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Wladimir I. Lenin 19050420 Marx über die amerikanische „Schwarze Umteilung"

Wladimir I. Lenin: Marx über die amerikanische „Schwarze Umteilung"

[Wperjod" Nr. 15, 7./20. April 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 303-310]

In Nr. 12 des „Wperjod" wurde das Auftreten von Marx in der Agrarfrage gegen Kriege erwähnt. Es war dies nicht im Jahre 1848, wie es irrtümlich im Artikel des Genossen –x hieß, sondern 1846. Ein Mitarbeiter von Marx, Hermann Kriege, damals noch ein sehr junger Mensch, siedelte 1845 nach Amerika über und gründete dort die Zeitschrift „Volkstribun", um den Kommunismus zu propagieren. Er führte jedoch diese Propaganda so, dass Marx gezwungen war, namens der deutschen Kommunisten gegen die Kompromittierung der Kommunistischen Partei durch Hermann Kriege entschieden Stellung zu nehmen. Die 1846 im „Westfälischen Dampfboot" veröffentlichte und im zweiten Bande des von Mehring herausgegebenen Marxschen Nachlasses abgedruckte Kritik an der von Kriege eingeschlagenen Richtung ist für die heutigen russischen Sozialdemokraten von ungeheurem Interesse.

Die Sache ist die, dass die Agrarfrage durch den Gang der amerikanischen sozialen Bewegung selbst damals ebenso im Vordergrund stand, wie jetzt in Russland, wobei es sich gerade nicht um eine entwickelte kapitalistische Gesellschaft, sondern um die Schaffung der ursprünglichen Grundbedingungen für eine richtige Entwicklung des Kapitalismus handelte. Dieser letzte Umstand ist besonders wichtig, wenn man eine Parallele ziehen will zwischen der Stellung von Marx gegenüber den amerikanischen Ideen der „Schwarzen Umteilung" und der Stellung der russischen Sozialdemokraten zu der heutigen Bauernbewegung.

Kriege hat in seiner Zeitschrift keinerlei Material geliefert zum Studium der konkreten sozialen Eigentümlichkeiten der amerikanischen Zustände, zur Klarlegung des wahren Charakters der damaligen Bewegung der Agrarreformer, die eine Beseitigung der Rente anstrebten. Dafür kleidete Kriege (ganz wie unsere „Sozialrevolutionäre") die Frage der Agrarrevolution in prunkvolle, großsprecherische Phrasen.

Jeder Arme“ – schrieb Kriege – „wird auf der Stelle in ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft verwandelt, sobald man ihm die Gelegenheit gibt, produzierend tätig zu sein. Diese ist ihm aber für immer gesichert, sobald ihm die Gesellschaft ein Stück Land gibt, darauf er sich und seine Familie ernähren kann … Wird diese ungeheure Bodenfläche (die 1400 Millionen Acres nordamerikanischer Staatsländereien) dem Handel entzogen und in begrenzten Quantitäten der Arbeit zugesichert*, so ist mit einem Schlage der Armut in Amerika ein Ende gemacht…"

Darauf erwiderte Marx:

Dass es nicht in der Macht der Gesetzgeber liegt, durch Dekrete die Fortentwicklung des von Kriege gewünschten patriarchalischen Zustandes zum industriellen Zustande zu hemmen, oder die industriellen und kommerziellen Staaten der Ostküste in die patriarchalische Barbarei zurückzuwerfen, diese Einsicht wäre zu erwarten gewesen."

Wir haben also den regelrechten Plan einer amerikanischen Schwarzen Umteilung vor uns: Entziehung der Bodenmasse aus dem Handel, Recht auf Land, Begrenzung des Bodenbesitzes oder der Bodennutznießung. Marx tritt von Anfang an mit einer nüchternen Kritik des Utopismus hervor, er weist auf die Unvermeidlichkeit einer Umwandlung der patriarchalischen Zustände in industrielle Zustände hin, d. h. auf die Unvermeidlichkeit der Entwicklung des Kapitalismus, wie man heute sagen würde. Es wäre jedoch ein großer Fehler zu glauben, dass die utopistischen Träume der Teilnehmer an der Bewegung Marx veranlasst hätten, sich dieser Bewegung gegenüber überhaupt ablehnend zu verhalten. Nichts dergleichen. Schon damals, ganz am Anfang seiner literarischen Tätigkeit, verstand es Marx, den realen fortschrittlichen Inhalt der Bewegung aus dem Flitterkram ihrer ideologischen Umhüllungen auszusondern. Im zweiten Abschnitt seiner Kritik, betitelt: „Ökonomie (d. h. die politische Ökonomie) des Volkstribunen und seine Stellung zum Jungen Amerika" schrieb Marx:

