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Narodniki

Die Bauernschaft konnte sich mit der „großen“ Reform von 1861 nicht zufrieden geben. Ihr Interesse erforderte nicht eine Reform von oben durch die Gutsbesitzer, sondern die revolutionäre Aneignung des Bodens und die Vernichtung der Macht der Grundherren. Aber die Bauernschaft wusste nicht, wie sie kämpfen sollte, und ein politisch selbständiges und organisiertes Proletariat, das diesen Weg gezeigt hätte, gab es damals noch nicht. Die Stimmung der Bauernschaft, ihr Bestreben, das Joch der Grundherren abzuschütteln, brachten die wenig zahlreichen Gruppen der Intelligenz und der studierenden Jugend zum Ausdruck, die sogenannten Rasnotschinzy (was soviel wie „Leute ohne Stand“ bedeutet, weil dieselben keinem der registrierten alten Stände — Adel, Bauernschaft, Kaufmannschaft, Beamtentum, Militär, Geistlichkeit, — angehörten), Söhne von niederen Beamten, Lehrern, niederen Geistlichen, des grundbesitzenden Kleinadels usw. In diesen Schichten erzeugte diese Lage eine revolutionäre Stimmung und das Bestreben, gegen den Absolutismus zu kämpfen. Diese revolutionären Intellektuellen und als erster unter ihnen N. G. Tschernyschewski verkündeten den Gedanken der Bauernrevolution. Die revolutionäre Masse war für sie „das Volk“, die Bauernschaft. In der Bauernschaft erblickten sie die Klasse der Zukunft, in der Bauernwirtschaft die beste Form der wirtschaftlichen Verhältnisse und in der bäuerlichen Dorfgemeinschaft das Fundament des künftigen Sozialismus. In diesem Sinne waren die Narodniki-Revolutionäre utopische Sozialisten. Der Gedanke der revolutionären Erhebung der durch den Absolutismus und die Reform betrogenen Bauern, der Bauernrevolution, verschmolz bei den Narodniki mit der Idee des „bäuerlichen Sozialismus“, zu welchem Russland unter Umgehung des westeuropäischen Weges, das ist der der kapitalistischen Entwicklung, gelangen sollte. Die Formulierung der Ideologie des Narodnikitums vollzog sich unter dem unmittelbaren Einfluss von Michael Bakunin und Peter Lawrow. Gemäß den Lehren des berühmten Anarchisten Bakunin waren die Narodniki-Verschwörer der Ansicht, dass sich der Sozialismus auf der bäuerlichen Dorfgemeinschaft aufbauen werde, dass aber dazu die Vernichtung des Staates notwendig sei, der diese Dorfgemeinschaft zerstöre. Das Volk sei von Natur aus ein Rebell und antistaatlich gesinnt. Man brauche es nur zur Erhebung zu bringen, um die Ausbeuter zu stürzen, den Staat zu vernichten und eine nichtstaatliche Vereinigung der freien Dorfgemeinschaften zu errichten, die nach der Meinung der Bakunisten die Verwirklichung des Sozialismus bedeute. Die Anhänger Peter Lawrows gingen von dem Gedanken aus, dass man vor allem das kulturelle und geistige Niveau des Volkes heben müsse. Lawrow sprach zwar der politischen Freiheit eine gewisse Bedeutung nicht ab und wendete dem Klassenkampf des westeuropäischen Proletariats große Aufmerksamkeit zu, den Schwerpunkt verlegte er aber in die sozialistische Propaganda der „kritisch denkenden Persönlichkeiten“.

In den 70er Jahren waren die breiten Kreise der studierenden Jugend und der jüngeren Intelligenz von den Ideen des Narodnikitums erfasst. Alle waren von dem Wunsche beseelt, dem Volke zu dienen und ihm zu helfen, aus der Bettelarmut und aus der Unwissenheit herauszukommen. Es begann das sogenannte „Ins-Volk-Gehen“. Hunderte von Intellektuellen gaben das Studium auf, verließen Haus und Familie, zogen Arbeiter- oder Bauernkleider an und gingen aufs Land, um mit dem Volke zu leben, um so einfach wie das Volk zu werden, und leisteten kulturelle und propagandistische Arbeit.

