I. 7. Die Theorie des Nationaleinkommens

7. Die Theorie des Nationaleinkommens

Nachdem wir die Grundsätze der Marxschen Realisierungstheorie dargestellt haben, müssen wir noch in Kürze über ihre gewaltige Bedeutung für die Theorie der „Konsumtion", der „Distribution" und des „Einkommens" einer Nation sprechen. Alle diese Fragen, besonders die letzte, waren bis jetzt ein wahrer Stein des Anstoßes für die Ökonomen. Je mehr sie darüber redeten und schrieben, desto größer wurde der aus dem Smithschen Grundfehler herrührende Wirrwarr. Hier einige Beispiele.

Es ist z. B. interessant, dass Proudhon im Grunde genommen denselben Fehler wiederholte, wenn er auch der alten Theorie eine etwas andere Formulierung gab. Er sagte:

A (der alle Eigentümer, Unternehmer und Kapitalisten vorstellen soll) fängt sein Unternehmen mit 10.000 Fr. an, bezahlt im Voraus die Arbeiter, die dafür Produkte herstellen müssen; nachdem A so sein Geld zu Ware gemacht hat, muss er am Schluss der Produktion, z. B. nach einem Jahre, die Waren wieder zu Gelde machen. An wen verkauft er nun seine Waren? Notwendig an die Arbeiter, denn es gibt nur die zwei Klassen in der Gesellschaft, Unternehmer einer-, Arbeiter andererseits. Diese Arbeiter nun, die 10.000 Fr. für ihre Produkte als Lohn erhalten haben, der ihre notwendigen Lebensbedürfnisse deckt, müssen jedoch mehr als 10.000 Fr. bezahlen, nämlich noch den Zuschlag, den A erhebt in Form von Zinsen und anderen Gewinnen, die er am Anfang des Jahres ausgelegt hat: die 10.000 Fr. kann der Arbeiter nur durch ein Anlehen decken, er gerät dadurch in immer größere Schulden und ins Elend. Es wird notwendig von zweien eins eintreten: entweder kann der Arbeiter nur 9 konsumieren, während er 10 produziert hat, oder er zahlt dem Produzenten nur seinen Lohn, dann aber kommt der Unternehmer selbst in Bankrott und Elend, da er die Zinsen des Kapitals, die er doch seinerseits zahlen muss, nicht zurückerhält" (Diehl, „Proudhon", Bd. II, S. 200).

Wie der Leser sieht, ist es immer dieselbe Schwierigkeit – wie vermag man den Mehrwert zu realisieren –, mit der sich auch W. W. und N.-on herumschlagen. Proudhon drückte sie nur in etwas anderer Form aus. Und diese Besonderheit seiner Formulierung nähert ihn noch mehr unseren Narodniki: Genau wie Proudhon sehen auch sie die „Schwierigkeit" in der Realisierung gerade des Mehrwerts (der Zinsen oder des Profits nach der Terminologie von Proudhon), ohne zu begreifen, dass die Verwirrung, die sie von den alten Ökonomen übernommen haben, sie hindert, die Realisierung nicht nur des Mehrwerts, sondern auch des konstanten Kapitals zu erklären, d. h. dass die „Schwierigkeit" auf ein Nichtverstehen des gesamten Prozesses der Realisierung des Produkts in der kapitalistischen Gesellschaft zurückzuführen ist.

Über diese „Theorie" Proudhons bemerkt Marx sarkastisch: „Proudhon spricht seine Unfähigkeit dies" (nämlich die Realisierung des Produkts in der kapitalistischen Gesellschaft) „zu begreifen, in der bornierten Formel aus: l'ouvrier ne peut pas racheter son propre produit" (der Arbeiter vermag nicht, sein eigenes Produkt wiederzukaufen), „weil der Zins darin enthalten, der zum prix-de-revient" (zu den Produktionskosten) „hinzukommt" („Das Kapital", Bd. III, 2, S. 379).

Und Marx führt die gegen Proudhon gerichtete Bemerkung eines Vulgärökonomen an, eines gewissen Forcade, der

richtig die Schwierigkeit, die Proudhon nur unter einem beschränkten Gesichtspunkt ausgesprochen, verallgemeinert" (ebenda).

Forcade sagte nämlich, dass der Warenpreis nicht nur einen Überschuss über den Arbeitslohn, den Profit, enthalte, sondern auch den Teil, der das konstante Kapital ersetzt. Das bedeutet – folgerte Forcade gegen Proudhon –, dass auch der Kapitalist mit seinem Profit die Waren nicht wieder erstehen kann (Forcade selbst hatte dieses Problem nicht nur nicht gelöst, sondern nicht einmal verstanden).

