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Wladimir I. Lenin 19020716 Brief an I. I. Radtschenko I

Wladimir I. Lenin: Brief an I. I. Radtschenko1

[Geschrieben am 16. Juli 1902. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 189-195]

Lieber Freund! Vor allem beglückwünsche ich Sie (und Ihre Freunde) zu dem ungeheuren Erfolg: der Inangriffnahme der Reorganisierung des Ortskomitees. Sie kann zu einer Wendung in unserer ganzen Bewegung führen, und darum ist die Durchführung dieser Reorganisierung bis zu Ende die wichtigste und dringendste Aufgabe. Nehmen Sie sich nur sehr in acht, damit Sie nicht auffliegen, bevor Sie sie erfüllt haben.

Ich gehe zur Sache über. Sie bitten, Ihnen mit dem konkreten Entwurf eines Planes für die örtliche Arbeit im Zusammenhang mit der allgemeinen russischen Arbeit zu Hilfe zu kommen. Um Ihre Bitte sofort zu erfüllen, schreibe ich Ihnen vorläufig in meinem eigenen Namen (um die Angelegenheit nicht durch Anfragen bei den übrigen, jetzt an verschiedenen Ecken und Enden verstreuten Mitgliedern der Redaktion zu verzögern; vielleicht werden sie Ihnen später noch selber etwas hinzuschreiben). Ich bin nicht vollkommen sicher, Ihre Anfrage richtig verstanden zu haben. Meine Quellen sind jetzt: Ihr Brief vom 2/VI. und der Brief von 2a 3b über die beiden Zusammenkünfte (Sie, 2a 3b und Krassikow) mit Wanja (dem Petersburger Bund). Nach diesen Quellen (besonders nach der zweiten) zu urteilen, hat sich „Wanja jetzt als unser Gesinnungsgenosse erwiesen, der die Mängel seiner früheren Haltung offen bekennt". Davon ausgehend, werde ich mich im weiteren in diesem Brief sowohl an Sie wie an Wanja wenden, und ich überlasse es vollkommen Ihrem Gutdünken, diesen Brief sofort oder später an Wanja (und Manja = die Arbeiterorganisation) weiterzugeben, ihn ganz so, wie er ist, zu lassen, oder einige Verbesserungen vorzunehmen, die ich, wenn sie notwendig sein sollten, ebenfalls Ihnen zu machen überlasse (indem Sie uns, nach Möglichkeit natürlich, von diesen Verbesserungen in Kenntnis setzen).

Streng gesprochen, kann ich Ihnen natürlich jetzt nicht den „konkreten Entwurf eines Planes für die örtliche Arbeit im Rahmen der allgemein-russischen Arbeit" geben: diese Aufgabe ist für mich unerfüllbar ohne eine Reihe eingehender Besprechungen mit Wanja und Manja. Alles, was ich machen kann, ist, anzugeben, welche praktischen Schritte sofort und vor allem von Wanja zu machen sind, wenn er einmal ein neuer Wanja geworden ist oder es wirklich werden will. Ich denke, dass die Schritte, die Ihr alle in der zweiten Zusammenkunft mit Wanja ins Auge gefasst habt (und die der Brief von 2a 3b schildert), vollkommen richtig sind. Ich bin vollkommen damit einverstanden, dass „die erste Sache sein muss, sich offen als Anhänger bestimmter Anschauungen zu bekennen". Das ist tatsächlich das erste, was zu machen ist, und man kann es nur in einer offenen Erklärung tun. Ich weiß sehr gut, dass die meisten oder viele Genossen Wanjas (d. h. die Komitees und ihre Mitglieder) ein starkes Vorurteil gegen derartige offene Erklärungen haben oder zumindest solche zu geben nicht gewohnt sind. Dieser Zug ist vollkommen verständlich vom Standpunkte des bereits zurückgelegten Abschnitts der Bewegung und der bereits zurückgewiesenen Fehler. Aber gerade weil Wanja eine so wichtige Stellung einnimmt, gerade weil er sich früher offen zu seinen alten, entschieden von den „iskristischen" abweichenden, Ansichten bekannt hatte, – gerade darum möchte ich den Genossen (– Wanja) besonders warm empfehlen, das Ungewohnte in Kauf zu nehmen und dieses Vorurteil zu überwinden. Unsere örtliche Arbeit litt bisher vor allem unter der Beschränktheit und Isoliertheit, unter dem Umstand, dass die örtlichen Führer nicht aktiv und entschlossen an die Ausarbeitung der allgemeinen Parteifragen herangehen wollten. Möge also Wanja, wenn er zu den Anhängern der revolutionären Sozialdemokratie übergeht, mit dieser Überlieferung sofort brechen und laut und vernehmlich erklären, dass seine grundlegenden theoretischen Ansichten und organisatorischen Gedanken soundso sind, dass er jetzt selber an die Verwirklichung dieser Gedanken herangeht und auch alle übrigen Komitees dazu auffordert. Diese Erklärung wird von gewaltiger Bedeutung sowohl für Wanja wie für ganz Russland sein, sie wird an und für sich schon ein großes Ereignis sein. Man darf keine Angst haben, die alten Freunde Wanjas zu beleidigen, die anderen Ansichten huldigten: jeder Schatten einer Beleidigung wird hier gerade darum verschwinden, weil Wanja selber offen und aufrichtig anerkennen wird, dass die Umstände und die Erfahrung ihn von der Unrichtigkeit seiner früheren, so oder anders mit dem Ökonomismus zusammenhängenden theoretischen Ansichten, taktischen Grundsätze und Organisationspläne überzeugt haben. Darin wird auch kein Schatten eines Angriffs auf die alten Ansichten liegen, sondern es wird eine einfache Anerkennung der eigenen Entwicklung sein. Die Aufrichtigkeit dieses Bekenntnisses wird zehnmal mehr Einfluss auf die tatsächliche Vereinigung aller russischen Sozialdemokraten und auf die völlige Einstellung der „Polemik" zwischen ihnen ausüben als hundert Proteste gegen die „Polemik".