Wir erkennen die Bewegung der amerikanischen Nationalreformer in ihrer historischen Berechtigung vollständig an. Wir wissen, dass diese Bewegung ein Resultat erstrebt, das zwar für den Augenblick den Industrialismus der modernen bürgerlichen Gesellschaft befördern würde, das aber als Resultat einer proletarischen Bewegung, als Angriff auf das Grundeigentum überhaupt und speziell unter den in Amerika bestehenden Verhältnissen durch seine eigenen Konsequenzen zum Kommunismus fort treiben muss. Kriege, der sich mit den deutschen Kommunisten in New York der Anti-Rent-Bewegung angeschlossen hat, überklebt diese dünne Tatsache mit seinen überschwänglichen Redensarten, ohne sich auf den Inhalt der Bewegung je einzulassen, und beweist dadurch, dass er über den Zusammenhang des Jungen Amerika mit den amerikanischen Verhältnissen sehr unklar ist. Wir führen hier noch ein Beispiel an, wie er eine agrarisch zugestutzte Parzellierung des Grundbesitzes in amerikanischem Maßstabe mit seiner Menschheitsbegeisterung überschüttet.

In Nr. 10, ,Was wir wollen', heißt es: ,Die amerikanischen Nationalreformer nennen den Boden das gemeinschaftliche Erbteil aller Menschen – – und wollen durch die gesetzgebende Macht des Volkes Mittel getroffen wissen, die 1400 Millionen Acres Land, welche noch nicht in die Hände räuberischer Spekulanten gefallen sind, der ganzen Menschheit als unveräußerliches Gemeingut zu erhalten.' Um dies ,gemeinschaftliche Erbteil', dies ,unveräußerliche Gemeingut' in seiner Gemeinschaftlichkeit der ganzen Menschheit zu erhalten, adoptiert er den Plan der Nationalreformer: Jedem Bauer, wes Landes er auch sei, 160 Acker amerikanischer Erde zu seiner Ernährung zu Gebote zu stellen', oder wie dies in Nr. 14, ,Antwort an Conze', ausgedrückt wird: ,Von diesem noch unberührten Gute des Volkes soll niemand mehr als 160 Acker in Besitz nehmen und auch diese nur, wenn er sie selbst bebaut'. Der Boden soll also dadurch ,unveräußerliches Gemeingut' und zwar ,der ganzen Menschheit' bleiben, dass man unverzüglich anfängt, ihn zu teilen. Kriege bildet sich dabei ein, er könne die notwendigen Folgen dieser Teilung, Konzentration, industriellen Fortschritt und dergleichen durch Gesetze verbieten. 160 Acres Land gelten ihm für ein stets gleichbleibendes Maß, als ob der Wert einer solchen Bodenfläche nicht nach ihrer Qualität verschieden sei. Die ,Bauern' werden, wenn auch nicht ihren Boden, doch ihre Bodenprodukte untereinander und mit anderen austauschen müssen, und wenn die Leute so weit gekommen sind, wird es sich bald zeigen, dass der eine ,Bauer' auch ohne Kapital durch seine Arbeit und die größere ursprüngliche Produktivität seiner 160 Acres den andern wieder zu seinem Knechte herabdrückt. Und dann, ist es nicht einerlei, ob ,der Boden' oder die Produkte des Bodens ,in die Hände räuberischer Spekulanten fallen'? Nehmen wir einmal Krieges Geschenk an die Menschheit ernsthaft. 1400 Millionen Acres sollen ,der ganzen Menschheit als unveräußerliches Gemeingut' erhalten werden. Und zwar sollen auf jeden ,Bauer' 160 Acres kommen. Hiernach lässt sich berechnen, wie stark Krieges ,ganze Menschheit' ist – genau Millionen ,Bauern', die als Familienväter jeder eine Familie von fünf Köpfen, also eine Gesamtmasse von 43¾ Millionen Menschen repräsentieren. Wir können ebenfalls berechnen, wie lange die ,alle Ewigkeit' dauert, für deren Dauer ,das Proletariat in seiner Eigenschaft als Menschheit die ganze Erde', wenigstens in den Vereinigten Staaten, in Anspruch nehmen kann. Wenn die Bevölkerung der Vereinigten Staaten in demselben Maße zunimmt, wie bisher, das heißt sich in fünfundzwanzig Jahren verdoppelt, so dauert diese ,alle Ewigkeit' nicht volle 40 Jahre; in dieser Zeit sind diese 1400 Millionen Acres okkupiert, und es bleibt den Nachfolgenden nichts mehr ,in Anspruch zu nehmen'. Da aber die Freigebung des Bodens die Einwanderung sehr vermehren würde, so könnte Krieges ,Ewigkeit' schon eher ,alle' werden; besonders wenn man bedenkt, dass Land für 44 Millionen Menschen nicht einmal für den jetzt existierenden europäischen Pauperismus ein zureichender Abzugskanal sein würde, da in Europa der zehnte Mann ein Pauper ist und die britischen Inseln allein 7 Millionen liefern. Eine ähnliche ökonomische Naivität findet sich in Nr. 13: ,An die Frauen', wo Kriege meint, wenn die Stadt New York ihre 52.000 Acker auf Long Island freigäbe, so reiche das hin, um ,mit einem Male' New York von allem Pauperismus, Elend und Verbrechen auf ewig zu befreien.

