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Redaktion der „Iskra" 19041100 Schreiben an die Parteiorganisationen

Schreiben der „Iskra“-Redaktion an die Parteiorganisationen

November 1904

[Nach Lenin: Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 537-546]

Nur für Parteimitglieder

Genossen, ihr alle empfindet und wisst natürlich, wie ernst der politische Moment ist, den wir jetzt durchleben. Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass Russland noch nie einer Verfassung so nahe gewesen ist, wie jetzt. Natürlich wäre es müßig, den genauen Tag und die Stunde prophezeien zu wollen, wann endlich diese Verwandlung Russlands in ein konstitutionelles Land geschehen wird. Dass aber dieser Tag mit raschen Schritten näher rückt, das ist unbestreitbar. Selbstverständlich ist es überflüssig, darüber zu reden, wie wenig gleichgültig es ist, sowohl für die zukünftige Entwicklung Russlands als auch für die russische Arbeiterklasse und für die Schicksale unserer Partei, ob sich diese Umwälzung bei aktivem und zielbewusstem Eingreifen unseres Proletariats, unter dem Banner der Sozialdemokratie, oder bei vollständiger Passivität unsererseits vollziehen wird. Die Sache darf sich natürlich nicht allein auf die Verleihung einer kümmerlichen Verfassung von oben beschränken; wenigstens müssen wir dafür sorgen, dass diese Verleihung, wie einst die Einberufung der Generalstaaten in Frankreich, nicht das Ende der oppositionellen Gärung bildet, sondern zum Beginn der Revolution wird. Je eher wir jedoch in den Verlauf der Ereignisse eingreifen, um so eher können wir auf eine solche revolutionäre Entwicklung der Ereignisse rechnen, weil, je eher wir eingreifen, wir um so größere Chancen haben, einerseits unsere eigene Organisation und die Verbindung mit den Arbeitermassen zu stärken und anderseits die gemäßigtesten Elemente der liberalen Opposition zu hindern, ihre Stellung zu festigen, sich fest im Bunde mit der Reaktion zum Kampfe gegen die „extremen" Parteien, das heißt gegen alles, was über die Zensusverfassung hinausgehen will, zu organisieren.

Die Kreisversammlungen haben bereits gezeigt, dass der russische Liberalismus gewillt ist, die schwierige Lage der Regierung für sich auszunützen. Unter den Begrüßungen und „Vertrauens"kundgebungen, die die Semstwoversammlungen dem Minister des Innern gesandt haben, klang ganz vernehmlich – insbesondere z. B. in der Rede des Vorsitzenden der Kreisversammlung von Temnikow – die Forderung, von den Worten zur Tat überzugehen, das „Vertrauen" zu den gesellschaftlichen Kräften faktisch zu bekunden. Noch stärker äußerten sich diese konstitutionellen Forderungen in der Presse. In einem nicht gezeichneten, offenkundig programmatischen Artikel des „Prawo" z. B. wurde die ganze Argumentation des Adelsmarschalls von Temnikow wiederholt. In diesem Artikel wird darauf hingewiesen, dass das Vertrauen „in Worten" nicht genüge, es wird unterstrichen, dass es unmöglich sei, von einer Rückkehr zu den Reformen der sechziger Jahre zu sprechen, weil das jetzt zu wenig sei, und nachdrücklich wird die Notwendigkeit einer organisierten Teilnahme der gesellschaftlichen Kräfte an der Staatsverwaltung, die Notwendigkeit eines „zentralen Semstwos" betont.

