III. 4. Verfall des Systems der Abarbeit

4. Verfall des Systems der Abarbeit

In welchem Verhältnis steht nun das System der Abarbeit zur russischen Wirtschaft nach der Reform?

Zunächst verträgt sich die wachsende Warenwirtschaft nicht mit dem System der Abarbeit, das auf Naturalwirtschaft, starrer Technik und unzertrennlicher Verbindung zwischen Gutsbesitzer und Bauer beruht. So kann dieses System nicht zur vollen Herrschaft gelangen, und jeder weitere Schritt der Warenwirtschaft und der landwirtschaftlichen Marktproduktion muss die Existenzbedingungen der Abarbeit untergraben.

Weiter ist folgender Umstand zu beachten. Nach dem Bisherigen zerfällt die Abarbeit in der heutigen Gutswirtschaft in zwei Arten; 1. Abarbeit, die nur von selbständigen Bauernwirten mit eigenem Arbeitsvieh und Inventar geleistet werden kann (z. B. Bestellung einer „Nester"-Desjatine, Aufpflügen usw.); 2. Abarbeit, die auch von Landproletariern ohne eigenes Inventar ausgeführt werden kann (z. B. Getreide und Heu mähen, dreschen usw.). Offenbar besitzt die Abarbeit der ersten und zweiten Art, sowohl für den Bauer wie für den Gutsbesitzer eine entgegengesetzte Bedeutung; in der zweiten Art vollzieht sich fast unmerklich unter verschiedenen Formen der direkte Übergang zum Kapitalismus. Unsere Literatur spricht gewöhnlich über Abarbeit überhaupt und unterlässt diese Scheidung. Indes ist für die Ersetzung der Abarbeit durch den Kapitalismus die Verlegung des Schwergewichts von der ersten auf die zweite Art der Abarbeit von größter Bedeutung. Nehmen wir ein Beispiel aus der „Sammlung statistischer Daten" für das Gouvernement Moskau:

Auf den meisten1 Gütern... verwendet man ständige Arbeiter bei der Bestellung der Felder und der Aussaat, d. h. bei den Arbeiten, von deren sorgfältiger Ausführung das Ernteergebnis abhängt, während die Ernte, d. h. die Arbeiten, bei denen Rechtzeitigkeit und Schnelligkeit der Verrichtung entscheidend ist, den umwohnenden Bauern gegen Geldzahlung oder Nutzland übertragen wird" (Bd. V, Lief. 2, S. 140).

In solchen Wirtschaften wird die Mehrzahl der Arbeitskräfte mittels der Abarbeit herangezogen, doch hat das kapitalistische System zweifellos das Übergewicht, und die „umwohnenden Bauern" werden im Grunde genommen in landwirtschaftliche Arbeiter in der Art der „kontraktlichen Tagelöhner" Deutschlands verwandelt, die ebenfalls Land besitzen und sich ebenfalls für einen bestimmten Teil des Jahres verdingen (siehe oben, S. 141, Anmerkung). Die enorme Abnahme des Pferdebestandes der Bauern und die Zunahme der pferdelosen Höfe nach den Missernten der neunziger JahreA musste die Verdrängung der Abarbeit durch das kapitalistische System erheblich beschleunigen.B

Schließlich ist noch die bäuerliche Zersetzung als Hauptursache des Zerfalls des Systems der Abarbeit hervorzuheben. Der Zusammenhang der Abarbeit (der ersten Art) mit der mittleren Bauerngruppe ist a priori klar und ergibt sich auch, wie schon bemerkt, aus der Semstwostatistik. So bringt z. B. die Sammlung stat. Daten für den Kreis Sadonsk, Gouvernement Woronesch, Angaben über die Zahl der Wirtschaften in den einzelnen Bauerngruppen, welche Akkordarbeit übernommen haben. Nachstehend diese Angaben in Verhältniszahlen:

Gruppen

Landwirte, die Akkordarbeiten übernehmen, in % aller Landwirte der betreffenden Gruppe