Hätte Kriege die Bodenbefreiungs-Bewegung als eine unter bestimmten Verhältnissen notwendige erste Form der proletarischen Bewegung, als eine Bewegung gefasst, die durch die Lebensstellung der Klasse, von der sie ausgeht, notwendig zu einer kommunistischen sich fortentwickeln muss, hätte er gezeigt, wie die kommunistischen Tendenzen in Amerika ursprünglich in dieser scheinbar allem Kommunismus widerstrebenden agrarischen Form auftreten mussten: so wäre nichts dagegen zu sagen gewesen. So aber erklärt er eine allerdings noch untergeordnete Bewegungsform bestimmter wirklicher Menschen für eine Sache der Menschheit, stellt sie wider sein besseres Wissen als letztes, höchstes Ziel aller Bewegung überhaupt hin und verwandelt dadurch die bestimmten Zwecke der Bewegung in baren überschwänglichen Unsinn. Er singt indes ungestört in demselben Aufsatz (Nr. 10) seinen Triumphgesang weiter: ,Also damit gingen endlich die alten Träume der Europäer in Erfüllung, es würde ihnen auf dieser Seite des Ozeans eine Stätte bereitet, die sie nur zu beziehen und mit ihrer Hände Arbeit zu befruchten brauchten, um allen Tyrannen der Welt mit Stolz entgegen rufen zu können:

Das ist meine Hütte,

Die ihr nicht gebaut,

Das ist mein Herd,

Um dessen Glut ihr mich beneidet'.

Er hätte hinzufügen können: Das ist mein Misthaufen, den ich und mein Weib, Kind, Knecht und Vieh produziert haben. Welche Europäer sind es denn aber, deren ,Träume' hier in Erfüllung gehen? Nicht die kommunistischen Arbeiter, sondern bankrotte Krämer und Handwerksmeister oder ruinierte Kotsassen, die nach dem Glücke streben, in Amerika wieder Kleinbürger und Bauern zu werden. Und was für ein ,Wunsch' ist es, der durch die 1400 Millionen Acres realisiert werden soll? Kein anderer als der, alle Menschen in Privateigentümer zu verwandeln, ein Wunsch, der ebenso unausführbar und kommunistisch ist, wie der, alle Menschen in Kaiser, Könige und Päpste zu verwandeln."

Die Kritik von Marx ist voll beißenden Sarkasmus. Marx geißelt Kriege gerade wegen jener Züge seiner Anschauungen, die wir jetzt bei unseren „Sozialrevolutionären" sehen: Herrschaft der Phrase, kleinbürgerliche Utopien, hingestellt als höchster revolutionärer Utopismus, Verkennung der realen Grundlagen der heutigen Wirtschaftsordnung und ihrer Entwicklung. Mit wunderbarem Scharfblick weist Marx, der damals erst ein angehender Ökonomist war, auf die Rolle des Austausches, der Warenwirtschaft hin. Wenn nicht den Boden, sagt er, so werden die Bauern doch ihre Bodenprodukte austauschen müssen, und damit ist bereits alles gesagt! Diese ganze Fragestellung ist in sehr, sehr vielem auf die russische Bauernbewegung und ihre kleinbürgerlichen „sozialistischen" Ideologen anwendbar.

