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Wladimir I. Lenin 19050329 Über unser Agrarprogramm

Wladimir I. Lenin: Über unser Agrarprogramm

Brief an den III. Parteitag

[„Wperjod" Nr. 12 vom 16./29. März 1905. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 565-569]

Die neue, mit jedem Tage wachsende und sich verstärkende Bauernbewegung rückt wieder die Frage unseres Agrarprogramms in den Vordergrund. Das Grundprinzip dieses Programms kann natürlich keine Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen hervorrufen. Die Partei des Proletariats muss die Bewegung der Bauernschaft unterstützen. Sie wird nie den heutigen adligen Grundbesitz vor dem revolutionären Ansturm der Bauern in Schutz nehmen, aber zugleich damit wird sie stets darauf bedacht sein, auf dem flachen Lande den Klassenkampf zu entwickeln und in diesen Kampf Bewusstsein hinein zu tragen. Diese Grundsätze werden, glaube ich, von allen Sozialdemokraten geteilt. Die Meinungsverschiedenheit beginnt erst da, wo man diese Grundsätze auf die Wirklichkeit anzuwenden hat, wo man sie im Programm entsprechend den Aufgaben des Moments formulieren muss.

Die Wirklichkeit entscheidet am besten alle möglichen theoretischen Meinungsverschiedenheiten, und ich bin überzeugt, dass der schnelle Gang der revolutionären Ereignisse auch diese Meinungsverschiedenheiten über die Agrarfrage innerhalb der Sozialdemokratie beseitigen wird. Es dürfte wohl kaum jemand leugnen, dass es nicht unsere Sache ist, über alle möglichen Agrarreformen zu spintisieren, dass wir vielmehr die Verbindungen mit dem Proletariat festigen, die Bauernbewegung unterstützen müssen, ohne dabei die Eigentumstendenzen des selbständigen Bauern außer Acht zu lassen, Tendenzen, deren Feindseligkeit gegenüber dem Proletariat sich um so schneller und schärfer äußern wird, je schneller die Revolution vorwärtsschreiten wird.

Aber anderseits ist es klar, dass der gegenwärtige revolutionäre Moment eine vollkommen bestimmte konkrete Losung erfordert. Eine solche Losung muss sein die Bildung revolutionärer Bauernkomitees, und das Agrarprogramm unserer Partei hat sehr richtig diese Losung aufgestellt. In der Bauernbewegung gibt es viel Unwissenheit, Unkenntnis, und es wäre äußerst gefährlich, sich in dieser Hinsicht irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Die Unwissenheit der Bauern kommt vor allem zum Ausdruck in der Verkennung der politischen Seite der Bewegung, z. B. in der Verkennung der Tatsache, dass ohne grundlegende demokratische Reformen in der gesamten politischen Ordnung des ganzen Staates keine erfolgreichen Schritte auf dem Wege der Erweiterung des Grundbesitzes möglich sind. Der Bauer braucht Land, und sein revolutionäres Gefühl, sein instinktiver, urwüchsiger Demokratismus kann nicht anders zum Ausdruck kommen, als indem er die Hand auf das Land der Grundherren legt. Das wird natürlich niemand bestreiten. Die Sozialrevolutionäre bleiben bei diesem Satz stehen, anstatt an dieses nebelhafte Bestreben der Bauernschaft mit einer Klassenanalyse heranzugehen. Die Sozialdemokraten behaupten auf Grund einer solchen Analyse, dass die Bauernschaft in ihrer Gesamtheit schwerlich solidarisch über die Forderung der Rückgabe der abgeschnittenen Ländereien (Otreski) hinausgehen kann, da jenseits einer solchen Agrarreform unvermeidlich der Antagonismus zwischen dem Landproletariat und den „tüchtigen Bäuerlein" krass hervortreten wird. Die Sozialdemokraten können natürlich nichts dagegen haben, dass der rebellierende Bauer „mit dem Gutsherrn ganz aufräumt", dass er ihm das ganze Land wegnimmt, aber sie können in einem proletarischen Programm nicht in Abenteurertum verfallen, sie können nicht den Klassenkampf gegen die Eigentümer verschleiern durch rosige Perspektiven solcher Umgestaltungen des Grundbesitzes (mögen sie auch demokratische sein), die sich lediglich als eine Umgruppierung der Klassen oder Kategorien der Eigentümer erweisen werden.

