Lenin‎ > ‎1903‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19030314 Das Selbstherrschertum wankt…

Wladimir I. Lenin: Das Selbstherrschertum wankt

[Iskra" Nr. 35, 1. März 1903. Nach Sämtliche Werke, Band 5, 1930, S. 352-358]

Das Selbstherrschertum wankt. Der Selbstherrscher gibt das selbst öffentlich vor dem Volke zu. Das ist die ungeheure Bedeutung des Zaren-Manifestes vom 26. Februar, und die leeren Redensarten, die Vorbehalte und Ausreden, von denen es im Manifest wimmelt, werden die geschichtliche Bedeutung des getanen Schrittes nicht ändern können.

Der Zar beginnt in alter Weise – vorläufig noch in alter Weise – „von Gottes Gnaden" … und schließt, sich an die Leute wendend, die das Vertrauen der Gesellschaft besitzen, mit dem halb feigen, halb heuchlerischen Ruf um Hilfe. Der Zar fühlt bereits selbst, dass die Zeiten unwiederbringlich dahinschwinden, da sich in Russland eine Regierung von Gottes Gnaden halten konnte, dass von nun an in Russland nur eine Regierung von Volkes Willen eine starke Regierung sein kann.

Der Zar bekräftigt sein heiliges Gelöbnis, die Jahrhunderte alten Grundfesten des russischen Reiches zu schützen. In der Übersetzung aus der Amtssprache in die einfache russische Sprache bedeutet das: den Absolutismus aufrechtzuerhalten. Einst hat Alexander III. dasselbe geradeheraus und offen verkündet (im Manifest vom 29. April 1881), – als die revolutionäre Bewegung an Kraft verlor und zurückging. Jetzt, wo der Kampfruf „Nieder mit dem Selbstherrschertum" immer lauter und eindringlicher erklingt, zieht Nikolaus II. es vor, seine Erklärung mit einem kleinen Feigenblatt zu bedecken und sich verschämt auf seinen unvergesslichen Vater zu berufen. Ein sinnloser und verächtlicher Kniff! Die Frage des Seins oder Nichtseins des Absolutismus ist offen gestellt und auf die Straße getragen. Und jedes Versprechen von „Reformen" – mit Verlaub, „Reformen" –, das mit dem Versprechen einer Aufrechterhaltung des Absolutismus beginnt, ist eine schreiende Lüge, eine Verhöhnung des russischen Volkes. Doch gibt es keinen besseren Anlass zur Entlarvung der Regierungsgewalt vor dem ganzen Volke als die Tatsache, dass eben diese Regierung sich mit heuchlerischen und erlogenen Versprechungen an das Volk wendet.

Der Zar spricht (wiederum mit einem Feigenblättchen) von der revolutionären Bewegung, er klagt darüber, dass die „Wirren" die Arbeit zur Hebung der Volkswohlfahrt stören, dass sie die Geister erregen, das Volk von der produktiven Arbeit abhalten und die Kräfte vernichten, die dem Zarenherzen teuer sind, die jungen Kräfte, die die Heimat braucht. Da also die zugrunde gehenden Teilnehmer der revolutionären Bewegung dem Zarenherzen teuer sind, so verspricht er gleichzeitig, jede Abweichung vom gewöhnlichen Gang des öffentlichen Lebens streng zu unterbinden, d. h. das freie Wort, die Arbeiterstreiks, die Volkskundgebungen grausam zu verfolgen.

Das ist genug. Es ist mehr als genug. Die jesuitische Rede spricht für sich selbst. Wir erlauben uns nur, unserer Überzeugung Ausdruck zu geben, dass dieses „Zarenwort", wenn es bis in die entlegensten Winkel Russlands gedrungen ist, die beste Agitation für die revolutionären Forderungen sein wird. Wer noch einen Funken Ehre im Leibe hat, der kann auf dieses Zarenwort nur eine Antwort geben: die Forderung der bedingungslosen und sofortigen Befreiung aller derer, die – mit oder ohne Gerichtsverfahren –, vor oder nach dem Urteil, in Gefängnissen sitzen oder sich wegen politischer oder religiöser Angelegenheiten, wegen Streiks oder Widerstand gegen die Staatsgewalt in Verbannung oder Haft befinden.

Wir haben gesehen, wie doppelzüngig der Zar spricht. Hören wir jetzt, wovon er spricht.

Hauptsächlich von drei Dingen. Erstens von der Glaubensfreiheit. Unsere Grundgesetze, die die Freiheit des Glaubensbekenntnisses für alle Konfessionen gewährleisten, müssen bekräftigt und gefestigt werden. Aber der griechisch-orthodoxe Glaube muss vorherrschend bleiben. Zweitens spricht der Zar von der Änderung der Gesetze, die die Zustände auf dem flachen Lande betreffen, von der Mitarbeit solcher Leute an dieser Änderung, die das Vertrauen der Gesellschaft genießen, von der Zusammenarbeit aller Untertanen an der Festigung der sittlichen Grundsätze in der Familie, in der Schule und im öffentlichen Leben. Drittens von der Erleichterung des Austritts der Bauern aus ihren Gemeinden, von der Befreiung der Bauern von der ihnen lästigen Solidarhaft.