Die bei uns vorliegenden Meldungen sprechen mit Bestimmtheit dafür, dass die bevorstehenden Gouvernements-Semstwoversammlungen zum Schauplatz einer noch nachdrücklicheren Verkündigung der Forderungen nach einer Verfassung werden sollen. Im besonderen sind die „Oswoboschdjenije"-Leute eifrig dabei, in den Gouvernements-Semstwoversammlungen Kundgebungen zugunsten einer Verfassung vorzubereiten. Diese Lage der Dinge stellt uns nachdrücklich vor die Frage, was wir in diesem Falle zu tun haben, wie wir auf jene Verfassungsbewegung, die sich vor unseren Augen abspielt und abspielen wird, reagieren sollen. Wir möchten euch nun einige Erwägungen darüber mitteilen, in der Hoffnung, dass, so kurz die noch verbleibende Zeit auch ist, bei energischem Vorgehen doch noch manches erreicht werden könnte. Dies ist aber nur möglich bei einer planmäßigen und einheitlichen Kräfteanspannung aller lokalen Organisationen, die jetzt schon an die Vorbereitung unserer Kampagne zur Zeit der Gouvernements-Semstwoversammlungen gehen müssen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die konstitutionellen Forderungen der meisten Semstwos in eine ziemlich nebelhafte Form gekleidet sein werden; unsere Aufgabe in diesem Falle ist es, durch den Druck der nach politischer Freiheit verlangenden Massen die Semstwos zu bewegen, diese Forderungen in einer klaren, kategorischen Form auszusprechen, die keine Missdeutungen zulässt und den Weg zum Rückzug versperrt.

Noch wichtiger aber ist der Umstand, dass selbst die radikaleren Semstwoelemente eine Zensusverfassung fordern werden, höchstwahrscheinlich eine Vertretung der Semstwos und Dumas. Das geht mit genügender Klarheit aus einem Flugblatt der „Oswoboschdjenije"-Leute hervor, die mit keiner Silbe das allgemeine Wahlrecht erwähnen. Unsere Aufgabe besteht darin, diesen Forderungen unsere Forderung einer vom ganzen Volke, auf Grund des allgemeinen, geheimen, gleichen und direkten Stimmrechts gewählten konstituierenden Versammlung entgegenzustellen, die dann die Reichsverfassung ausarbeiten soll.

Um jedoch mehr oder weniger breite Arbeitermassen zur Verteidigung dieser Forderung in Bewegung setzen zu können, muss man jetzt schon beginnen, eine entsprechende Agitation zu betreiben, muss man jetzt schon beginnen, die Idee der konstituierenden Versammlung zu popularisieren. Wir unsererseits haben versucht, den Genossen zu Hilfe zu kommen durch Herausgabe einer Flugschrift, die sich mit der Frage der konstituierenden Versammlung beschäftigt; diese Flugschrift ist in diesen Tagen erschienen.

Unsere Arbeit muss also mit der Popularisierung der Idee der konstituierenden Versammlung beginnen. In den Zirkeln, in fliegenden Versammlungen ebenso wie in den Massenversammlungen muss diese Frage aufgerollt werden. Man muss sie im Zusammenhang mit der allgemeinen politischen Lage, mit dem „neuen Kurs" und mit dem bevorstehenden Auftreten der Semstwoleute behandeln. Man muss sie auch im Zusammenhang mit dem Krieg behandeln; man muss in den Köpfen der Masse die Idee entwickeln und festigen, dass nur eine solche konstituierende Versammlung dem Kriege ein Ende setzen kann. Es muss erreicht werden, dass die Masse sich mit der üblichen Losung: „Nieder mit dem Absolutismus!" nicht begnügt, sondern sie durch den Ruf ergänzt: „Es lebe die konstituierende Nationalversammlung!" Denn es ist möglich, dass unter den gegebenen Umständen die Losung „Nieder mit dem Absolutismus!" auch solche Schichten sich zu eigen machen werden, die dem Absolutismus nur die konstitutionelle Monarchie entgegenstellen. Man muss jetzt schon den Arbeitern den wahren, beschränkt liberalen Sinn der Forderungen klarmachen, wie etwa, dass „die Stimme des Landes gehört werde", oder dass „Gewählte des Landes" zur Teilnahme an der Staatsverwaltung berufen werden, oder dass ein „zentrales Semstwo" oder ein Semski Sobor geschaffen werde usw., die in den Semstwoversammlungen ertönen werden. Es muss dafür gesorgt werden, dass die Arbeiter allen diesen Losungen, die das Streben nach einer beschränkten Monarchie und einer Zensusverfassung verdecken, fest und unbeirrt ihre Forderungen entgegenstellen: konstituierende Nationalversammlung und allgemeines, direktes, gleiches und geheimes Wahlrecht.

