für die Frage des Massenstreiks aufs Höchste steigern, seine Verhandlungen werden auch dahin wirken, die Frage selbst präziser zu gestalten, die Diskussion darüber auf ein höheres Niveau zu heben und eine Menge von Missverständnissen aus ihr hinweg zu räumen.

Mag dabei der Kampf der Geister noch so heftig entbrennen, was schadet's! Es wird um große Dinge dabei gestritten werden. Und nur der Kampf um kleine Differenzen wirkt lähmend und degradierend. Dagegen wachsen die Partei und ihre Glieder mit den größeren Zwecken, die sie sich setzen, um die sie kämpfen.

So dürfen wir erwarten, dass der Parteitag sich würdig erweisen wird der großen historischen Situation, in der er tagt; dass der befreiende revolutionäre Geist, der das Proletariat der ganzen Welt durchweht, auch die Verhandlungen von Jena beherrschen wird.

Noch nie, seit dem Bestehen unserer Partei, hat einer ihrer Parteitage in einer so gewaltigen revolutionären Situation getagt wie der jetzigen. Selbst die Ereignisse von 1870 und 1871 verblassen gegenüber denen der russischen Revolution. Damals fiel das Kaiserreich beim ersten Rucke zusammen, aber nur um einer Republik Platz zu machen, die nicht viel mehr ist als das Kaiserreich ohne Kaiser. An die Herrschaftsinstitutionen, Bürokratie und Armee, wurde gar nicht gerührt. Und die Erhebung der Pariser Kommune, so herrlich sie war, bedeutete doch nur die Empörung einer einzigen Stadt für ein paar Wochen.

In Russland dagegen haben wir eine Revolution, die die Grundfesten des ganzen Staates aufs Tiefste erschüttert und die gerade die Herrschaftsinstitutionen, Bürokratie und Armee, völlig desorganisiert. Eine Revolution, in der das Proletariat nicht bloß einer Stadt, sondern aller großen Städte des Reiches kämpft, nicht wochenlang, sondern monatelang – wahrscheinlich jahrelang. Eine Revolution, in der von Anfang an das industrielle Proletariat die mächtigste Triebkraft bildet.

Aber nicht nur nach ihrer Ausdehnung und Bedeutung, sondern mehr noch nach den Konsequenzen, die sie nach sich ziehen muss, unterscheidet sich die heutige Revolution Russlands von der Frankreichs 1870/71. Diese bildete, trotz des gelegentlichen starken Hervortretens eines sozialistischen Proletariats, den Abschluss der Ära der bürgerlichen Revolutionen in Europa. Die russische Revolution bildet, trotz des bürgerlichen Charakters, den sie noch trägt, den Beginn der Ära der proletarischen Revolutionen, der wir entgegengehen. Die Ereignisse von 1870/71 brachten daher Ruhe für ganz Europa, die Konsolidierung seiner Verhältnisse; eröffneten für Europa, mit der einzigen vorübergehenden Ausnahme Russlands und der Türkei, ein Zeitalter des Friedens und ungestörter ökonomischer Entwicklung.

Die Ereignisse von 1905 dagegen bringen alle Verhältnisse ins Wanken, so fest sie bisher erscheinen mochten, sie bergen in ihrem Schoße Krieg, Teuerung, wo nicht Hungersnot, gewaltsamen Umsturz der gegebenen gesetzlichen Ordnungen durch Junker und Scharfmacher, gewaltsamen Widerstand des Proletariats, revolutionäre Situationen aller Art.

Wie rasch heute solche Situationen in Ländern auftauchen, wo gestern noch alle Welt sie für unmöglich gehalten hätte, zeigt jetzt wieder Ungarn.

Noch wissen wir nicht, welche Formen des Kampfes, welche Aufgaben aus diesem gärenden Hexenkessel für uns hervorkommen werden. Aber eines ist sicher: auf alles andere müssen wir eher gefasst sein, als auf die gemütliche Fortdauer des augenblicklichen Zustandes. Kein Politiker wird eher Schiffbruch leiden als derjenige, der nur mit den Zuständen rechnet, wie sie gerade bestehen.

Heute heißt es jeden Moment auf Überraschungen gefasst sein; heißt es stets die Augen offen haben, jede Änderung des politischen Horizonts genau beachten, sich stets bereit halten für die äußersten Anforderungen, denn das politische Barometer deutet auf Sturm.

Und als eine Prüfung der Ausrüstung des Parteischiffs vor dem Sturme begrüßen wir den Jenaer Parteitag!

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