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Wladimir I. Lenin 19031101 Brief an G. Plechanow

Wladimir I. Lenin: Brief an G. Plechanow

[Zum ersten Mal veröffentlicht im Jahre 1926 im Sammelbuch der Gruppe „Befreiung der Arbeit", Nr. 4. Nach Sämtliche Werke, Band 6, Wien-Berlin 1930, S. 133 f.]

1. November 1903

Lieber Georgij Valentinowitsch! Die uns bewegenden Fragen lassen mich absolut nicht zur Ruhe kommen. Diese Verzögerung, dieser Aufschub der Entscheidung ist etwas Schreckliches, ist eine Tortur

Ich verstehe wirklich vollkommen Ihre Beweggründe und Erwägungen zugunsten eines Zugeständnisses an die Martowleute. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass in diesem Augenblick das Zugeständnis ein verhängnisvoller Schritt sein wird, der viel sicherer zu Sturm und Streit führt als ein Krieg gegen die Martowleute. Das ist nicht paradox. Ich habe Kurz nicht nur nicht überredet, wegzugehen, sondern im Gegenteil, ihn zu überzeugen versucht, dazubleiben, aber er (und auch Ru) lehnen es unbedingt ab, jetzt mit einer Martow-Redaktion zusammenzuarbeiten. Was wird nun sein? In Russland sind Dutzende von Delegierten schon überall herumgereist, aus Nischni-Nowgorod schreibt man sogar, das Zentralkomitee habe schon viel getan, die Beförderungsmöglichkeiten organisiert, Vertrauensleute hingesetzt, die Mitteilung1 wird gedruckt, Sokolowski in Westrussland, Berg in Mittelrussland, Semlatschka und viele andere sind bereits an ihre Arbeit herangegangen. Und nun – die Weigerung von Kurz. Eine Unterbrechung für lange Zeit hinaus (der Zusammenkünfte und Beratungen des gesamten, jetzt wohl schon bedeutend erweiterten Zentralkomitees). Dann entweder ein Kampf des Zentralkomitees gegen die Martow-Redaktion oder der Rücktritt des gesamten Zentralkomitees. Dann müssen Sie + zwei Martowleute im Rat ein neues Zentralkomitee kooptieren, und zwar ohne Wahl durch den Parteitag, bei vollständiger Missbilligung durch die in Russland lebenden Massen der Genossen, der bereits abgereisten Vertrauensleute, die diesen Dingen mit starken Bedenken, unzufrieden und ablehnend gegenüberstehen werden. Das wird den Parteitag vollständig kompromittieren, in Russland wird es Verwirrung und Skandale geben, die tausendmal schlimmer und gefährlicher sind als eine im Auslande erscheinende Schmähschrift.

Wir haben die Zerfahrenheit satt!, das schreibt und schreit man aus Russland. Den Martowleuten nachgeben, heißt jetzt eben die Zerfahrenheit in Russland zum Gesetz erheben, denn in Russland hat es bisher noch keinen Schatten von Auflehnung und Aufruhr gegeben. Keine Erklärungen von mir und Ihnen können jetzt die Delegierten der Parteitagsmehrheit zurückhalten. Diese Delegierten werden etwas Furchtbares anheben.

Um der Einheit, um der Festigkeit der Partei willen – nehmen Sie diese Verantwortung nicht auf sich, gehen Sie nicht weg und liefern Sie nicht alles an die Martowleute aus.

Ihr N. Lenin

1 Lenin meint die „Mitteilung über den 2. ordentlichen Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands", die das Zentralkomitee der Partei herausgegeben hatte (die Mitteilung trägt das Datum: Oktober 1903). Diese Mitteilung erschien in zwei verschiedenen Ausgaben und wurde auch in Nr. 53 der „Iskra" vom 25. November 1903 abgedruckt. – S. 133.

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