Zwei Momente muss man hierbei stets im Auge behalten. Vor allem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass wir unsere politische Kampagne im Anschluss an die erste, eigentlich an die vorbereitende Phase der offenen politischen Agitation unserer liberalen Bourgeoisie entfalten. Sofern wir uns anschicken, auf der Kampfarena gegen den Absolutismus die Massen in unmittelbare Berührung mit den Semstwo- und Dumaversammlungen zu bringen, müssen wir im Gedächtnis behalten, dass wir es nicht mit einer machtvollen politischen Vertretung der ausbeutenden Klassen zu tun haben werden, sondern mit den rechtlosen Organen der lokalen Selbstverwaltung, die lediglich bereit sind, mit „Petitionen" um die Errichtung einer „Rechtsordnung" vor die zaristische Regierung zu treten. Der Charakter und die Bedeutung dieser Organe der öffentlichen Selbstverwaltung sind grundsätzlich verschieden von der zukünftigen konstituierenden Versammlung, selbst wenn diese nur aus Vertretern derselben, heute rechtlosen Institutionen bestehen sollte. Im Falle der Einberufung eines solchen „zentralen Semstwos" würden wir uns von Angesicht zu Angesicht mit der politischen Vertretung der Plutokratie und der Aristokratie befinden, die berufen ist, das absolutistische Regime zu liquidieren und dem Lande solche konstitutionellen „Rechte" und lediglich in solchem Umfange zu „gewähren", die sie mit den Interessen der Spitzen der ausbeutenden Klassen für vereinbar halten wird. Unsere Taktik gegenüber einer solchen konstituierenden Versammlung müsste sich offenbar grundlegend von unserer Taktik gegenüber den heutigen Organen der lokalen Selbstverwaltung im gegenwärtigen Augenblick unterscheiden, soweit sie oppositionell gegen das bestehende Regime auftreten.

Im ersteren Falle wären wir verpflichtet, eine energische Attacke gegen alle Bestrebungen und Versuche des „zentralen Semstwos", die Volksrechte zu Ьеschneiden, zu organisieren. Im Kampfe gegen dieses hätten wir kein Recht, zimperlich zu sein und dürften vor den revolutionärsten, selbst gewaltsamen Aktionen nicht haltmachen. Gegenüber den heutigen Semstwos dagegen reduziert sich unsere Aufgabe darauf, ihnen die politischen Forderungen des revolutionären Proletariats zu stellen, die sie verpflichtet sind, zu unterstützen, um wenigstens ein gewisses Recht zu haben, im Namen des Volkes aufzutreten und auf eine energische Unterstützung von Seiten der Arbeitermassen zu rechnen. Eine Versammlung von Notabeln, die in ihren Händen das Schicksal des ganzen Landes hält und sich anschickt, die Volksfreiheit für ein Linsengericht zu verkaufen, wäre ein direkter und unmittelbarer Feind der gesamten Demokratie, dem unsere Partei verpflichtet wäre, den Krieg auf Leben und Tod zu erklären. Hingegen haben wir es in den liberalen Semstwos und Dumas mit den Feinden unseres Feindes zu tun, die aber im Kampfe gegen ihn nicht so weit gehen, die nicht wollen oder nicht fähig sind, so weit zu gehen, wie dies die Interessen des Proletariats erfordern, dadurch aber, dass sie sich offiziell gegen den Absolutismus wenden und an ihn Forderungen stellen, die auf seine Vernichtung gerichtet sind, faktisch unsere Bundesgenossen sind (natürlich in sehr relativem Sinne), wenn auch in ihren Handlungen keine genügend entschiedenen und in ihren Bestrebungen keine genügend demokratischen Bundesgenossen. Die Tatsachen und Äußerungen dieser Unentschiedenheit und Halbheit liefern konkretes Material zur anschaulichen Charakteristik der sozialen Natur und der sozial-politischen Tendenzen der bürgerlichen Fraktionen und zur Illustrierung des feindlichen Gegensatzes zwischen den Interessen der von ihnen vertretenen Klassen einerseits und den proletarischen anderseits. Und wir sind selbstverständlich verpflichtet, dieses Material gründlich auszunutzen, entsprechend den prinzipiellen Forderungen unseres Programms. Aber im Rahmen des Kampfes gegen den Absolutismus, und gerade in der gegenwärtigen Phase, wird unser Verhalten gegenüber der liberalen Bourgeoisie durch die Aufgabe bestimmt, ihr mehr Mut einzuflößen und sie zu veranlassen, sich jenen Forderungen anzuschließen, mit denen das von der Sozialdemokratie geführte Proletariat hervortreten wird. Aber wir würden in einen verhängnisvollen Fehler verfallen, wollten wir uns zum Ziel setzen, schon jetzt durch energische Maßnahmen der Einschüchterung die Semstwos oder andere Organe der bürgerlichen Opposition zu zwingen, unter dem Einfluss der Panik, das formelle Versprechen zu geben, unsere Forderungen der Regierung zu unterbreiten. Eine solche Taktik würde die Sozialdemokratie kompromittieren, da sie unsere ganze politische Kampagne in einen Hebel für die Redaktion verwandeln würde. Der direkte unmittelbare Kampf, wie gegen absolute Feinde, ist nur erlaubt gegenüber jenen Organen der „öffentlichen Meinung", die in der Rolle von Bundesgenossen der Reaktion auftreten. Nebenbei sei bemerkt, dass die liberalen oder halb liberalen Semstwos und Dumas ein derartiges Verhalten unsererseits in allen den Fällen verdienen, wo sie aus Opportunismus oder Feigheit den Absolutismus unterstützen. Ein solcher Fall war die Bewilligung von Millionen von Rubel für die Kriegsbedürfnisse der Regierung. Unsere Partei war verpflichtet, Arbeiterproteste gegen diese Vergeudung von Volksmitteln für die Aufrechterhaltung des Prestiges des Volksversklavers zu organisieren.