Also, vor allem und in erster Linie: eine offene gedruckte Erklärung (im Ortsblättchen oder in der „Iskra", am besten hier und dort). Dieser Schritt darf auf keinen Fall auch nur um eine Woche verschoben werden, denn ohne ihn können sich leicht alle übrigen Schritte als ergebnislos erweisen (Verhaftungen usw.), ist er aber getan, so wird sofort ein neuer Weg festgelegt.

Was müsste in dieser Erklärung stehen? Wenn Wanja mich kameradschaftlich um Rat fragte (aber natürlich nicht, bevor er mich fragt), so würde ich antworten: 1. Anerkennung des Verzichts auf die alten (theoretischen, taktischen, organisatorischen) Anschauungen mit einer ganz allgemeinen Kennzeichnung dieser Anschauungen (möglichst in ein bis zwei Worten). 2. Bekenntnis zum Übergang in das Lager der „Iskra"-Anhänger, zu ihren theoretischen, taktischen und organisatorischen Ansichten, Anerkennung der „Iskra" als führendes Organ (NB.: führend heißt keineswegs, dass man mit ihm unbedingt in allem einverstanden sein müsse. Es heißt eben nur, dass man mit den leitenden Grundsätzen eines bestimmten Organs einverstanden ist. Diese Anerkennung ist vollkommen vereinbar mit dem Hinweis auf einzelne Meinungsverschiedenheiten, wenn sie vorhanden sind, und mit dem Hinweis darauf, dass ich bestimmte Änderungen wünsche und dass ich, der jetzige Anhänger der „Iskra", sie durchführen, dass ich in ihr, in der „Iskra", diese Änderungen anstreben werde). 3. Forderung in erster Linie der Vereinigung, vielmehr der wirklichen Wiederherstellung der einheitlichen russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei mit Hilfe gemeinsamer Arbeit, die mit der Gruppierung um die „Iskra" beginnen muss, um diese zu einem Werkzeug der tatsächlich im ganzen Volk betriebenen Agitation zu machen, und die (die Arbeit) zur Gründung einer allgemein-russischen Kampforganisation führen muss, die fähig wäre, einen entschiedenen Ansturm auf den Absolutismus zu unternehmen. 4. Anerkennung (die Wanja bereits gemacht, aber noch nicht veröffentlicht hat) der Notwendigkeit, die Verfassung und den Verkehr zwischen Wanja und Manja (ihre Beziehungen usw.) neu zu organisieren, Verkündung (sozusagen) einer Revision der Verfassung. 5. Anerkennung der Notwendigkeit, sich enger mit der russischen „Iskra"-Organisation zu verbinden und sich mit ihr zu verschmelzen , um die Aufgaben durchzuführen, die von nun an die gemeinsamen Aufgaben Wanjas und dieser Organisation sind. 6. Beauftragung eines oder mehrerer (vielleicht von Wanja und von Manja usw.) Mitglieder des Petersburger Komitees mit der Aufgabe, sofort an die praktische Verwirklichung des Obengesagten, d. h. an die Verschmelzung mit der „Iskra" und an die Vereinigung der Partei heranzugehen.*