Marx ist gleichzeitig jedoch weit entfernt von einer einfachen „Verneinung", von einer doktrinären Ignorierung dieser kleinbürgerlichen Bewegung, von der vielen Bibelfesten eigentümlichen Furcht, sich durch die Berührung mit der revolutionären kleinbürgerlichen Demokratie die Finger zu beschmutzen. Indem Marx die Unsinnigkeit der ideologischen Verkleidungen der Bewegung schonungslos verspottet, sucht er materialistisch nüchtern ihren wirklichen historischen Inhalt, ihre unvermeidlichen Folgen, die vermöge der objektiven Bedingungen, unabhängig von dem Willen und Bewusstsein, von den Schwärmereien und Theorien der einen oder anderen Personen, eintreten mussten, zu bestimmen. Marx tadelt daher nicht, sondern billigt vielmehr durchaus die Unterstützung dieser Bewegung durch die Kommunisten. Auf dem dialektischen Standpunkte stehend, d. h. die Bewegung von allen Seiten betrachtend, sowohl die Vergangenheit wie die Zukunft berücksichtigend, betont Marx die revolutionäre Seite des Angriffs gegen das Grundeigentum; erkennt er die kleinbürgerliche Bewegung als eine eigenartige, ursprüngliche Form der proletarischen, kommunistischen Bewegung an. Das, was ihr durch diese Bewegung erreichen zu können glaubt, sagt Marx, sich an Kriege wendend, werdet ihr nicht erreichen – statt der Brüderlichkeit wird die kleinbürgerliche Absonderung eintreten, statt der Unveräußerlichkeit der Bauernanteile die Hineinziehung des Grund und Bodens in den Handel, statt eines Schlages gegen die räuberischen Spekulanten die Erweiterung der Basis für die kapitalistische Entwicklung. Aber jenes kapitalistische Übel, das ihr vergeblich zu vermeiden vermeint, ist historisch etwas Gutes, denn es wird die gesellschaftliche Entwicklung ungeheuer beschleunigen und neue, höhere Formen der kommunistischen Bewegung um ein Vielfaches näher bringen Der dem Grundeigentum versetzte Schlag wird die unvermeidlichen weiteren Schläge gegen das Eigentum überhaupt erleichtern; das revolutionäre Auftreten der unteren Klasse mit einer Umgestaltung, die vorübergehend bei weitem nicht allen ein bescheidenes Wohlergehen sichert, wird das unausbleibliche weitere revolutionäre Auftreten der untersten Klasse mit einer Umgestaltung, die tatsächlich das volle menschliche Glück allen Werktätigen sichern wird, erleichtern.

Für uns russische Sozialdemokraten muss die Marxsche Fragestellung gegenüber Kriege als Muster dienen. Der tatsächliche kleinbürgerliche Charakter der gegenwärtigen Bauernbewegung in Russland unterliegt keinem Zweifel; das müssen wir mit aller Kraft und rücksichtslos klarlegen, unversöhnlich gegen alle Illusionen aller „Sozialrevolutionäre" oder primitiver Sozialisten in dieser Hinsicht ankämpfen. Eine besondere Organisation der selbständigen Partei des Proletariats, die durch alle demokratischen Umwälzungen hindurch die völlige sozialistische Revolution anstrebt, muss unser ständiges, keinen Augenblick aus dem Auge zu verlierendes Ziel sein. Aber deshalb der Bauernbewegung den Rücken kehren zu wollen, wäre hoffnungslosestes Philistertum und Pedanterie. Nein, der revolutionär-demokratische Charakter dieser Bewegung ist unzweifelhaft, und wir müssen sie mit allen Kräften unterstützen, entwickeln, sie zu einer politisch zielbewussten und klassenmäßig bestimmten machen, sie vorwärtstreiben, mit ihr zusammengehen, Hand in Hand bis zum Schluss – denn wir gehen viel weiter als bis zum Ende irgendeiner Bauernbewegung, wir gehen bis zum vollen Ende der Teilung der Gesellschaft selbst in Klassen. Es dürfte kaum ein anderes Land auf der Welt geben, wo die Bauernschaft solche Leiden, eine solche Unterdrückung und Erniedrigung wie in Russland auszustehen hätte. Je unerträglicher diese Unterdrückung war, um so machtvoller wird jetzt das Erwachen, um so unwiderstehlicher der revolutionäre Ansturm der Bauern sein. Es ist Sache des klassenbewussten revolutionären Proletariats, diesen Ansturm mit allen Kräften zu unterstützen, damit er von dem alten, verfluchten, feudal-absolutistischen sklavischen Russland nicht einen Stein auf dem anderen lasse, damit er eine neue Generation freier und kühner Menschen schaffe, ein neues republikanisches Land, in dem unser proletarischer Kampf um den Sozialismus sich frei entfalten kann.

* Man erinnere sich, was die „Rewoluzionnaja Rossija", von Nr. 8 angefangen, über die Überleitung des Bodens vom Kapital zur Arbeit, über die Bedeutung der Staatsländereien in Russland, über die ausgleichende Bodennutzung, über die bürgerliche Idee der Einbeziehung des Grund und Bodens in den Handelsverkehr usw. geschrieben hat. Ganz wie Kriege!

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