Der zweite ebenso wichtige Umstand, auf den wir die Aufmerksamkeit lenken müssen, besteht darin, dass wir die gegenwärtige politische Kampagne in einer gesellschaftlichen Atmosphäre durchzuführen haben, die bei weitem dazu nicht vorbereitet ist. Nicht nur die Arbeitermassen, sondern auch unsere Parteimitglieder haben noch keine Schule des politischen Kampfes durchgemacht, die sie zu einer solchen politischen Kampagne, wie sie der gegenwärtige Augenblick von uns verlangt, vorbereitet hätte.

Im Westen ist jede Mobilisation der Arbeitermassen für die eine oder andere politische Losung eine der zahlreichen Episoden des proletarischen politischen Kampfes; einer der Akte ihres beständigen und längst praktizierten Eingreifens in das politische Leben des Landes. Bei uns dagegen ist sogar die bloße Idee eines solchen Eingreifens verhältnismäßig neu. Bei der Durchführung des vorgeschlagenen Aktions„planes" muss man daher eingedenk sein, dass wir die ersten Schritte auf dem neuen Wege der politischen Tätigkeit machen, auf dem Wege der Organisierung eines solchen planmäßigen EingreifensA der Arbeitermassen in das öffentliche Leben, dessen unmittelbares Ziel es ist, sie der bürgerlichen Opposition als selbständige Kraft gegenüberzustellen, die ihren Klasseninteressen nach zu ihr in Gegensatz steht und gleichzeitig ihr Bedingungen für einen gemeinsamen energischen Kampf gegen den gemeinsamen Feind vorschlägt. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir noch den ersten Versuch auf dem neuen Wege machen, dass wir das Proletariat und unsere Partei selbst sozusagen üben mit dem Ziel, es und uns selbst auf die bevorstehenden Schlachten gegen die Parteien der ausbeutenden Klassen und gegen die Staatsmacht vorzubereiten.

Von den erwähnten Erwägungen geleitet, stellen wir uns den Verlauf der beabsichtigten politischen Kampagne ungefähr folgendermaßen vor.