In % der Gesamtzahl

Höfe insgesamt

Höfe, die Akkordarbeiten übernehmen

ohne Pferd

9,92

24,5

10,5

mit einem Pferd

27,4

40,5

47,5

mit 2–3 Pferden

29

31,8

39,6

mit 4 Pferden

16,5

3,2

2,3

Insgesamt

23,3

100

100

Die Akkordarbeit ist also in den beiden extremen Gruppen schwächer, bei den Mittelbauern am stärksten vertreten. Nachdem wir im vorigen Kapitel typische „Erwerbsformen" der unteren und oberen Bauerngruppen kennengelernt haben, sehen wir in diesen Arbeiten, die von der Semstwostatistik häufig in der allgemeinen Rubrik „Erwerb" aufgeführt werden, eine typische Erwerbsform der Mittelbauern. Die früher behandelten Erwerbsarten kennzeichnen die Entwicklung des Kapitalismus (Handels- und Industriebetriebe, sowie Verkauf der Arbeitskraft), die vorliegenden Ziffern dagegen einen gering entwickelten Kapitalismus und das Überwiegen der Abarbeit (bei der Annahme, dass die „Akkordarbeit" überwiegend aus solchen Arbeiten besteht, die wir als Abarbeit erster Art bezeichnet haben).

Je weiter der Verfall der Naturalwirtschaft und der mittleren Bauernschaft fortschreitet, in desto stärkerem Maße muss die Abarbeit durch den Kapitalismus verdrängt werden. Die vermögende Bauernschaft kann natürlich nicht als Basis für das Abarbeitssystem dienen, da nur äußerste Not den Bauer zur Übernahme einer Arbeit zu zwingen vermag, die bei schlechtester Bezahlung seinen eigenen Wirtschaftsbetrieb zerstört. Aber auch das Landproletariat kommt hierfür nicht in Frage, wenn auch aus einem ganz anderen Grunde: der Landproletarier, der keinerlei eigene Wirtschaft führt oder nur ein winziges Stückchen Land besitzt, ist nicht in gleichem Maße an die Scholle gebunden, wie der „Mittelbauer", und kann sich daher erheblich leichter Erwerb in der Fremde suchen und „freie" Lohnarbeit mit höherer Bezahlung und ohne jede Verknechtung übernehmen. Daher auch die allgemeine Unzufriedenheit unserer Agrarier über die Abwanderung der Bauern in die Städte und über den „Verdienst in der Fremde" überhaupt, daher auch ihre Klagen über die ungenügende Bindung der Bauern an die Scholle (siehe unten, S. 208). Die Entwicklung der rein kapitalistischen Lohnarbeit trifft das System der Abarbeit an der Wurzel.C

Es ist im höchsten Grade bemerkenswert, dass dieser untrennbare – theoretisch durchaus einleuchtende – Zusammenhang zwischen der Zersetzung der Bauernschaft und der Verdrängung der Abarbeit durch den Kapitalismus von den Agrarschriftstellern, die sich mit den Wirtschaftsmethoden der Gutsherrschaften befassten, schon längst erkannt worden ist. Im Vorwort zu seinen gesammelten Aufsätzen über die russische Landwirtschaft (1857 bis 1882) sagt Professor Stebut:

In unserer bäuerlichen Gemeinde vollzieht sich eine Scheidung zwischen landwirtschaftlichen Unternehmern und Arbeitern. Die ersteren betreiben ausgedehnten Ackerbau, gehen dazu über Knechte zu halten und geben gewöhnlich die Akkordarbeit auf den Gütern auf, es sei denn, dass sie notwendig ein Stück Saatland oder Weideland für das Vieh gebrauchen, was sie meist nur gegen Abarbeit erhalten können; die letzteren können solche Arbeiten nicht übernehmen, da sie keine Pferde besitzen So ergibt sich der offenbare Zwang, die Wirtschaft mit Hilfe von Knechten zu führen, der umso dringender wird als die Bauern, die noch Abarbeit übernehmen, infolge Minderwertigkeit ihrer Pferde und Arbeitsüberlastung schlechte und unpünktliche Arbeit liefern" (S. 20)3

Hinweise darauf, dass der Verfall der Bauernschaft zur Verdrängung der Abarbeit durch den Kapitalismus führt, finden sich auch in der laufenden Semstwostatistik. Im Gouvernement Orel z. B. ruinierte der Fall der Getreidepreise viele Pächter und zwang die Grundbesitzer, ihre Gutswirtschaft auszubauen.