Auf die drei Erklärungen, Versprechungen, Angebote Nikolaus II. antwortet die russische Sozialdemokratie mit drei Forderungen, die sie schon seit langem aufgestellt, stets verteidigt und mit allen Kräften verbreitet hat, und die man jetzt wegen des Zaren-Manifestes und als Antwort darauf besonders nachdrücklich betonen muss.

Erstens fordern wir die sofortige und bedingungslose gesetzliche Anerkennung der Versammlungs- und Pressefreiheit und die Amnestie für alle „politischen Verbrecher" und Sektierer. Solange das nicht geschehen ist, bleiben alle Worte von Duldsamkeit, von Glaubensfreiheit ein erbärmliches Spiel und eine unwürdige Lüge. Solange die Versammlungsfreiheit, die Rede- und Pressefreiheit nicht verkündet ist, wird das schmachvolle russische Ketzergericht nicht verschwinden, das das Bekenntnis zu einem anderen Glauben, zu anderen Meinungen, zu anderen Lehren als den vom Staat offiziell anerkannten verfolgt. Weg mit der Zensur! Weg mit dem Polizei- und Gendarmerieschutz der „herrschenden" Kirche! Für diese Forderungen wird das klassenbewusste russische Proletariat sich bis zum letzten Blutstropfen schlagen.

Zweitens fordern wir die Einberufung einer Konstituierenden Nationalversammlung, die von allen Staatsbürgern ohne Ausnahme zu wählen ist und die in Russland die Wählbarkeit der Behörden einzuführen hat. Genug der Spielerei mit Konferenzen von Ortsgrößen, mit Gutsbesitzerparlamenten bei den Gouverneuren, mit der Repräsentativ-Herrschaft der Herren Marschälle (vielleicht auch noch der Delegierten?) des Adels! Lange genug hat die allmächtige Beamtenschaft mit allerhand Semstwos Katz und Maus gespielt, sie bald losgelassen, bald mit ihren Sammetpfötchen gestreichelt! Solange nicht die allgemeine Versammlung der Volksvertreter einberufen wird – bleibt alles Gerede von Vertrauen zur Gesellschaft, von den sittlichen Grundsätzen des öffentlichen Lebens nichts als Lüge und nochmals Lüge. So lange wird auch der revolutionäre Kampf der russischen Arbeiterklasse gegen den russischen Absolutismus nicht erlahmen.

Drittens fordern wir die sofortige und unbedingte gesetzliche Anerkennung der vollständigen Gleichberechtigung der Bauern mit den anderen Ständen, und die Einberufung von Bauernkоmitees zur Vernichtung aller Überreste der Leibeigenschaft auf dem Lande und zur Ergreifung von ernsten Maßnahmen zur Besserung der Lage der Bauernschaft.

Die Rechtlosigkeit der Bauern, die neun Zehntel der Bevölkerung Russlands bilden, darf keinen Tag länger geduldet werden. Unter dieser Rechtlosigkeit leidet auch die Arbeiterklasse und das ganze Land; auf dieser Rechtlosigkeit beruht alles Asiatische im russischen Leben; an dieser Rechtlosigkeit gehen alle Konferenzen und Kommissionen spurlos (oder mit Schaden für die Bauernschaft) vorüber. Der Zar will sich auch jetzt nach wie vor durch solche „Konferenzen" von Beamten und Adligen loskaufen, der Zar spricht sogar von einer „starken Regierung", die die Tätigkeit der Ortsgrößen leiten soll. Die Bauern aber haben am Beispiel der Bezirkshauptleute ganz genau erfahren, was diese „starke Regierung" bedeutet. Die Bauern haben nicht umsonst, nachdem ihnen die Wohltaten der Adelskomitees zuteil geworden, vierzig Jahre der Not, des Elends und der ständigen Hungersnot durchgemacht. Die Bauern werden jetzt verstehen, dass alle „Reformen" und Besserungen ein Betrug bleiben, wenn sie nicht von den Bauern selbst durchgeführt werden. Die Bauern werden verstehen – und wir werden ihnen helfen, es zu begreifen –, dass nur die Bauernkomitees imstande sind, nicht allein die Solidarhaft, sondern auch alle anderen Überbleibsel des Frondienstes und der Leibeigenschaft, die bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein Millionen und aber Millionen des Volkes knechten, tatsächlich zu vernichten. Für die städtischen Arbeiter genügt die Versammlungs- und Pressefreiheit vollkommen: wir werden es schon verstehen, diese Freiheiten auszunutzen!! Für die Bauern aber, die in entlegenen Gegenden verstreut, die eingeschüchtert und verwildert sind, ist das zu wenig, – und die Arbeiter müssen ihnen helfen, ihnen klarmachen, dass sie unvermeidlich und unentrinnbar erbärmliche Sklaven bleiben werden, wenn sie ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen, wenn sie nicht – als ersten und wichtigsten Schritt – die Gründung von Bauernkomitees zur wirklichen und nicht nur betrügerischen Befreiung der Bauern durchsetzen.