Natürlich darf der letzte von diesen 6 Punkten, vielleicht auch noch dieser oder jener andere Punkt, auf keinen Fall veröffentlicht werden. Die Erklärung könnte geradezu sagen, dass diese (oder „die weiteren") Punkte aus konspirativen Gründen nicht veröffentlicht werden können. Aber ich wiederhole: wenn Wanja tatsächlich unser Anhänger geworden ist, so darf er diese Erklärung um keine Woche verschieben.

In dieser Konferenz der Delegierten des Petersburger Komitees mit Sonja (der russischen „Iskra"-Organisation) und mit der „Iskra"-Redaktion (im Ausland) wird dann bereits der wirkliche konkrete Plan nicht nur der Neugestaltung der Petersburger Arbeit, sondern der unmittelbaren Vereinigung der Partei, der Bildung des Organisationskomitees zur Vorbereitung des 2. Parteitages usw. usw. ausgearbeitet werden.

Weiter wurde in Eurer zweiten Konferenz in Aussicht genommen, „vor der Durchführung des erwähnten Planes (im Juli Delegierte ins Ausland zu entsenden) zunächst die Lage in den verschiedenen Gegenden unseres ausgedehnten Vaterlandes kennen zu lernen, um für die Verhandlungen auf dem Parteitag eine Grundlage zu haben". Diesen Beschluss (das sage ich offen) betrachte ich als einen Fehler, und ich möchte raten, ihn fallen zu lassen. Das heißt die Sache hinausziehen und hinter zwei Hasen her jagen. Fangen wir zunächst den ersten: verständigen wir uns (wir und Wanja) miteinander. Das wird schon einer vollständigen Übereinstimmung zwischen Wanja und Sonja entsprechen. Angesichts einer solchen Übereinstimmung aber wird die weitere praktische Aufgabe (Bereisen Russlands) von Wanja Sonja (+ oder =?) ganz leicht erfüllt werden. Jetzt aber zuviel auf einmal zu unternehmen, hat keinen Sinn: zunächst (1) wollen wir Wanja und Manja endgültig überzeugen, dann (2) verkünden wir laut und deutlich unsern Standpunkt2, weiter (3) verständigen wir uns sofort mit der „Iskra" (im Auslande, wo die „Iskra" bereits über eine ganze Sammlung von Angaben über die Sachlage in den verschiedenen Gegenden des ausgedehnten Vaterlandes verfügt: missachtet diese Sammlung nicht, Genossen!), und (4) mit Sonja, und dann kann man (5) Russland bereisen mit dem unmittelbaren Ziel der tatsächlichen Vereinigung der Arbeit (und der Einberufung des allgemeinen Parteitages).

Da haben Sie, wenn Sie wollen, den „konkreten Entwurf eines Planes" für die nächsten praktischen Aufgaben. Wenn Punkt 2 mit Schwierigkeiten verbunden ist, so kann man Punkt 3 an die erste Stelle setzen (das wird natürlich eine gewisse Verzögerung, aber unter bestimmten Bedingungen eine unvermeidliche Verzögerung bedeuten). Doch muss um jeden Preis sowohl auf 2 wie auf 3 bestanden werden. Dabei ist es äußerst wichtig, dass die Mitglieder Wanjas, die hierher kommen, mit möglichst weitgehenden Vollmachten ausgestattet sind, dass es, wenn möglich, zwei sind und nicht nur eines (obgleich das schon ganz von den örtlichen Verhältnissen abhängt und Sie das besser beurteilen können).