Parallel mit der Erweiterung der Gutswirtschaft ist überall die Tendenz zu beobachten, die Abarbeit durch Verwendung von Knechten zu ersetzen und sich von der Benutzung bäuerlichen Inventars freizumachen . die Tendenz die Feldbestellung durch Einführung verbesserter Ackergeräte zu vervollkommnen das Wirtschaftssystem zu ändern, Futterbau einzuführen die Viehhaltung zu erweitern und zu verbessern, ihr einen produktiven Charakter zu verleihen („Landwirtschaftliche Übersicht über das Gouvernement Orel" 1887/88, S. 124–126. Zitiert nach „Kritische Bemerkungen" von Peter Struve S. 242–244). Im Gouvernement Poltawa wurde 1890 bei niedrigen Getreidepreisen „ein Rückgang der Bauernpachten im ganzen Gouvernement festgestellt. „Dementsprechend vergrößerte sich an vielen Orten trotz des starken Fallens der Getreidepreise die Ackerwirtschaft der privaten Güter" ( Einfluss der Ernten usw.", Bd. I, S. 304).

Im Gouvernement Tambow ist eine starke Erhöhung der Preise für Pferdearbeit zu verzeichnen: 1892–1894 standen die betreffenden Preise um 25–30% höher als 1888–1891 („Nowoje Slowo", 1896, Nr. 3, S. 187)4 Diese Preiserhöhung ergab sich mit Notwendigkeit aus der Verarmung der Bauernwirtschaften an Pferden und musste natürlich die Verdrängung der Abarbeit durch das kapitalistische System fördern.

Wir betrachten diese vereinzelten Beispiele natürlich nicht als vollen Beweis für die Verdrängung der Abarbeit durch den Kapitalismus: erschöpfende statistische Daten hierüber liegen nicht vor. Wir illustrieren hiermit nur den Zusammenhang zwischen Zersetzung der Bauernschaft und Verdrängung der Abarbeit durch den Kapitalismus. Den unwiderleglichen Beweis für diesen Verdrängungsprozess werden wir in der Massenstatistik über Maschinen Verwendung und Lohnarbeit in der Landwirtschaft finden. Vorher haben wir jedoch die Anschauungen der Narodniki-Ökonomen über die heutige Wirtschaft des russischen Privatgrundbesitzes zu berühren.

1 Von Lenin gesperrt.

A Die Pferdemusterung 1893-1894 zeigte in 48 Gouvernements eine Verminderung des Pferdebestandes bei allen Pferdebesitzern um 9,6% und eine Verminderung der Pferdebesitzer um 28 321 Personen. In den Gouvernements Tambow, Woronesch, Kursk, Rjasan, Orel, Tula und Nischni-Nowgorod betrug der Pferdeabgang von 1888-1893 insgesamt 21,2%. In sieben anderen Gouvernements des Schwarzerdegebietes belief sich der Abgang von 1891-1893 In 38 Gouvernements des Europäischen Russland waren 1888-1891 vorhanden: 7.922.260 Bauernhöfe, darunter mit Pferdebestand 5.736.436; 1893-1894 jedoch 8.288.987 Bauernhöfe, darunter mit Pferdebestand 5.647.233. Die Zahl der Höfe mit Pferdebestand sank demnach um 89.000, während die Zahl der pferdelosen Höfe um 456.000 zunahm. Der prozentuale Anteil der pferdelosen Höfe stieg von 27,6% auf 31,9% („Statistik des Russ. Reiches", Bd. XXXVII, Petersburg 1896). (Oben haben wir gezeigt, dass in 48 Gouvernements des Europäischen Russland die Zahl der pferdelosen Höfe von 2,8 Mill. 1888-1891 auf 3,2 Mill. 1896-1900 stieg, d. h. von 27,3 auf 29,2%. In den vier südlichen Gouvernements (Bessarabien, Jaketarinoslaw, Taurien, Cherson) wuchs die Zahl der Höfe ohne Pferd von 305.800 im Jahre 1896 auf 341.600 im Jahre 1904 oder von 34,7% auf 36,4 %.)