In den Städten X., Y., Z., die mehr oder weniger günstige BedingungenB hierzu bieten, rufen unsere Komiteemitglieder und überhaupt die Genossen, die die lokale Parteiarbeit leiten, die entwickelten und aktiven sozialdemokratischen Arbeiter zusammen, eigens zu dem Zweck, gemeinsam mit ihnen die Agitation unter den proletarischen Massen für ein organisiertes Auftreten derselben unter dem Banner unserer Partei, zum Kampf für die Forderung nach Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts, bei vollständiger Freiheit der Wahlagitation, zu besprechen. Zentraler Brennpunkt und Richtschnur sowohl der hier geplanten Besprechungen als auch der Agitation selbst muss die praktische Aufgabe sein: die vorgeschrittenen Schichten des Proletariats mit dem leidenschaftlichen intensiven Bestreben zu begeistern, im ureigensten Interesse ihrer Klasse, auf dem Wege einer eindrucksvollen organisierten Einwirkung auf die bürgerliche Opposition, unmittelbaren Einfluss auf den Verlauf und die Richtung der Liquidation der absolutistischen Ordnung auszuüben.

Im Hinblick auf diese Aufgabe bilden die Initiatoren und Teilnehmer der Besprechungen von sich aus eine Organisationsgruppe, die die Verpflichtung übernimmt, den von ihnen angenommenen Plan der politischen Kampagne in die Tat umzusetzen. Der erste praktische Schritt dieser Gruppe wird in der Ausarbeitung eines Resolutionsentwurfes bestehen müssen, worin die Forderungen formuliert werden, für die die Agitation betrieben wird, sowie die Ausarbeitung des Entwurfes einer Erklärung an das betreffende Organ der liberalen Opposition, die eine Erklärung enthält, weshalb sich die Arbeiter nicht an die Regierung, sondern an die Vertreterversammlung gerade dieser Opposition wenden. Dann wird eine Vollzugskommission gewählt, deren Funktionen und Pflichten zum Teil aus ihrem Namen ersichtlich sind.

Der Entwurf der Resolution und der Erklärung, in die diese Resolution aufzunehmen ist, wird gewissermaßen die Grundlage und der Zentralpunkt der Agitation sein. Letztere muss vorwiegend den Charakter eines Meinungsaustausches über den Entwurf tragen, sie muss, mit entsprechenden Modifikationen, bis zu einem gewissen Grade jenen Prozess der kollektiven Besprechung des Planes der zu betreibenden Agitation, ihres Zieles und Charakters wiedergeben, der bei den Vorberatungen der Initiatoren und Organisatoren vor sich gegangen ist.

Selbstverständlich müssen sowohl der allgemeine Inhalt des Resolutionsentwurfes und seine Begründung als auch seine einzelnen Punkte allseitig geprüft und soweit geklärt werden, dass die Arbeiter sich ihm bewusst anschließen können und in ihm den wirklichen Ausdruck ihrer eigenen Bestrebungen und Wünsche erblicken.

Es braucht nicht erst gesagt zu werden, dass entschieden alle Mitglieder der Organisationsgruppe – mit Ausnahme vielleicht derjenigen, die von den administrativen und technischen Funktionen absorbiert sind – verpflichtet sind, die Agitation im Geiste der von ihr gefassten Beschlüsse zu führen. Wer ungeeignet oder nicht gewohnt ist, in Massenversammlungen zu sprechen, ist verpflichtet, im Kreise der persönlichen Freunde, Bekannten, Arbeitskollegen, bei Spaziergängen, beim Tee in der Kneipe, in der Werkstatt zu agitieren. Im Verlauf dieser Agitation wird von selbst die Frage des Aktes der öffentlichen Verkündung ihrer Forderungen durch die Arbeiter, der Formen und Mittel ihrer unmittelbaren Einwirkung auf die Versammlung der Vertreter der oppositionellen Bourgeoisie durch einen speziellen Appell an diese auftauchen und muss einer sorgfältigen Besprechung der Arbeiterzirkel und Arbeiterversammlungen unterzogen werden.