Genau so wenig hat Rodbertus zur Lösung dieser Frage beigetragen. Mit so besonderem Nachdruck er auch den Satz vertrat, dass „Grundrente, Kapitalgewinn und Arbeitslohn Einkommen sind"A, ist er sich dennoch über den Begriff des „Einkommens" nicht klar geworden. Er spricht über die Aufgaben der politischen Ökonomie bei Anwendung der „richtigen Methode" (a. a. O., S. 26), und sagt dabei über die Verteilung des Nationalprodukts:

Sie" (d. h. die wahre „Volkswirtschaftslehre", von Rodbertus gesperrt) „hätte dann weiter zeigen sollen, wie von dem letzteren" (dem Nationalprodukt) „immer ein Teil zum Ersatz des in der Produktion verbrauchten oder abgenutzten Kapitals, der andere als Nationaleinkommen zur Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse der Gesellschaft und ihrer Mitglieder bestimmt ist" (ebenda, S. 27).

Wenn auch die wahre Volkswirtschaftslehre dies zeigen müsste, so hat jedenfalls die „Volkswirtschaftslehre" des Rodbertus nichts davon gezeigt. Der Leser sieht, dass Rodbertus nur Wort für Wort Adam Smith wiederholte, wobei er offenbar nicht einmal bemerkte, dass die Frage hier eigentlich erst beginnt. Was für Arbeiter „ersetzen" denn das Nationalkapital? Wie wird ihr Produkt realisiert? – darüber hat er auch nicht ein einziges Wort gesagt. Bei der Zusammenfassung seiner Theorie („diese neue Theorie, die ich der bisherigen gegenüberstelle", S. 32), spricht Rodbertus zunächst über die Verteilung des Nationalprodukts folgendermaßen:

Rente" (bekanntlich verstand Rodbertus unter diesem Ausdrucke das, was man Mehrwert zu nennen pflegt) „und Arbeitslohn sind also Anteile, in welche das Produkt, soweit es Einkommen ist, zerfällt" (S. 33).

Dieser höchst wichtige Vorbehalt hätte ihn auf die wesentlichste Frage stoßen müssen: soeben erst hat er gesagt, dass unter Einkommen die Gegenstände verstanden werden müssten, die „zur Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse" dienen. Folglich gibt es Produkte, die nicht für den individuellen Konsum bestimmt sind. Wie werden aber diese realisiert? – Rodbertus bemerkt diese Unklarheit nicht, er vergisst schnell seinen eigenen Vorbehalt, und spricht einfach von einer „Teilung des Produktes in drei Teile" (Arbeitslohn, Kapitalgewinn und Grundrente), (S. 49–50 u. a.). Rodbertus wiederholte also im wesentlichen die Lehre von Adam Smith einschließlich seines grundlegenden Irrtums und trug zur Klärung der Frage des Einkommens rein gar nichts bei. Das Versprechen einer neuen, vollständigen und besseren Theorie über die Verteilung des NationalproduktsB erwies sich als leeres Gerede. In Wirklichkeit hat Rodbertus die Theorie in dieser Frage um keinen Schritt vorwärts gebracht; wie konfus seine Anschauungen über das „Einkommen" waren, zeigen seine langatmigen Erörterungen im vierten Sozialen Briefe an F. Kirchmann („Das Kapital", Berlin, 1884), darüber, ob das Geld zum Nationaleinkommen zu rechnen sei und ob der Arbeitslohn aus Kapital oder Einkommen stamme – Erörterungen, von denen Engels sagte: „Seine Spekulationen … gehören der Scholastik an" (Vorwort zum II. Bande des „Kapital", S. XXI).C

Überhaupt herrscht bei den Ökonomen bis heute noch ein vollständiges Chaos in der Frage des Nationaleinkommens. So lobt z. B. Herkner in seiner Abhandlung über die „Krisen" im „Handwörterbuch der Staatswissenschaften" bei der Besprechung der Realisierung des Produktes in der kapitalistischen Gesellschaft (§ 5, „Verteilung"), die Darlegungen Rau's, der jedoch nur den Fehler Adam Smiths wiederholt und das gesamte Produkt der Gesellschaft in Einkommen auflöst. R. Meyer zitiert in seiner Abhandlung über das „Einkommen" (ebenda) die konfusen Definitionen A. Wagners (der ebenfalls den Smithschen Irrtum wiederholt), und gibt treuherzig zu, dass es schwer sei, das Einkommen vom Kapital zu unterscheiden, dass das Schwierigste jedoch die Unterscheidung von Ertrag und Einkommen sei (S. 285 u. 286).

So sehen wir, dass diese Ökonomen, die sich so sehr über die mangelnde Beachtung der „Distribution" und „Konsumtion" seitens der Klassiker (mit Einschluss von Marx) aufhielten und noch aufhalten, selbst nicht im Geringsten die grundlegenden Fragen der „Verteilung" und des „Verbrauchs" aufzuklären vermochten. Dies ist auch verständlich, da man unmöglich über „Konsumtion" reden kann, ohne den Prozess der Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und der Ersetzung der einzelnen Bestandteile des gesellschaftlichen Produktes verstanden zu haben. An diesem Beispiele zeigt sich wieder einmal, wie abgeschmackt es ist, „Verteilung" und „Verbrauch" als selbständige Gebiete der Wissenschaft zu behandeln, die gewissen selbständigen Prozessen und Erscheinungen des wirtschaftlichen Lebens entsprechen. Die politische Ökonomie befasst sich überhaupt nicht mit der „Produktion", sondern mit den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen in der Produktion und mit der gesellschaftlichen Struktur der Produktion. Sind diese gesellschaftlichen Beziehungen erst einmal gründlich erklärt und restlos analysiert, so ist eben damit auch der Platz, den jede Klasse in der Produktion einnimmt, und folglich auch der ihr von der nationalen Konsumtion zufallende Teil bestimmt. Und dieses Problem, vor dem die klassische politische Ökonomie haltmachte, und dem sämtliche Spezialisten der Frage der „Verteilung" und des „Verbrauchs" nicht um Haaresbreite näher kamen, findet seine Lösung in einer Theorie, die sich unmittelbar gerade an die Klassiker anlehnt und die Analyse der Produktion des Kapitals, sowohl des individuellen als auch des gesellschaftlichen, vollendet.