Erfahrene und kluge Leute haben längst beobachtet, dass es in einer revolutionären Zeit keinen gefährlicheren Augenblick für eine Regierung geben kann als den Beginn von Zugeständnissen, den Beginn von Schwankungen. Das russische politische Leben der letzten Jahre hat das glänzend bestätigt. Die Regierung zeigte sich unsicher in der Frage der Arbeiterbewegung, als sie das Subatowtum in Gang setzte, und sie machte sich lächerlich, denn sie arbeitete damit der revolutionären Agitation ausgezeichnet in die Hand. Die Regierung wollte in der Studentenfrage Zugeständnisse machen, und sie machte sich lächerlich, denn mit Siebenmeilenschritten brachte sie damit die Revolutionierung der Studentenschaft vorwärts. Die Regierung wiederholt jetzt in weitestem Umfange diese Taktik in allen Fragen der Innenpolitik, sie wird sich dabei unvermeidlich lächerlich machen, unvermeidlich den revolutionären Ansturm auf den Absolutismus erleichtern, stärken und entwickeln!

Wir müssen uns noch mit der praktischen Frage befassen, wie das Zaren-Manifest vom 26. Februar zu Agitationszwecken auszunutzen ist. Die russischen Sozialdemokraten haben schon längst eine Antwort auf die Frage der Kampfmittel gegeben: Organisation und Agitation, – und sie haben sich nicht beirren lassen durch den Spott der einfältigen Leute, die das für „unentschieden" und nur Schüsse für ein „entschiedenes" Mittel hielten. In solchen Augenblicken, wie jetzt, wo sich uns unerwartet ein so dankbarer Anlass zu einer Agitation im ganzen Volke bietet, ein Anlass, der die Anspannung aller Kräfte dringend fordert, – in solchen Minuten empfindet man besonders immer und immer wieder denselben, nach wie vor denselben Mangel: den Mangel an Organisation und an Fähigkeit, eine Agitation rasch zu entfalten.

Doch werden wir das Verlorene noch einholen, und mehr als einmal einholen!

Vor allem müssen wir auf das Manifest vom 26. Februar mit allgemein-russischen und örtlichen Flugblättern antworten. Wenn Flugblätter früher in Zehntausenden von Exemplaren in ganz Russland verbreitet wurden, so mögen sie jetzt in Millionen verbreitet werden, damit das ganze Volk die Antwort des klassenbewussten Proletariats auf den Aufruf des Zaren an das Volk erfährt, damit alle unsere festumrissenen, praktischen Forderungen sehen, als Gegensatz zu der Rede des Zaren über denselben Gegenstand.

Ferner dürfen wir nicht zulassen, dass nur legale Versammlungen wohlgesinnter Semstwoleute und Adliger, Kaufleute und Professoren usw. mit ehrfürchtiger Begeisterung auf das Manifest vom 26. Februar antworten. Es genügen auch nicht die Antworten, die die Organisationen der Sozialdemokraten in ihren Flugblättern geben werden. Es muss in jedem Zirkel, in jeder Arbeiterversammlung eine Antwort ausgearbeitet werden, die die Forderungen der Sozialdemokratie ausdrücklich und feierlich unterstützt. Die Beschlüsse dieser Arbeiterversammlungen (und wenn es gelingt, auch von Bauernversammlungen) müssen in den örtlichen Flugblättern veröffentlicht und unseren Zeitungen mitgeteilt werden. Alle sollen wissen, dass wir nur die Antworten der Arbeiter und Bauern selber für eine Antwort des Volkes halten. Mögen sich schon jetzt alle Zirkel darauf vorbereiten, unsere Grundforderungen mit Gewalt zu unterstützen.

Weiterhin dürfen wir nicht zulassen, dass in allen Versammlungen ohne Widerstand Dankadressen an den Zaren ausgearbeitet werden. Unsere Herren Liberalen haben die russische Volksmeinung schon zur Genüge gefälscht! Lange genug haben sie gelogen, indem sie nicht das sagten, was sie dachten, was der ganze denkende und kampfbereite Teil des Volkes denkt! Man muss sich bemühen, in ihre Versammlungen einzudringen, um auch dort seine Meinung, seinen Protest gegen die knechtische Dankbarkeit und seine wirkliche Antwort an den Zaren möglichst gründlich, offen und öffentlich zu verkünden, sie sowohl durch die Verbreitung von Flugblättern zu verkünden als auch, soweit es möglich ist, durch öffentliche Reden in allen solchen Versammlungen (auch wenn die Herren Vorsitzenden versuchen sollten, diesen Reden Einhalt zu gebieten).

Schließlich müssen wir noch versuchen, die Antwort der Arbeiter auf die Straße hinauszutragen und unsere Forderungen durch Demonstrationen zu verkünden und die Zahl und die Macht der Arbeiter, ihr Klassenbewusstsein und ihre Entschlossenheit öffentlich darzutun. Möge die bevorstehende Maifeier zusammen mit der allgemeinen Verkündung unserer proletarischen Forderungen auch eine besondere und bestimmte Antwort auf das Manifest vom 26. Februar sein!


Kommentare