Lenin‎ > ‎1902‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19020200 Was tun?

Wladimir I. Lenin: Was tun?

Brennende Fragen unserer Bewegung1

Dass die Parteikämpfe gerade einer Partei Kraft und Leben geben, dass der größte Beweis der Schwäche einer Partei das Verschwimmen derselben und die Abstumpfung der markierten Differenzen ist, dass sich eine Partei stärkt, indem sie sich puriflziert, davon weiß und befürchtet die Behördenlogik wenig."

(F. Lassalle in einem Briefe an Marx vom 24. Juni 1852.)

[Geschrieben Herbst 1901 bis Februar 1902. Zum ersten Mal veröffentlicht als Broschüre im März 1902 im Verlag J. H. W. Dietz, Stuttgart und „Iskra" Nr. 19, 1. April 1902. Nach Sämtliche Werke, Band 4.2, Wien-Berlin 1929, S. 125-346]

Vorwort

I. Dogmatismus und „Freiheit der Kritik"

a) Was heißt „Freiheit der Kritik"? - b) Die neuen Verteidiger der „Freiheit der Kritik" - c) Die Kritik in Russland - d) Engels über die Bedeutung des theoretischen Kampfes

II.Spontaneität der Massen und Zielbewusstheit der  Sozialdemokratie

a) Der Beginn des spontanen Aufschwungs - b) Die Anbetung der Spontaneität – „Rabotschaja Mysl" - c) Die „Gruppe der Selbstbefreiung" und das „Rabotscheje Djelo"

III. Trade-unionistische und sozialdemokratische Politik

a) Die politische Agitation und ihre Einschränkung durch die Ökonomisten - b) Wie Martynow Plechanow vertieft hat - c) Die politischen Enthüllungen und „die Erziehung zur revolutionären Aktivität" - d) Was hat der Ökonomismus mit dem Terrorismus gemein? - e) Die Arbeiterklasse als Vorkämpfer der Demokratie - f) Noch einmal die „Verleumder", noch einmal die „Mystifikatoren"

IV. Die Handwerklerei der Ökonomisten und die Organisation der Revolutionäre

a) Was ist Handwerklerei? - b) Handwerklerei und Ökonomismus - c) Organisation der Arbeiter und Organisation der Revolutionäre -  d) Der Umfang der Organisationsarbeit - e) Die „Verschwörer"-Organisation und der „Demokratismus" - f) Die örtliche und die allgemein-russische Arbeit

V. Der „Plan" einer allgemein-russischen politischen Zeitung

a) Wer hat den Artikel „Womit beginnen?" übelgenommen - b) Kann eine Zeitung ein kollektiver Organisator sein? - c) Welchen Typus der Organisation brauchen wir

Schlusswort

Beilage – Versuch einer Vereinigung der „Iskra" mit dem „Rabotscheje Djelo

Korrektur zu „Was tun?"

1 Die Broschüre „Was tun?", die ein Dokument von außerordentlicher Bedeutung für die damalige Periode des Bolschewismus ist, und die auf die Entwicklung der revolutionären Sozialdemokratie einen außergewöhnlich großen Einfluss ausübte, war von Lenin bereits im Frühjahr 1901 geplant. Schon im Artikel „Womit beginnen?", der in Nr. 4 der „Iskra" (Mai) veröffentlicht wurde, teilte Lenin den Lesern mit, dass dieser Artikel „der Entwurf eines Planes ist, den wir in einer Broschüre, die für den Druck vorbereitet wird, ausführlicher entwickeln wollen". Diese Broschüre ist eben „Was tun?". Im Frühjahr jedoch konnte es sich bei der Bearbeitung der Broschüre – in Anbetracht der Überlastung Lenins mit organisatorischer und mit literarischer Arbeit für die „Iskra" und die „Sarja" – wohl kaum um mehr als nur um das einfache Sammeln von Material handeln. Offenbar ist Lenin erst am Ende des Jahres, in den Monaten November und Dezember, daran gegangen, die Broschüre zu schreiben.