Bisher stand in unserem Programm die Forderung der Rückgabe der Otreski, und in den verschiedenen Kommentaren zum Programm wurde darauf hingewiesen, dass sie keineswegs eine Schranke sind, sondern „eine Türe, um weiterzugehen", dass das Proletariat die Bauernschaft auf diesem weiteren Wege gern unterstützen, aber dabei unbedingt ihren vorübergehenden Bundesgenossen, den selbständigen Bauern, beobachten und auf ihn aufpassen wird, ob er nicht seine Besitzerkrallen hervor streckt. Jetzt, angesichts der revolutionären Ereignisse, entsteht unwillkürlich die Frage: wäre es nicht zweckmäßiger, diesen Grundsatz unserer Taktik aus den Kommentaren in das Programm selbst zu verlegen? Das Programm ist doch immerhin der offizielle parteigültige Ausdruck der Auffassungen der Sozialdemokratie, jeder Kommentar aber stellt notgedrungen mehr oder weniger persönliche Anschauungen des einen oder anderen Sozialdemokraten dar. Wäre es daher nicht vernünftiger, den allgemeineren Grundsatz unserer Politik in dieser Frage in das Programm hineinzubringen und in den Kommentaren die speziellen Maßnahmen, die einzelnen Forderungen, wie z. B. die der Otreski, zu entwickeln?

Um meinen Gedanken konkreter klarzumachen, will ich hier die Formulierung anführen, welche die entsprechende Stelle in unserem Programm annehmen würde: (Die SDAPR fordert vor allem) „…4. Errichtung von revolutionären Bauernkomitees zur Beseitigung aller Überreste der Leibeigenschaft, zur demokratischen Umgestaltung aller Dorfverhältnisse überhaupt und zur Ergreifung revolutionärer Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Bauernschaft, die vor der Wegnahme des Landes von den Gutsherren nicht haltmachen. Die Sozialdemokratie wird die Bauernschaft in allen ihren revolutionär-demokratischen Unternehmungen unterstützen, wobei sie die selbständigen Interessen und die selbständige Organisation des Landesproletariats verteidigen wird."

Bei der vorgeschlagenen Formulierung würde in das Programm das hineinkommen, was bisher gewöhnlich in den Kommentaren entwickelt wurde, dagegen würden die „Otreski" aus dem Programm in die Kommentare kommen. Eine solche Änderung hätte den Vorzug, dass im Programm die Besonderheit der proletarischen Position klarer ausgesprochen wird, Klarheit in einer so wichtigen Frage überwiegt aber alle redaktionellen Unbequemlichkeiten (eine solche Unbequemlichkeit ist die Aufnahme einer Erläuterung in das Programm, die man gewöhnlich in den Kommentar verlegt, statt einer bestimmten Forderung. Es muss übrigens bemerkt werden, dass in unserem Programm solche Erläuterungen bereits vorhanden sind: vgl. z. B. den Punkt über den Kampf gegen Reformen, die mit der Festigung der polizeilich-bürokratischen Bevormundung verbunden sind). Ein Vorzug wäre auch, dass das Programm ein für allemal den sinnlosen Gedanken aus der Welt schaffen würde, als ob die Sozialdemokratie dem Bauern sage, dass er über die Otreski nicht hinausgehen könne und dürfe. Diesen Gedanken muss man durch eine klare Formulierung des Programms aus der Welt schaffen und sich nicht auf eine Erläuterung in den Kommentaren beschränken. Als Mangel der von mir vorgeschlagenen Formulierung könnte erscheinen, dass darin keine bestimmten Methoden zur Expropriierung des Landes angegeben werden. Aber ist es eigentlich ein Mangel?

Die Sozialdemokraten, die über die Agrarfrage schrieben, haben mehr als einmal nachgewiesen, wie unangebracht es ist, uns in dieser Hinsicht in Projektenmacherei einzulassen, denn die wichtigste Maßnahme der Agrarreform – die Nationalisierung des Grund und Bodens – würde in einem Polizeistaate notwendigerweise verzerrt werden und zur Verdunkelung des Klassencharakters der Bewegung dienen. Alle anderen Maßnahmen zur Umgestaltung der Agrarverhältnisse werden jedoch bei Fortbestehen der kapitalistischen Ordnung nur eine Annäherung an die Nationalisierung, nur Teilmaßnahmen, nur einige der möglichen Maßnahmen sein, d. h. solche, auf die sich zu beschränken die Sozialdemokratie gar nicht die Absicht hat. Gegenwärtig sind die Sozialdemokraten gegen die Nationalisierung, und selbst die Sozialrevolutionäre haben unter dem Einfluss unserer Kritik begonnen, sich gegenüber dieser Nationalisierung vorsichtiger zu verhalten (vgl. ihren Programmentwurf mit ihrer früheren „Forschheit").

Worauf es aber ankommt, ist, dass die revolutionäre Bewegung uns zur demokratischen Republik führt, die neben der Aufhebung des stehenden Heeres usw. eine unserer nächsten Forderungen ist.