Die absolutistische Regierung beantwortete diese Erscheinung mit ausgedehnten Verfolgungen. Bewegung ging aus dem „Ins-Volk-gehen“ keine hervor; die Bauernschaft erhob sich nicht. Aber die Jugend, die ins Volk gegangen war, wurde dadurch auf dem revolutionären Wege weiter getrieben. War das „Ins-Volk-gehen“ im Grunde nur eine bloße Kulturpropaganda, so war die nächste Etappe der ganzen Bewegung die Gründung der revolutionären Organisation Land und Freiheit“. Diese 1876 organisierte und 1878 formierte Gruppe war ein erster Versuch der Gründung einer revolutionären Partei in Russland. Die Erfolglosigkeit der Agitation unter den Bauernmassen und die Verfolgungen durch die Regierung stießen jedoch die Revolutionäre auf einen neuen Weg, auf den Weg des Terrorismus. Der Terror wurde zum politischen Kampfmittel. Bald entstanden jedoch innerhalb der Gruppe Land und Freiheit“ Meinungsverschiedenheiten über die Methoden der revolutionären Arbeit: der eine Teil war für die Agitation unter den Bauern und Arbeitern, während der andere Teil dafür war, alle Kräfte auf terroristische Akte gegen die Regierung zu konzentrieren und sie auf diese Weise zu Zugeständnissen zu zwingen. 1879 kam es auf dem Kongress in Woronesch zur Spaltung. Es löste sich die Gruppe der Schwarzen Umteilung los, welche die alten Traditionen des Narodnikitums vertrat Und die Losung der allgemeinen Neuaufteilung, der „Umteilung“ des gesamten Grund und Bodens ausgab, und zwar der Umteilung auf revolutionärem Wege durch das Volk selbst, ohne Bewilligung von oben, also „schwarz“. Die verbliebene Gruppe von „Land und Freiheit“ begab sich nach dieser Spaltung ganz auf den Weg des terroristischen Kampfes gegen den Absolutismus mit dem Ziel des Sturzes des Zarismus und der Eroberung der politischen Macht. Ihre Partei bzw. Organisation nannte sich Volkswille". Die Konzentrierung des politischen Kampfes auf den Sturz des Absolutismus unterschied die Partei „Volkswille" von den Narodniki der 70er Jahre. Zum Unterschied von diesen betrieb die Partei auch revolutionäre Propaganda unter den Arbeitern. Die revolutionären Narodniki sahen im Arbeiter einen Bauern, der sich bloß zeitweilig vom Grund und Boden losgelöst und städtische Kleidung angezogen habe. Aber durch ihre Tätigkeit unter den Arbeitern überzeugten sie sich davon, dass die sozialistische Propaganda gerade unter diesen bessere Fortschritte macht, dass aus der Arbeiterschaft Revolutionäre und Sozialisten hervorgehen, und dass auch die Agitation unter den Arbeitermassen den besten Boden findet. Den größten Teil ihrer Arbeit und Kraft verwendete die Partei „Volkswille“ auf den Terror, und zwar auf den „zentralen“, d. h. den Terror gegen den Zaren. Am 1. März 1881 gelang der Gruppe die Ermordung Zar Alexanders II. Jetzt aber kam die Gruppe in eine Sackgasse: der Zar war ermordet, doch das Volk erhob sich nicht. Der Absolutismus erholte sich von dem Schlag sehr rasch und ging zum Angriff über. Der Weg des politischen Kampfes in der Form des Auftretens einzelner Helden und Terroristen hatte sich nicht bewährt.