Im Vorwort zu den Dokumenten der „Einigungs-Konferenz", das im November geschrieben wurde (und im Dezember erschien), teilte Lenin bereits mit, dass die Broschüre „binnen kurzer Zeit" erscheinen würde; in dem Artikel „Unterhaltung mit den Verteidigern des Ökonomismus" (Nr. 12 der „Iskra" vom 6. Dezember 1901) wird der Termin für das Erscheinen der Broschüre noch genauer angegeben: „Die Broschüre – hofft Lenin – wird in ungefähr anderthalb Monaten erscheinen." Tatsächlich erschien die Broschüre „Was tun?" etwa am 20. März 1902; in Nr. 18 der „Iskra" (vom 10. März alten Stiles) wird von der Broschüre als von einer „soeben erschienenen" gesprochen.

In der vorhandenen Literatur gibt es keine genauen Hinweise über die Stellungnahme der Redaktionsmitglieder der „Iskra" zur Broschüre Lenins. Nur Äußerungen Potressows sind erhalten geblieben, der am 22. März an Lenin folgendes schrieb: „Zweimal nacheinander habe ich das Büchlein von Anfang bis zu Ende durchgelesen und kann seinen Verfasser nur beglückwünschen. Der allgemeine Eindruck ist ein vorzüglicher, – trotz der offenkundigen, vom Verfasser selbst festgestellten Eile, mit der die Arbeit geschrieben wurde. Beim Lesen fühlte ich, dass der Verfasser seinen ,Plan' lange mit sich herumgetragen und gründlich durchdacht hat. Ich zweifle nicht daran, dass die Broschüre einen großen Erfolg haben und die Rolle eines Organisators spielen wird. Nur sind vielleicht die ersten Kapitel etwas zu kurz gefasst, und hie und da hat der Verfasser im Kampf gegen die Spontaneität aus praktischen und polemischen Gründen – in Bezug auf das ,Bewusstsein' – etwas übertrieben. ,Die spontane Arbeiterbewegung ist Trade-Unionismus'. Ich glaube, dass das nicht ganz und nicht immer so ist. Bei embryonalen Formen der Arbeiterbewegung spuken schon häufig in den Köpfen ihrer Führer (und nicht nur der Führer) kommunistische Ideen herum, und der Kampf wird nicht für die ,Kopeke auf den Kübel geführt, sondern für die Vernichtung des Bestehenden, dem man hasserfüllt gegenübersteht. Sie betonen zu sehr das ,von außen', das zweifellos in der Geschichte des Sozialismus vorhanden ist, das aber mit der allgemeinen Ablehnung der Gesellschaftsordnung kollidiert, die innerhalb der Arbeiterklasse bereits besteht, und dieses ,von außen' ist mehr als irgendein ,Trade-Unionismus'. Der Trade-Unionismus entwickelt sich doch nur in einer besonderen sozialen Konjunktur. Gerade weil der Verfasser – aus praktischen Gründen – sich ,vereinfacht schroff' ausdrückt, muss er den Vorbehalt machen, dass er nicht beabsichtigt, in Paradoxen zu sprechen Abgesehen von diesen Einzelheiten aber ist die Broschüre – das wiederhole ich – ausgezeichnet. Die Analyse dessen, was trade-unionistische und was sozialdemokratische Politik ist, ist klar und überzeugend geschrieben in den letzten Kapiteln aber gewinnt der sachliche ,Plan' und die Analyse der ,Handwerklerei' geradezu poetische Ausdruckskraft (ich meine das ganz ernst).“ („Lenin-Sammelbuch'' III.) Es unterliegt keinem Zweifel, dass auch Martow sich voll und ganz mit „Was tun?“ solidarisierte. Von Plechanow und Axelrod ist nur bekannt, dass sie mit einzelnen Formulierungen der Broschüre unzufrieden waren, und dass Lenin auf Grund ihrer Hinweise einige Änderungen am Text vorgenommen hat. Man muss jedoch im Auge behalten, dass weder Plechanow noch Axelrod jemals von irgendwelchen ernsten Einwänden gegen die in der Broschüre „Was tun?" entwickelten Grundsätze gesprochen haben.

Eine allgemeine Beurteilung der Rolle und der Bedeutung der Broschüre „Was tun?“ gab Lenin im Jahre 1908 im Vorwort zum Sammelbuch „Zwölf Jahre“.