Die Frage des „Nationaleinkommens" und des „Nationalkonsums", die bei isolierter Fragestellung absolut unlösbar bleibt, und nur zu scholastischen Erörterungen, Definitionen und Klassifikationen führt, lässt sich vollständig lösen, wenn der Prozess der Produktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals restlos analysiert ist. Mehr noch: diese Frage hört auf, eine besondere Frage zu sein, wenn die Beziehungen des nationalen Konsums zum nationalen Produkt und die Realisierung der einzelnen Bestandteile dieses Produktes aufgeklärt sind. Es bleibt nur noch übrig, diesen einzelnen Teilen eine Benennung zu geben.

Will man sich nicht in nutzlose Schwierigkeiten verwickeln, so muss man Rohertrag und Reinertrag vom Roheinkommen und Reineinkommen unterscheiden.

Der Rohertrag oder das Rohprodukt ist das ganze reproduzierte Produkt …

Das Roheinkommen ist der Wertteil und der durch ihn gemessene Teil des Bruttoprodukts oder Rohprodukts, der übrigbleibt nach Abzug des Wertteils und des durch ihn gemessenen Produktenteils der Gesamtproduktion, welcher das vorgeschossene und in der Produktion aufgezehrte konstante Kapital ersetzt. Das Roheinkommen ist also gleich dem Arbeitslohn (oder dem Teil des Produkts, der die Bestimmung hat, wieder zum Einkommen des Arbeiters zu werden) + dem Profit + der Rente. Das Reineinkommen dagegen ist der Mehrwert und daher das Mehrprodukt, das nach Abzug des Arbeitslohns übrigbleibt, und in der Tat also den vom Kapital realisierten und mit den Grundeigentümern zu teilenden Mehrwert und das durch ihn gemessene Mehrprodukt darstellt.

Das Einkommen der ganzen Gesellschaft betrachtet, besteht das Nationaleinkommen aus Arbeitslohn plus Profit plus Rente, also aus dem Roheinkommen. Indes ist auch dies insofern Abstraktion, als die ganze Gesellschaft, auf Grundlage der kapitalistischen Produktion, sich auf den kapitalistischen Standpunkt stellt und daher nur das in Profit und Rente sich auflösende Einkommen als Reineinkommen betrachtet" (Bd. III, 2, S. 375 u. 376).

Die Klärung des Realisierungsprozesses hat somit auch Klarheit in die Frage des Einkommens gebracht, indem sie die Hauptschwierigkeit, die die Beantwortung dieser Frage verhinderte, beseitigte, nämlich die Frage: wie wird „das Einkommen des einen zum Kapital für den andern"? Wie kann das Produkt, das ganz aus Gegenständen des persönlichen Bedarfs besteht und sich vollständig in Arbeitslohn, Profit und Rente auflöst, noch den konstanten Teil des Kapitals enthalten, der niemals Einkommen sein kann? Die Analyse der Realisierung im dritten Abschnitt des II. Bandes des „Kapital" hat diese Fragen vollständig gelöst, und es blieb Marx im Schlussteil des III. Bandes des „Kapital", der der Frage des „Einkommens" gewidmet ist, nur übrig, den einzelnen Teilen des gesellschaftlichen Produkts einen Namen zu geben und sich auf die Analyse im II. Bande zu berufen.D

A Dr. Rodbertus-Jagetzow, „Zur Beleuchtung der sozialen Frage", Berlin 1875, S. 72 ff.

B Ebenda, S. 32: „… bin ich genötigt, der vorstehenden Skizze einer besseren Methode auch noch eine vollständige, solcher besseren Methode entsprechende Theorie wenigstens der Verteilung des Nationalprodukts hinzuzufügen".

C Darum ist auch K. Diehl durchaus im Unrecht, wenn er sagt, dass Rodbertus eine „neue Theorie der Einkommensverteilung" gegeben habe. („Handwörterbuch der Staatswissenschaften", Artikel „Rodbertus", Band V, S. 448.)

D Siehe „Das Kapital", Bd. III, 2, VII. Abschn.: „Die Revenuen", Kap. 49: „Zur Analyse des Produktionsprozesses". Hier zeigt Marx auch die Gründe, die die früheren Ökonomen hinderten, zum Verständnis dieses Prozesses zu gelangen (S. 379–382).

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