B Vgl. auch S. A. Korolenko „Freie Lohnarbeit usw." (S. 47), wo auf Grund der Pferdemusterungen von 1882 und 1888 Beispiele angeführt werden, wonach die Verminderung des Pferdebestandes bei den Bauern von einer Vermehrung bei den privaten Grundeigentümern begleitet ist.

2 In der ersten und zweiten Auflage stand „9,2"; da jedoch die absoluten Zahlen der Quelle (384 und 3851) 9,9% ergeben, so wird in der vorliegenden Ausgabe letztere Zahl wiedergegeben.

C Ein besonders anschauliches Beispiel bietet die Semstwostatistik des Kreises Bachmut, Gouvernement Jekaterinoslaw. Die dortigen Statistiker erklären die verschiedene Verbreitung der Geldpacht und der Naturalpacht in den einzelnen Teilen des Kreises folgendermaßen:

Die stärkste Verbreitung hat die Geldpacht im Bezirk der Steinkohlen- und Steinsalzindustrie, die geringste in den rein landwirtschaftlichen Bezirken und im Steppengebiet. Die Bauern sind im Allgemeinen wenig geneigt, für fremde Rechnung zu arbeiten, am wenigsten aber die lästige und ungenügend bezahlte Arbeit auf privaten Gütern anzunehmen. Die Arbeit im Schacht und überhaupt im Grubenbetrieb und Bergbau ist schwer und gesundheitsschädlich, aber sie wird im allgemeinen besser bezahlt und lockt den Arbeiter durch die Perspektive monatlicher oder wöchentlicher Barlöhnung; bei der Gutsarbeit bekommt er Geld gewöhnlich überhaupt nicht zu sehen, da er dort entweder für ein Stückchen Land", „ein Bündelchen Stroh" oder „das liebe Brot" abarbeitet oder aber die ganze Geldsumme als Vorschuss zur Deckung seiner laufenden Bedürfnisse empfangen hat usw. Alles dies veranlasst den Arbeiter, die Arbeit auf den Gutsbetrieben zu meiden und andere Gelderwerbsmöglichkeiten zu suchen. Und eine solche Möglichkeit bietet sich am häufigsten dort, wo viele Bergwerke vorhanden sind, die gute Löhne zahlen. Wenn der Bauer seine „Groschen" im Schacht verdient hat, kann er Land pachten, ohne zur Abarbeit auf den Gütern gezwungen zu sein, und so gelangt die Geldpacht zur Herrschaft" (zitiert nach den „Ergebnissen der Semstwostatistik", Bd. II, S. 265). In den nichtindustriellen Steppenbezirken des Kreises behauptet sich die Skopschtschina (Pacht gegen Produktenanteil) und die Pacht gegen abarbeit.

Der Bauer flieht also vor der Abarbeit sogar in die Schächte! Die pünktliche Barzahlung, die unpersönliche Form der Dingung und die geregelte Arbeitsweise „locken" ihn derart, dass er sogar die unterirdischen Gruben: dem Ackerbau vorzieht, jenem Ackerbau, den unsere Narodniki so gern als Idyll schildern. Der Bauer hat eben an seiner eigenen Haut erfahren, was diese durch Agrarier und Narodniki idealisierte Abarbeit wert ist und wie gut im Vergleich zu ihr die rein kapitalistischen Verhältnisse sind.

3 Von Lenin gesperrt.

4 Diese Mitteilungen werden in der Korrespondenz von W. Tschernow „Aus Tambow" angeführt, die in der Zeitschrift „Nowoje Slowo" Nr. 3, Dezember 1895, erschien.

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