Die endgültige Entscheidung dieser Frage wird natürlich erst möglich sein, nachdem der Erfolg der Agitation in der Arbeitermasse deutlich genug sich bestimmen lassen wird. Die imponierendste Art für die Verkündung ihrer Forderungen durch das sozialdemokratische Proletariat und ihrer Stellung zur Taktik der gemäßigten Liberalen wären stark besuchte Kundgebungen der Arbeiter, die zu dem Zeitpunkt angesetzt werden, wo die Semstwoversammlungen die Adressen, Petitionen, Gesuche besprechen werden – mit einem Wort, wo in ihnen überhaupt, in dieser oder jener Form, die Frage aufgerollt wird, sich an die Regierung zu wenden, mit der Bitte um Gewährung irgendeiner Verfassung oder von etwas Ähnlichem.

Selbstverständlich müssen solche Kundgebungen in allen Zentren unserer Bewegung, wo eine breitangelegte Agitation möglich ist, veranstaltet werden und nicht etwa allein in den Städten, wo Semstwos vorhanden sind.

Die gleichzeitigen Kundgebungen in allen diesen Zentren werden in außerordentlich starkem Maße das Gewicht und die Bedeutung des politischen Aktes unserer Partei auch dort verstärken, wo Semstwos bestehen. Der Unterschied ist nur der, dass man in den Städten, wo die Semstwoversammlungen stattfinden werden, bemüht sein muss, die Massen in unmittelbare Berührung mit diesen Versammlungen zu bringen, die Kundgebung gerade vor dem Gebäude zu konzentrieren, in dem die Semstwoabgeordneten tagen. Ein Teil der Demonstranten dringt in den Sitzungssaal ein, um im geeigneten Augenblick, mit Hilfe des besonders hierzu beauftragten Redners, die Versammlung um die Genehmigung zu bitten, ihr eine Erklärung der Arbeiter vorzulesen. Für den Fall, dass das abgelehnt wird, legt der Redner mit lauter Stimme Protest ein gegen die Weigerung der Versammlung, die im Namen des Volkes spricht, die Stimme der wahren Vertreter dieses selben Volkes anzuhören. Doch ist die Anwendung einer solchen Methode der Gegenüberstellung der Arbeiterforderungen durch die Sozialdemokratische Partei den offiziellen konstitutionellen Erklärungen der liberalen Opposition nur unter zwei Bedingungen möglich und zweckmäßig: erstens muss die Zahl der aktiven Demonstranten eine beträchtliche sein und sie müssen durchdrungen sein von der Erkenntnis des grundlegenden Unterschiedes zwischen einer gewöhnlichen Demonstration gegen die Polizei oder die Regierung überhaupt, und einer Demonstration, deren unmittelbarer Zweck der Kampf gegen den Absolutismus ist, mit Hilfe einer direkten Einwirkung des revolutionären Proletariats auf die politische Taktik der liberalen Elemente im gegenwärtigen Augenblick.

Zweitens wird die Vollzugskommission im Voraus Maßnahmen treffen müssen, damit das Erscheinen von einigen tausend Arbeitern vor dem Gebäude, in dem die Semstwoabgeordneten tagen, und von einigen Dutzenden oder Hunderten im Gebäude selbst bei den Semstwovertretern keinen panischen Schrecken hervorrufe, unter dessen Eindruck sie fähig wären, sich unter den schimpflichen Schutz der Polizisten und Kosaken zu flüchten, und so die friedliche Manifestation in eine widerliche Keilerei und barbarische Prügelei verwandeln und ihren ganzen Sinn verzerren würden.

Um eine solche Überraschung zu vermeiden, muss die Vollzugskommission vorher die liberalen Abgeordneten über die in Vorbereitung begriffene Manifestation und ihr wahres Ziel verständigen. Außerdem wird sie versuchen müssen, eine gewisse Vereinbarung mit den Vertretern des linken Flügels der oppositionellen Bourgeoisie zu treffen und sich, wenn auch nicht ihre aktive Unterstützung, so doch wenigstens ihre Sympathie für unseren politischen Akt zu sichern. Die Unterhandlungen mit ihnen muss sie selbstverständlich im Namen der Partei führen, im Auftrage von Arbeiterzirkeln und -versammlungen, in denen nicht nur der allgemeine Plan der politischen Kampagne besprochen, sondern auch über ihren Verlauf berichtet wird.C