Die Gruppe der „Schwarzen Umteilung“ zerfiel nach einigen Jahren, da die sozialistische Propaganda auf dem Lande keinerlei Erfolge brachte und die erfolgreiche Arbeit unter den Arbeitern zum politischen Auftreten drängte. Im Jahre 1883 vollzog ein Teil der Führer der „Schwarzen Umteilung“ den Bruch mit den Anschauungen des Narodnikitums, stellte sich auf den Standpunkt der Anerkennung der Selbständigkeit des proletarischen Klassenkampfes und gründete die Gruppe „Befreiung der Arbeit". Je mehr die Arbeiterklasse heranwuchs, desto mehr gerieten die Grundlagen der Anschauungen des Narodnikitums ins Wanken. Die Entwicklung der 90er Jahre führte zu einer weiteren raschen Zersetzung des Narodnikitums. Ein Teil der revolutionären Narodniki-Intelligenz wandte sich dem Marxismus zu, ein anderer Teil ging ins Lager des bürgerlichen Reformertums und des Liberalismus über. Daneben entstand die Richtung des sogenannten „legalen Narodnikitums“, deren hauptsächlichste Vertreter — Michailowski, Juschakow, N-on, W. W. — behaupteten, der russische Kapitalismus sei nur ein künstliches Gebilde, zerstöre die Produktivkraft und sei nur ein Übel. Wie soll sich aber Russland vor dem Kapitalismus reiten? Juschakow schrieb: „ … die wohlhabende, aufgeklärte und sich selbst verwaltende Dorfgemeinschaft könnte derartige große Werkstätten und Betriebe für die Arbeit im Winter auch ohne die Vermittlung des Kapitalismus errichten … Dafür soll sie selbst Mittel und Kenntnisse haben, vor allem aber die Mittel. Von ihrem Ausfindigmachen hängt auch die Möglichkeit der Aufklärung ab. Das ist der Grund, weshalb die Volksfreunde den Fragen der Bodenverfassung, der Zahlungen, der Pacht usw. stets eine solche Bedeutung beigemessen haben“. Die Narodniki verstanden nicht, dass der Kapitalismus im Vergleich zu den halb fronherrlichen Verhältnissen, die zu jener Zeit noch stark waren, ein gewaltiger Schritt vorwärts war. Die Anerkennung der Fortschrittlichkeit des Kapitalismus warfen sie den Marxisten als eine „Rechtfertigung des Kapitalismus“ vor. Sie begriffen nicht, dass der Kapitalismus durch seine Entwicklung auch seinen Totengräber, das Proletariat erzeugt. Die Narodniki sahen ja auch die Teilung der Gesellschaft in Klassen und den Klassenkampf nicht und verstanden auch die Rolle des Proletariats als besondere Klasse nicht. Dafür aber stellten sie die Intelligenz „höher“ als alle Klassen und sahen in ihr die hauptsächlichste bewegende Kraft der Geschichte. Da die Narodniki die Klassenteilung und die Loslösung des Produzenten von den Produktionsmitteln nicht sahen, übersahen sie auch die Ausbeutung und die Unterdrückung der Klassen. Der kapitalistischen Industrie stellten sie die gewerbliche Hausindustrie entgegen, wobei sie die Augen davor verschlossen, dass diese Hausindustrie nur die Heimarbeitsform der kapitalistischen Produktion geworden war. Zur Rettung der Bauernwirtschaft schlugen die legalen Narodniki die Reorganisation der Bauernbank, die Errichtung von Genossenschaften und die Gewährung billigen Kredits vor. Das waren in Wirklichkeit bürgerliche Maßnahmen: den Kredit der Bauernbank konnte nur eine verschwindende Minderheit der Bauern ausnützen, und die Genossenschaften brachen entweder überhaupt zusammen oder verwandelten sich in Unternehmungen der Kulaken. Die Stellung der revolutionären Narodniki der 70er Jahre wurde von den legalen Narodniki der 90er Jahre aufgegeben.

Die „legalen Marxisten“ kritisierten die kleinbürgerlichen Anschauungen des Narodnikitums vom bürgerlichen Gesichtspunkt, als Verteidiger des Kapitalismus. Plechanow übersah in seiner Kritik der Bestrebungen der Narodniki, die wirtschaftliche Entwicklung Russlands rückwärts zu lenken, die andere Seite der kleinbürgerlichen Bewegung, welche die demokratischen Interessen der Bauernschaft in ihrem Kampfe gegen das privilegierte Grundherrentum und gegen die Überreste der Fronherrschaft zum Ausdruck brachte. Lenins Kritik lief auf die ganz bestimmt formulierte Idee des Bündnisses des Proletariats und der Bauernschaft in der bürgerlich-demokratischen Revolution unter der Führung des Proletariats hinaus. [Ausgewählte Werke, Band 1]