Die meisten Einwände der Gegner der „Iskra" rief Lenins These über das in die spontane Arbeiterbewegung „von außen hineingetragene" sozialistische Bewusstsein hervor. Die theoretische Diskussion über Programmfragen zwischen den „Iskra"-Leuten und ihren Gegnern auf dem II. Parteitage drehte sich in hohem Maße um die Probleme der Wechselbeziehung zwischen Zielbewusstheit und Spontaneität. Dass sich die Aufmerksamkeit der Partei auf diese Frage konzentrierte, erklärt sich daraus, dass in der Form des Streites über Zielbewusstheit und Spontaneität die Grundfrage entschieden wurde, nämlich die Frage nach der Rolle und Bedeutung der Partei, als der Vorhut und Führerin des Proletariats oder als einer einfachen Institution zur Registrierung der von der Arbeitermasse selbst bewusst erkannten Nöte und Forderungen. Einer der Führer des „Rabotscheje Djelo", A. Martynow, hatte sein ganzes Koreferat darauf eingestellt, den Standpunkt Lenins in dieser Frage zu widerlegen. Da die Broschüre „Was tun?" es sich zur Aufgabe machte, in polemischer Form die Fehler der „Rabotscheje Djelo"-Leute zu korrigieren, die gerade die Rolle des sozialistischen Bewusstseins verringerten, da es notwendig war, in sozialdemokratischen Kreisen den Gedanken zu verankern, dass die Sozialdemokraten verpflichtet seien, das sozialistische Bewusstsein in die spontane Arbeiterbewegung zu tragen, war in der Broschüre „Was tun?" bei der Behandlung dieses absolut richtigen und dem ganzen Geiste des revolutionären Marxismus vollkommen entsprechenden Gedankens eine gewisse Übertreibung unvermeidlich (Worte Lenins auf dem II. Parteitag), was jedoch den Grundgedanken Lenins weder beeinträchtigte noch abschwächte.

Auf dem Parteitage erklärten sich alle „Iskra"-Leute, Plechanow und Martow mit inbegriffen, mit der These Lenins einverstanden. Als nach dem Parteitag und nach der Spaltung die Menschewiki zu einer systematischen Revision aller Grundgedanken der alten „Iskra" übergingen, blieb auch Lenins These über das Hineintragen des Bewusstseins von außen nicht verschont, die bisher zu dem geistigen Arsenal der „Iskra" gehört hatte und von allen Anhängern der revolutionären Sozialdemokratie geteilt wurde. Die Aufgabe der „Widerlegung" der Ansichten, die Lenin in „Was tun?" entwickelt hatte, übernahm Plechanow (siehe „Die Arbeiterklasse und die sozialdemokratische Intelligenz", „Iskra" Nr. 70 u. 71 vom 25. Juni und 1. August 1904), der sich dem rechten Flügel der Sozialdemokratie anschloss und jetzt nachträglich erklärte, dass er in der Frage der Zielbewusstheit und der Spontaneität mit Lenin prinzipiell nicht einverstanden sei. Lenin hatte damals nicht die Möglichkeit, sofort auf die Kritik Plechanows zu antworten, die aufgebaut war auf „aus dem Zusammenhang herausgerissenen Sätzen, auf einzelnen Ausdrücken, die ich nicht sehr geschickt oder nicht genügend klar formuliert hatte, wobei der allgemeine Inhalt und der ganze Geist der Broschüre ignoriert wurden". (Vorwort Lenins zum Sammelbuch „Zwölf Jahre", 1908.) Eine Antwort auf die Kritik Plechanows war der Artikel W. Worowskis: „Die Früchte der Demagogie" („Wperjod" Nr. 11 vom 23. März n. St., 1905), der den Standpunkt der Broschüre „Was tun?" zur Frage der Zielbewusstheit und der Spontaneität vertrat. Dieser Artikel kann auch gleichzeitig als ziemlich genauer Ausdruck der Ansichten Lenins selbst gelten, da Lenin, der eine Reihe von Korrekturen und Änderungen am Text vornahm, ihn nicht nur sorgfältig redigiert, sondern auch einige Formulierungen selbst geschrieben hat. Ein Vergleich der „Früchte der Demagogie" mit „Was tun?" zeigt, dass im Artikel von 1905 der Standpunkt voll und ganz beibehalten wurde, der in der Broschüre vom Jahre 1902 entwickelt war. (Siehe „Dokumente und Materialien", Nr. 6, S. 363.)