Bei einer demokratischen Republik aber, bei Bewaffnung des Volkes, bei Verwirklichung anderer ähnlicher republikanischer Maßnahmen kann die Sozialdemokratie sich nicht die Hände binden in Bezug auf die Nationalisierung des Grund und Bodens, Also, der Mangel der von mir vorgeschlagenen Formulierung ist nur ein scheinbarer. In Wirklichkeit bietet sie eine konsequente Klassenlosung für den gegebenen Augenblick – und zwar eine durchaus konkrete Losung – und lässt zugleich vollen Spielraum für jene „revolutionär-demokratischen" Schritte, die sich im Falle einer günstigen Entwicklung unserer Revolution als notwendig oder wünschenswert erweisen können. Gegenwärtig, und auch im weiteren Verlauf bis zum vollen Siege des Bauernaufstandes, muss die revolutionäre Losung notwendigerweise den Antagonismus zwischen Bauer und Grundherrn berücksichtigen; und der Punkt über die Otreski hat diesen Umstand vollkommen richtig unterstrichen, während alle möglichen „Nationalisierungen", „Übertragungen der Rente", „Sozialisierungen" usw. – und darin gerade besteht ihr Mangel den charakteristischen Antagonismus ignorieren und verdunkeln.

Die von mir vorgeschlagene Formulierung erweitert zugleich die Aufgabe der revolutionären Bauernkomitees bis zur „demokratischen Umgestaltung aller Dorfverhältnisse überhaupt". In unserem Programm sind die Bauernkomitees als Losung aufgestellt, wobei sie ganz richtig als bäuerliche charakterisiert sind, d. h. als ständische, denn die ständische Unterdrückung kann nur durch den ganzen niederen unterdrückten Stand vernichtet werden. Liegt aber ein Grund vor, die Aufgaben dieser Komitees auf die Agrarreformen allein zu beschränken? Sollen für die anderen Reformen, z. B. die administrativen usw., andere Komitees geschaffen werden? Das ganze Unglück der Bauern besteht ja, wie ich bereits erwähnt habe, in ihrer völligen Verkennung der politischen Seite der Bewegung. Wenn es gelänge, und sei es auch nur in einzelnen Fällen, erfolgreiche revolutionäre Maßnahmen der Bauern zur Verbesserung ihrer Lage (Konfiskation des Getreides, des Viehs, des Grund und Bodens) mit der Errichtung und der Tätigkeit der Bauernkomitees und mit der vollen Sanktion dieser Komitees durch die revolutionären Parteien (und unter besonders günstigen Umständen durch die provisorische revolutionäre Regierung) zu verbinden, so wäre es möglich, den Kampf um die Gewinnung der Bauern für die demokratische Republik als gewonnen zu betrachten. Ohne diese Gewinnung werden alle revolutionären Schritte der Bauernschaft nicht von Dauer sein, und alle ihre Errungenschaften werden von den am Ruder stehenden Gesellschaftsklassen leicht zurückgenommen werden können.

Schließlich zieht die vorgeschlagene Formulierung, indem sie von der Unterstützung der „revolutionär-demokratischen" Maßnahmen spricht, klar die Grenze zwischen der trügerischen, scheinsozialistischen Äußerlichkeit solcher Maßnahmen, wie die Besitzergreifung des Bodens durch die Bauern, und ihrem wirklichen demokratischen Inhalt. Um zu erkennen, wie wichtig für einen Sozialdemokraten die Durchführung einer solchen Abgrenzung ist, genügt es beispielsweise, an die Stellung von Marx und Engels zur Agrarbewegung in Amerika zu erinnern (Marx im Jahre 1848 über Kriege, Engels 1885 über Henry George)1. Heute wird natürlich niemand den Bauernkrieg um den Grund und Boden, die Jagd nach Grund und Boden (in den halb feudalen Ländern oder in den Kolonien) leugnen wollen. Wir erkennen ihre Berechtigung und ihre Fortschrittlichkeit durchaus an, aber zugleich enthüllen wir ihren demokratischen, d. h. letzten Endes bürgerlich-demokratischen Inhalt, und deshalb bringen wir, indem wir diesen Inhalt unterstützen, unsererseits besondere „Vorbehalte" an, verweisen auf die „selbständige" Rolle der proletarischen Demokratie, auf die besonderen Ziele der Sozialdemokratie, als einer Klassenpartei, die die sozialistische Revolution erstrebt.

Das sind die Erwägungen, auf Grund deren ich den Genossen vorschlage, meinen Antrag auf dem bevorstehenden Parteitag zu besprechen und den entsprechenden Punkt des Programms in dem von mir angedeuteten Sinne zu erweitern.

1 Marx über Kriege, siehe „Der Volkstribun, redigiert von Hermann Kriege in New York" im „Literarischen Nachlass", Bd II S 414–428 (vgl. auch hier). Der Artikel von Marx stammt aus dem Jahre 1846 und nicht 1848, wie es hier irrtümlich heißt. Die Ausführungen von Engels über Henry George finden sich in Engels' (englisch geschriebenem) Vorwort zur amerikanischen Ausgabe seiner „Lage der arbeitenden Klasse in England". Die Red.

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