Bei den Auseinandersetzungen zwischen den Marxisten und den Narodniki ging es um die Hauptfrage, welchen Weg die Entwicklung Russlands (d. h. des alten russischen Reiches mit seinen verschiedenartigen ökonomischen Elementen) einschlagen werde: ob es sich mit raschen Schritten von der Fronherrschaft zum Kapitalismus entwickeln, ob der Kapitalismus in der russischen Wirtschaft die herrschende Stellung erringen wird und ob Russland bereits ein kapitalistisches Land ist, freilich mit starken Überresten der Fronherrschaft (das war die Ansicht der Marxisten) — oder ob der Kapitalismus nur künstlich durch die zaristische Regierung aufgepfropft wird und infolgedessen ungesund und schwach ist, keine Zukunft hat und Russland den kapitalistischen Weg der Entwicklung noch verlassen und sich auf die „Volksproduktion“, d. h. auf die bäuerliche Dorfgemeinschaft, auf die landwirtschaftlichen und gewerblichen Genossenschaften stützen kann (das war die Ansicht der Narodniki).

Wera Sassulitsch fragte schon im Jahre 1882 Marx, ob der Kapitalismus für Russland unausweichlich sei, worauf Marx antwortete, dass sich Russland eben bereits kapitalistisch entwickle. Von derselben Frage handelt auch ein Brief von Engels an N-on (Danielson), einen der hervorragendsten Narodniki, datiert vom 22. September 1892. Darin schrieb Engels: „Noch eines steht fest: Wenn Russland nach dem Krim-Kriege eine eigene Großindustrie brauchte, so konnte es dieselbe nur in einer Form bekommen: der kapitalistischen. Damit musste es alle die Folgen, die die kapitalistische Großindustrie in allen anderen Ländern mit sich bringt, übernehmen.“ („Die Briefe von Karl Marx und Friedrich Engels an Danielson“, in der Sammlung „Neudrucke marxistischer Seltenheiten“, Verlag Rudolf Liebing, Leipzig, Seite 64.) Lenin hat den Nachweis erbracht, dass sich Russland auf kapitalistischem Wege entwickelt. Als zentrale Frage, welche besonders heftige Diskussionen hervorgerufen hatte, behandelte Lenin die Analyse der Entstehung und Entwicklung des inneren Marktes als der notwendigen Vorbedingung der Entwicklung des Kapitalismus in Russland, wobei er die Vorurteile der Narodniki widerlegte, dass sich der russische Kapitalismus nur auf Grund des äußeren Marktes weiter entwickeln könne. Die Aufgaben der marxistischen Kritik des Kapitalismus sind nach Lenin von denen der Kritik der Narodniki ganz und gar verschieden. Während sich diese darauf beschränken, die Ausbeutung nur festzustellen, ist der Marxismus verpflichtet, klarzustellen, wie diese Ausbeutung aus dem ganzen System der Produktionsbeziehungen der gegebenen Gesellschaft, der gegebenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hervorgeht. Während sich die Narodniki damit begnügen, das kapitalistische System vom Gesichtspunkt der sozialen Ideale zu verurteilen, ist der Marxist verpflichtet, die Klassen zu studieren, wie sie sich in der kapitalistischen Gesellschaft bilden, wie sie kämpfen und in diesen Kämpfen die Grundlagen zu einer neuen Gesellschaftsordnung legen. Weder die Narodniki, noch Struve, der sie kritisierte, sahen den Klassenkampf oder hoben ihn als notwendige Vorbedingung der Entstehung neuer gesellschaftlicher Beziehungen hervor. Lenin aber hob gerade dies hervor. [Ausgewählte Werke, Band 1]

Die „Narodniki“, die Lenin hier meint, waren die Epigonen der Träger jener revolutionären Bewegung, die im Anschluss an die in der Bauernschaft nach der „Bauernbefreiung“ von 1861 hervorgerufene Gärung entstanden war. Diese Gärung in der neu versklavten und grausam enttäuschten Bauernschaft rief in den niederen Schichten der Intellektuellen eine revolutionäre Stimmung und das Bestreben hervor, gegen den Absolutismus zu kämpfen. Diese revolutionären Intellektuellen verkündeten den Gedanken der Bauernrevolution und einen utopischen Agrarsozialismus, der Russland den Weg der kapitalistischen Entwicklung ersparen sollte. Die Bezeichnung der Bewegung und ihrer Anhänger kommt von dem russischen Worte für: Volk: Narod. Im Jahre 1876 kam es zur Gründung der revolutionären Organisation „Land und Freiheit“, der ersten revolutionären Partei in Russland. Die Erfolglosigkeit der Agitation unter den Bauernmassen und die Verfolgungen durch die Regierung stießen einen Teil dieser Revolutionäre auf den Weg des Terrors als politisches Kampfmittel. Ein zweiter Teil ging zum Marxismus über, ein dritter entwickelte sich zu einer Art bürgerlichen Liberalismus. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 5, Anm. 24]