Auf diese Weise werden wir von vornherein den Semstwoleuten jedes Recht nehmen, die Schuld für ihre eigene Feigheit und politische Kurzsichtigkeit auf das revolutionäre Proletariat abzuwälzen, falls sie, infolge ihrer Unkenntnis über das Ziel und den Sinn der Demonstration, sich beeilen sollten, bei den zaristischen Schergen Schutz gegen die Demonstranten zu suchen.

Diese Bemerkungen haben besondere Bedeutung lediglich für solche Demonstrationen, die mit der unmittelbaren Unterbreitung der Forderungen unserer Partei an die Semstwoversammlung verbunden sind. Hingegen zur Veranstaltung von Demonstrationen des gewöhnlichen, sozusagen allgemein-demokratischen Typus, die nicht das unmittelbare Ziel haben, das revolutionäre Proletariat und die liberal-oppositionelle Bourgeoisie als zwei selbständige politische Kräfte einander konkret gegenüberzustellen, genügt allein schon das Vorhandensein einer starken politischen Gärung unter den Volksmassen, überhaupt einer heftigen Unzufriedenheit mit dem Regime der politischen Willkür und der bürokratischen Eigenmächtigkeit.

Und es ist selbstverständlich, dass unsere Partei verpflichtet ist, diese Stimmung der Massen auszunutzen, und sei es auch zu einem, wenn man so sagen darf, niederen Typus der Mobilisation dieser Massen gegen den Absolutismus. Der Krieg mit allen von ihm erzeugten Nöten und Leiden des Volkes bietet mehr als genug Zündstoff zur Organisierung aller möglichen Straßenkundgebungen gegen das absolutistische Regime. Dafür müssen wir in allen Fällen, wo es sich um eine Kundgebung mit dem oben dargelegten Ziel handelt, besonders vorsichtig vorgehen. Und wenn es sich herausstellen sollte, dass infolge besonderer Hindernisse und des Fehlens günstiger Verhältnisse der Versuch der Arbeiter, vor dem Gebäude und in dem Gebäude selbst, wo die Semstwoversammlung tagt, gegen ihre Petitionen und für die Forderungen der Sozialdemokraten zu demonstrieren, unseren ersten politischen Versuch dieser Art zu kompromittieren droht, so müsste die Organisationsgruppe zu anderen, wenn auch nicht so krassen Mitteln greifen, um den kollektiven Willen des revolutionären Proletariats zum Ausdruck zu bringen. Selbstverständlich dürfte sie auch in diesem Falle einen bestimmten Beschluss erst fassen, nachdem er in den Zirkeln und in den Versammlungen, die sich aktiv an der Agitationskampagne beteiligen, die den von uns vorgeschlagenen politischen Akt vorbereitet, besprochen worden ist. Im Notfall, wenn es gilt, bei der Durchführung dieses Aktes nach außen hin vorsichtig vorzugehen, denken wir uns die Zustellung der Arbeiterdeklaration an die Abgeordneten durch die Post und ihre Verteilung als Flugblatt in größerer Anzahl in dem Sitzungssaal der Semstwoversammlung. Sich darüber aufregen könnte nur jemand, der auf dem Standpunkt des bürgerlichen Revolutionismus steht, für den der äußere Effekt alles, der Prozess einer planmäßigen Entwicklung des Klassenbewusstseins und der Selbsttätigkeit des Proletariats aber nichts bedeutet. Wenn es uns gelingt, auch nur in einigen Städten und Industriezentren die geplante Agitationskampagne in der noch verbleibenden kurzen Zeit tatsächlich durchzuführen, so wird man fürs Erste auch mit einem nicht besonders geräuschvollen und auffallenden Schlussakt zufrieden sein können. Aller Anfang ist schwer.