Damit kann ich wohl schließen. Schreiben Sie bitte rasch Ihre Meinung: habe ich Ihre Frage richtig verstanden? Ist mein „konkreter Plan" durchführbar? usw. Ich hege einige Befürchtungen, dass die Dinge noch nicht ganz so gut stehen, dass Wanja noch kein unbedingter Anhänger ist. Besonders verdächtig ist, dass man Manja bisher noch „Was tun?" nicht gegeben hat. Es wäre gut, die Konferenz mit Wanja in pleno (d. h. in vollständiger Zusammensetzung des Petersburger Komitees) zu wiederholen: das wäre äußerst wichtig für die genaue Feststellung, ob Gegner vorhanden und wer sie sind, auf welche Punkte sie sich hauptsächlich stützen. Ebenso wichtig wäre Ihre unmittelbare Zusammenkunft mit Manja. Beschleunigen Sie die Reise Wanjas (es wäre gut, wenn auch Manja!) hierher, so sehr es nur geht und um jeden Preis (sie müssen direkt nach London fahren: geben Sie ihnen unbedingt die Londoner Adresse und außerdem für jeden Fall die belgische Adresse Meschtscherjakows). Wenn Ihr das erreicht, so wird es schon ein ungeheurer Erfolg sein, der die Früchte Ihrer Arbeit sichert, selbst wenn Sie jetzt vollständig auffliegen sollten. Vergessen Sie nicht, dass ein solches Auffliegen sehr möglich ist und dass man sich darum einen wirklichen ersten Schritt die Erklärung, die Reise) unbedingt möglichst rasch und ohne Verzögerung sichern muss.

Wenn Wanja tatsächlich vollkommen einer von den Unsrigen wird, dann werden wir in mehreren Monaten den 2. Parteitag veranstalten und die „Iskra" zu einem zweiwöchentlich oder auch wöchentlich erscheinenden Parteiblatt machen. Geben Sie sich Mühe, Wanja zu überzeugen, dass wir nicht daran denken, von der örtlichen Arbeit abzuschwenken, dass Petersburg ein „Ort" ist, der auch unmittelbar allgemein-russische Bedeutung hat, dass die Verschmelzung Wanjas mit Sonja die örtliche Arbeit ungeheuer stärken und gleichzeitig die ganze Partei aus dem halb illusorischen Zustand hinausführen und sie auf die Stufe nicht nur der Tatsächlichkeit, sondern auch einer Macht von erstwichtiger Bedeutung heben wird.

Ich drücke fest Ihre Hand.

Ihr Lenin

1 Die Briefe Lenins an I. I. Radtschenko fallen in die Periode, in der die „Iskra" um die Eroberung der Petersburger Organisation kämpfte, in der die Traditionen des Ökonomismus besonders stark waren. Die Aufgabe der „Iskra"-Leute in Petersburg bestand darin, erstens, zu erreichen, dass die Petersburger Sozialdemokraten die „Iskra" als führendes Organ anerkannten; zweitens, die Petersburger Organisation organisatorisch auf das Prinzip des strengsten Zentralismus umzustellen, die Wählbarkeit zu beseitigen und vor allem die veraltete Einteilung des Komitees in einen „proletarischen" und einen „nichtproletarischen" Teil, in das eigentliche „Komitee" und das „Komitee der Arbeiterorganisation", aufzuheben. Mit der Aufgabe, die Petersburger Organisation ideologisch zu gewinnen und sie zu reformieren, waren hauptsächlich I. I. Radtschenko, P. N. Lepeschinski (2a 3b) und Р. A. Krassikow betraut, deren Arbeit, mit Hilfe von Briefen, Lenin leitete. Die Pläne der Iskristen stießen auf den erbitterten Widerstand der Ökonomisten, an deren Spitze A. S. Tokarew (Wyschibalo) stand, der gerade im Juni 1902 aus dem Gefängnis entlassen wurde (siehe den Anfang des zweiten Briefes Lenins an Radtschenko).

Lenin benutzt in den konspirativen Briefen verabredete Bezeichnungen: „Wanja", „Manja" usw. und deckt sofort ihre Bedeutung auf: Wanja ist der Petersburger Bund, Manja – die Arbeiterorganisation. Das erklärt sich dadurch, dass der Originalbrief Lenins in der Redaktion der „Iskra" blieb, der Brief wurde von der Redaktionssekretärin, N. Krupskaja, abgeschrieben, die entsprechenden Stellen chiffriert und in dieser konspirativen Form an den Adressaten abgesandt.

Die in dem Brief erwähnte „Sonja" – die russische Organisation der „Iskra" – war vertreten durch G. und S. Krschischanowski, die sich in Samara aufhielten.

* Das (§ 6) ist auch schon tatsächlich auf Eurer zweiten Konferenz beschlossen worden: Entsendung ins Ausland zu einer endgültigen Verständigung.

2 „Standpunkt" bei Lenin deutsch. Die Red.

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