Narodniki“ nannte man die Anhänger jener kleinbürgerlich-revolutionären Richtung und Bewegung, die von den russischen revolutionären Intellektuellen am Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts ins Leben gerufen wurde. Diese Intellektuellen gaben die Losung aus: „Ins Volk gehen“ (Volk heißt aufs russisch „Narod“, daher die Bezeichnung „Narodniki“, die infolgedessen mit den deutschen Ausdrücken „Volkstum“, oder „Volkstümlichkeit“ in dem Sinne, wie sie heute gebraucht werden, nichts zu tun hat und mit „Volkstümler“ nicht glücklich übersetzt zu werden pflegt). Die Narodniki sahen in den Überresten der alten bäuerlichen Bodengemeinschaft im russischen Dorf und in den Resten der vorkapitalistischen Verhältnisse auf dem Lande überhaupt ein Element der sozialistischen Entwicklung und vertraten auf Grund dessen die Idee, dass Russland der kapitalistischen Entwicklung ausweichen könne und solle. Im Kapitalismus sahen sie etwas, was der russischen Wirtschaft künstlich aufgepfropft werde. Auf Grund dieser ihrer Anschauungen waren sie bestrebt, die vorkapitalistischen Formen in der Entwicklung des russischen Dorfes zu beschönigen, sie sahen in ihnen das, was dem Volke not tue und ihm durch die kapitalistische Entwicklung genommen werde. Dabei operierten sie mit Ausdrücken wie „Volksarbeit“ und „Volksproduktion“, um die alten, vorkapitalistischen Formen zu idealisieren, was in Wirklichkeit auf eine Vertretung der Interessen der wohlhabenden Bauernschaft, der sogenannten Kulaken (von „Kulak“ = Faust), hinauslief. In ihrem Bestreben, den Kapitalismus in Russland als etwas Künstliches hinzustellen, verwischten sie die Aufgaben des Klassenkampfes. An die Stelle des Klassenkampfes setzten sie den „Kampf des Volkes“, und die proletarische Ideologie suchten sie der bäuerlichen Ideologie unterzuordnen, die in Wirklichkeit die Ideologie der Kulaken war. Die Narodniki sahen eben nicht im Proletariat, sondern in der Bauernschaft die revolutionäre Klasse, die an der Spitze der Revolution zu stehen habe. Der Hauptkampf der revolutionären Marxisten gegen diese reaktionären Ideen der Narodniki spielte sich in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts ab, aus denen die übrigen in diesem Bande abgedruckten und zu einem großen Teile diesem Kampfe gewidmeten Arbeiten Lenins stammen. Zur Zeit als Lenin die vorliegende Arbeit schrieb, im Jahre 1908, war dieser Kampf schon ausgekämpft und das Narodnikitum schon entlarvt. Die Nachfolgerin des Narodnikitums und die Trägerin seiner reaktionären Ideen war zu dieser Zeit bereits die Partei der „Sozialrevolutionäre“. [Ausgewählte Werke, Band 1]

Die in der Bauernschaft durch die Reform von 1861 geschaffene Lage erzeugte in den niederen Schichten der Intellektuellen, Söhnen von niederen Beamten, Lehrern, niederen Geistlichen, Bauern, eine revolutionäre Stimmung und das Bestreben, gegen den Absolutismus zu kämpfen. Diese revolutionären Intellektuellen verkündeten den Gedanken der Bauernrevolution und eines utopischen Agrarsozialismus; beides sollte Russland den Weg der kapitalistischen Entwicklung ersparen. In den siebziger Jahren waren breite Kreise der studierenden Jugend und der jüngeren Intelligenz von diesen Ideen erfasst. Es begann das sogenannte „Ins-Volk-Gehen“. Hunderte von Intellektuellen gaben das Studium und die Berufskarriere auf, verließen Haus und Familie, zogen Arbeiter- oder Bauernkleider an und gingen aufs Land, um mit dem Volke zu leben, um so einfach wie das Volk zu werden, und leisteten kulturelle und propagandistische Arbeit. Da „Volk“ auf russisch „Narod“ heißt, wurden die Anhänger dieser Bewegung „Narodniki“ genannt.