Im Grunde aber wird er nicht ein Schlussakt, sondern umgekehrt Ausgangspunkt einer neuen Phase derselben Agitation sein müssen. Vor allem wird man unbedingt ein Flugblatt herausgeben und in allen Schichten der Bevölkerung verbreiten müssen, in welchem Verlauf und Ausgang der Kampagne dargelegt, ihr Ziel, politischer Sinn und ihre Bedeutung erklärt wird. Dann folgt eine Reihe von Massenversammlungen und Zusammenkünften der Zirkel, in denen die Bilanz der ganzen politischen Kampagne gezogen wird, die Heldentaten der Regierung während derselben einer gebührenden Einschätzung unterzogen werden, ebenso die verschiedenen Episoden und Tatsachen, von denen sie begleitet war, und die anschaulich die politische Physiognomie und die Tendenzen jener gesellschaftlichen Elemente charakterisieren, mit denen die Partei so oder anders auf dem Boden und aus Anlass dieses ihres ersten Versuches, ein planmäßiges Eingreifen der Arbeitermassen in das politische Leben zu organisieren, zusammengestoßen ist. Hier werden auch Resolutionen angenommen, die die polizeilichen Gewalttaten der zaristischen Regierung gegen die Staatsbürger brandmarken, die die Bereitschaft des revolutionären Proletariats unterstreichen, unter dem Banner der Sozialdemokratie gemeinsam mit den bürgerlichen Fraktionen für eine demokratische Verfassung zu kämpfen, und die jenen Teil der bürgerlichen Opposition gebührend brandmarken, der über „Petitionen" zugunsten einer „Rechtsordnung", die lediglich den ausbeutenden Klassen Schutz vor der bürokratischen Willkür verbürgen soll, nicht hinausgehen.

Diese Resolutionen mit den notwendigen Erläuterungen werden an die Redaktionen der legalen Organe der liberalen Presse geschickt, mit der Bitte, sie zu veröffentlichen.

Am Wahrscheinlichsten ist es, dass sie alle ablehnen werden, dies zu tun, und wenn die eine oder andere von ihnen es riskieren sollte, sie abzudrucken, so wird sie mit einer Zensurstrafe oder einer gar noch schlimmeren Strafe belegt werden. Also wiederum Material zur doppelten Agitation – mündlichen wie schriftlichen – sowohl gegen den Absolutismus als auch gegen den bürgerlichen Liberalismus. Aber ehe wir noch Zeit gefunden haben werden, dieses ganze Organisationsmaterial zu erschöpfen, wird das öffentliche Leben die Partei vor neue Fragen, Ereignisse, Tatsachen stellen, als Material und als Operationsbasis für eine neue politische Kampagne.

Alles Obengesagte zusammenfassend, möchten wir sagen, dass der ganze Erfolg und der ganze reale Wert unseres politischen Debüts von dem Grad der Zielklarheit bestimmt sein wird, mit dem die Arbeitermassen ihre politischen Forderungen denen der Liberalen entgegenstellen werden. Und darum wiederholen wir nochmals, dass der Erfolg und die Intensität unseres politischen Debüts nach dem Erfolg und der Intensität der Vorbereitungsarbeit gemessen werden wird.

PS. Es ist überflüssig zu bemerken, dass in gewissen Fällen die Rolle der Semstwoversammlungen und der Dumas für uns auch andere gesellschaftliche Körperschaften spielen können (z. B. Kongresse verschiedener Art), die den „neuen Kurs" dazu benutzen können, um ein Organ der bürgerlichen Opposition gegen den Absolutismus zu werden.

A Nämlich des Typus, von dem hier die Rede ist.

B Zu diesen Bedingungen zählen wir vor allem das Vorhandensein eines Kontingents vollkommen klassenbewusster, initiativer Arbeiter, die, wenn sie auch nicht formell der Partei angehören, so doch faktisch sich an diese anlehnen, und ferner einer merklichen politischen Erregung in den proletarischen und überhaupt in den Volksmassen.

Es darf auch die Frage des Vorhandenseins solcher Elemente in den liberalen Kreisen nicht ignoriert werden, die uns gegebenenfalls direkt oder indirekt unterstützen können.

C Natürlich, unter strikter Beobachtung der Forderungen der Konspiration.

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