Die absolutistische Regierung beantwortete diese Erscheinung mit ausgedehnten Verfolgungen; Massenbewegung ging aus ihr keine hervor; die Bauernschaft erhob sich nicht. Aber die Jugend, die ins Volk gegangen war, wurde dadurch auf dem revolutionären Wege weiter getrieben. Es kam 1878–79 zur Gründung der revolutionären Organisation „Land und Freiheit“, der ersten revolutionären Partei in Russland. Die Erfolglosigkeit der Agitation unter den Bauernmassen und die Verfolgungen durch die Regierung stießen diese Revolutionäre auf den Weg des Terrors als politischen Kampfmittels. 1879 kam es auf dem Kongress in Woronesch zur Spaltung. Es löste sich die Gruppe der „Schwarzen Umteilung“ los, welche die alten Traditionen des Narodnikitums vertrat und die Losung der allgemeinen Neuaufteilung, der „Umteilung“ des gesamten Grund und Bodens ausgab, und zwar der Umteilung auf revolutionärem Wege, durch das Volk selbst, ohne Bewilligung von oben, also „schwarz“, welcher Ausdruck von den Bauern geprägt war. Die verbliebene Gruppe von „Land und Freiheit“ begab sich nach dieser Spaltung ganz auf den Weg des terroristischen Kampfes gegen den Absolutismus mit dem Ziel des Sturzes des Zarismus und der Eroberung der politischen Macht. Sie bildete die Partei „Volkswille“. Diese Gruppe betrieb auch revolutionäre Propaganda unter den Arbeitern, in denen sie auch nur Bauern erblickte. Den größten Teil ihrer Arbeit und Kraft verwandte die Gruppe „Volkswille“ auf den Terror, und zwar auf den „zentralen“, d. h. den Terror gegen den Zaren. Am 1. März 1881 gelang der Gruppe die Tötung Alexanders II.

Die Gruppe der „Schwarzen Umteilung“ zerfiel nach einigen Jahren, da die sozialistische Propaganda auf dem Lande keinerlei Erfolge brachte und die erfolgreiche Arbeit unter den Arbeitern zum politischen Auftreten drängte. Im Jahre 1883 vollzog ein Teil der Führer der „Schwarzen Umteilung“ den Bruch mit den Anschauungen des Narodnikitums, stellte sich auf den Standpunkt der Anerkennung der Selbständigkeit des proletarischen Klassenkampfes und gründete die Gruppe „Befreiung der Arbeit". Die Entwicklung des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung führte besonders in den neunziger Jahren zur raschen Zersetzung des Narodnikitums. Ein Teil der revolutionären Narodniki-Intelligenz wandte sich dem Marxismus zu, ein anderer Teil ging ins Lager des bürgerlichen Reformertums und des Liberalismus über. Es gab dann ein legales und liberalesNarodnikitum“. [Ausgewählte Werke, Band 2]

Die in der Bauernschaft durch die Reform von 1861 geschaffene Lage erzeugte in den unteren Schichten der Intellektuellen, Söhnen von unteren Beamten, Lehrern, unteren Geistlichen, Bauern eine revolutionäre Stimmung und das Bestreben, gegen den Absolutismus zu kämpfen. Diese revolutionären Intellektuellen verkündeten den Gedanken der Bauernrevolution und eines utopischen Agrarsozialismus; beides sollte Russland den Weg der kapitalistischen Entwicklung ersparen. In den 70er Jahren waren die breiten Kreise der studierenden Jugend und der jüngeren Intelligenz von diesen Ideen des Narodnikitums erfasst. Es begann das sogenannte „Ins-Volk-Gehen“. Hunderte von Intellektuellen gaben das Studium und die Berufslaufbahn auf, verließen Haus und Familie, zogen Arbeiter- und Bauernkleider an, gingen aufs Land und leisteten kulturelle und propagandistische Arbeit. Da „Volk“ auf russisch „Narod“ heißt, wurden die Anhänger dieser Bewegung „Narodniki“ genannt. Die absolutistische Regierung beantwortete diese Erscheinungen mit ausgedehnten Verfolgungen; eine Massenbewegung ging aus ihr nicht hervor, die Bauernschaft erhob sich nicht. Aber die Jugend, die ins Volk gegangen war, wurde dadurch auf dem revolutionären Wege weiter getrieben. [Lenin, Ausgewählte Werke Band 3, Anm. 21]

Die „Sozialrevolutionäre“ und die „Volkssozialisten“ waren die Epigonen der alten bäuerlich-kleinbürgerlichen russischen revolutionären Bewegung der sogenannten Narodniki, welche Bezeichnung von dem russischen Worte „Narod“, deutsch: Volk, stammt. Diese revolutionäre Bewegung entstand auf Grund der Enttäuschung und Empörung der Bauernmassen nach der sogenannten „Bauernbefreiung“ von 1861, die die Leibeigenschaft in anderen Formen zum großen Teil aufrechterhielt und den Bauern gewaltige Zahlungen aufbürdete. Dazu kam später noch die weitere Verelendung der Bauern durch die in Russland auch auf dem flachen Lande einsetzende kapitalistische Entwicklung. Träger des Narodnikitums waren die kleinbürgerlichen Intellektuellen, seine Ideologie war ein utopischer Agrarsozialismus, verbunden mit dem Gedanken einer Bauernrevolution, die, unter Umgehung des kapitalistischen Weges der Entwicklung, Russland direkt zum Sozialismus führen sollte. Diese revolutionäre Bewegung war besonders stark in den 70er Jahren, doch wurde aus ihr niemals eine Massenbewegung. Die Narodniki gründeten 1879 die erste revolutionäre Partei in Russland, die sich Land und Freiheit“ nannte, aber sich bald spaltete, da die Enttäuschung ob des Ausbleibens einer revolutionären Massenbewegung und der Bauernrevolution den einen Teil der Narodniki auf den Weg des individuellen Terrors gegen die Vertreter des Zarismus brachte. Es bildete sich die terroristische Partei „Volkswille“, die auch unter den Arbeitern revolutionäre Propaganda betrieb. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 6, Anm. 12]

Narodniki (Volkstümler): revolutionäre Bewegung in Russland in den 1870er Jahren. „Die Intelligenz, die ein Produkt des Zerfalls der alten Stände war, fand weder hinreichend Nachfrage nach ihrer Arbeit noch einen Wirkungsbereich für ihren politischen Einfluss. Sie brach mit dem Adel, der Bürokratie, der Geistlichkeit, mit ihrem müßigen Leben und ihren sklavenhalterischen Traditionen. Aber sie suchte auch keinen Anschluss an die noch allzu primitive und rohe Bourgeoisie. Sie betrachtete sich als sozial unabhängig und erstickte gleichzeitig beinahe in den Klauen des Zarismus. (…) Seit den sechziger Jahren hatte sie sich eine Theorie zu eigen gemacht, wonach die Vorwärtsbewegung der Menschheit das Ergebnis des kritischen Denkens sei; wer aber konnte denn als Träger ders kritischen Denkens auftreten, wenn nicht sie, die Intelligenz? Da sie gleichzeitig ihre geringe Zahl und ihre Isolierung fürchtete, war die Intelligenz genötigt, zur großen Gebärde, der Waffen der Schwachen, Zuflucht zu nehmen: Sie sagte sich los von sich selbst, um desto mehr Recht zu haben, im Namen des Volkes zu sprechen und zu handeln (…). Aber Volk war gleichbedeutend mit der Bauernschaft. (…) Die Anbetung der Bauernschaft und der Dorfgemeinschaft durch die Volkstümler wurde zur Kehrseite des maßlosen Anspruchs des „geistigen Proletariats“ auf die Rolle des wichtigsten, wenn nicht einzigen Hebels des Fortschritts. Die Geschichte der russischen Intelligenz spielt sich zwischen diesen beiden Polen ab: der Selbsterniedrigung und dem Hochmut, dem kurzen und dem langen Schatten ihrer sozialen Schwäche. (…) Schon die ersten revolutionären Gruppen stellten sich die Aufgabe, einen Bauernaufstand vorzubereiten. (…) Die nach einer kurzen Atempause im Jahre 1873 wiederauflebende Bewegung nimmt den Charakter eines chaotischen massenweisen Ins-Volk-Gehen der Intelligenz an. Junge Leute, vor allem ehemalige Studenten und Studentinnen, insgesamt gegen tausend, trugen die sozialistische Propaganda in alle Teile des Landes (…). Der schicksalhafte Ablauf der Verhältnisse wollte es, dass das Dorf, das fast während der ganzen Geschichte Russlands in Aufruhr war, gerade dann still wurde, als sich die Stadt für das Dorf zu interessieren begann (…). Das Dorf empfing die Propagandisten nicht nur nicht mit offenen Armen, sondern wies sie feindselig ab. Diese Tatsache führte zum dramatischen Verlauf der revolutionären Bewegung der siebziger Jahre und zu ihrem tragischen Ende.“ (Trotzki, Der junge Lenin, a.a.O., S. 35f., 38f., 40)

Narodniki („Volkstümler“): Revolutionäre Strömung in Russland vor allem ab den 1870er Jahren, die in der Bauernschaft die wichtigste revolutionäre Kraft sah. Aus ihr entstanden 1879 die Organisation Narodnaja Wolja (Volkswille), die u.a. die Exekution des Zaren Alexander II. 1881 organisierte und 1901 die Partei der Sozialrevolutionäre.

Narodniki – etwa „Volkstümler" (Narod – Volk). Ursprünglich die russischen revolutionären Intellektuellen, die Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts „ins Volk gingen", um als Handwerker, Tagelöhner u. dgl. unter dem Volke zu leben und revolutionäre Ideen zu verbreiten; später – und insbesondere im vorliegenden Band – allgemein die Anhänger der auf diesem Boden entstandenen antimarxistischen kleinbürgerlich-revolutionären Ideologie, des sog. „Narodnitschestwo", die auf die Eigenart der russischen Wirtschaftsverhältnisse pochend, die Möglichkeit und Notwendigkeit einer nichtkapitalistischen Entwicklung Russlands behaupteten. Vgl. die gründliche Analyse des Wesens der Narodniki im Aufsatz von Lenin, „Welches Erbteil lehnen wir ab?".

Die Volkstümlerbewegung war Ausdruck der kleinbürgerlichen bäuerlichen Demokratie in Russland (Narodnitschestwo). Sie war eine Spielart des utopischen Sozialismus. Die soziale Quelle der Volkstümlerbewegung war der Kampf der russischen Bauernschaft für die Beseitigung der Leibeigenschaft und für die Übergabe der Ländereien der Gutsbesitzer an die Bauern. Die widersprüchliche Lage des Kleinproduzenten unter den Bedingungen des sich entwickelnden Kapitalismus fand ihren Ausdruck in zwei unterschiedlichen Tendenzen der Volkstümlerbewegung – der demokratischen und der liberalen. Für die demokratische Tendenz war charakteristisch: der Glaube an die bäuerlich-sozialistische Revolution und das Bemühen, die Volksmassen in den Kampf gegen Leibeigenschaft und Absolutismus zu führen. Für die liberale Tendenz: die Anpassung der sozialistischen Ideale an die Interessen des Kleineigentümers, die Angst vor radikalen Umwälzungen, das Suchen nach einem Kompromiss mit den herrschenden Klassen. Begründer der Volkstümlerbewegung waren Herzen und Tschernyschewski in den Jahren von 1850-60 des 19. Jahrhunderts. Die revolutionäre Volkstümlerbewegung in den siebziger, Anfang der achtziger Jahre ist als Vorläuferin der revolutionären proletarischen Bewegung in Russland anzusehen (Lawrow, Bakunin, Tkatschow u. a.). Vertreter der liberalen Volkstümlerbewegung (80er bis 90er Jahre) waren Michailowski, Woronzow, Kriwenko, Juschakow und andere. (Vgl. Philosophische Enzyklopädie. Bd. 3, Moskau 1964, Seite 538/542 [russ.]; vgl. auch Anmerkung VI, 115, Bd. 3). [N. K. Krupskaja, Sozialistische Pädagogik Bd. 4, Anm. VIII, 13]

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