Lenin‎ > ‎1905‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19051010 Blutige Tage in Moskau

Wladimir I. Lenin: Blutige Tage in Moskau1

[Geschrieben am 27. September/10. Oktober 1905. Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Leninski Sbornik", Nr. 5. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 8, Wien-Berlin 1931, S. 373-379]

Genf, 27. IX./10. X. 1905

Ein neues Auflodern des Arbeiteraufstandes – Massenstreik und Straßenkampf in Moskau. Am 9./22. Januar erdröhnte in der Hauptstadt der erste Donner der revolutionären Aktion des Proletariats. Das Dröhnen dieses Donners ging durch ganz Russland, mit einer nie dagewesenen Schnelligkeit mehr als eine Million Proletarier zu einem gigantischen Kampfe aufrüttelnd. Nach Petersburg folgten die Grenzgebiete, wo die nationale Unterdrückung das ohnehin unerträgliche politische Joch noch verschärfte. Riga, Polen, Odessa, der Kaukasus wurden der Reihe nach zu Herden des Aufstandes, der mit jedem Monat, mit jeder Woche an Breite und Tiefe zunahm. Jetzt ist das Zentrum Russlands erfasst, das Herz der „echt russischen" Gebiete, deren Unerschütterlichkeit die Reaktionäre bis zuletzt mit Rührung erfüllte. Eine ganze Reihe von Umständen erklärt diese verhältnismäßige Unerschütterlichkeit, d.h. Rückständigkeit des Zentrums Russlands: die weniger entwickelten Formen der Großindustrie, die zwar gewaltige Arbeitermassen erfasst, aber den Zusammenhang mit dem Lande weniger zerrissen und die Proletarier nicht in dem Maße wie anderswo in den geistigen Mittelpunkten konzentriert hat, die große Entfernung vom Auslande und das Fehlen nationaler Gegensätze. Die Arbeiterbewegung, die in diesem Gebiete schon in den Jahren 1885/86 mit einer gewaltigen Kraft aufgetreten war, schien für lange Zeit erstarrt zu sein, und die Anstrengungen der Sozialdemokraten scheiterten dutzende- und hunderte Mal an dem Widerstand der besonders schwierigen örtlichen Bedingungen ihrer Tätigkeit.

Doch ist schließlich auch das Zentralgebiet in Bewegung geraten. Der Streik in Iwanowo-Wosnessensk hat die unerwartet hohe politische Reife der Arbeiter gezeigt. Nach diesem Streik verlief die Gärung im ganzen zentralen Industriegebiet bereits im Zeichen ununterbrochener Verschärfung und Ausbreitung. Jetzt hat diese Gärung begonnen, offen zutage zu treten und sich in den Aufstand zu verwandeln. Ohne Zweifel wurde das Auflodern noch von der revolutionären Moskauer Studentenschaft verschärft, die eben eine der Petersburger völlig analoge Resolution angenommen hat, in der die Reichsduma gebrandmarkt und zum Kampfe für die Republik, zur Errichtung einer provisorischen revolutionären Regierung aufgefordert wird. Die „liberalen" Professoren, die soeben einen höchst liberalen Rektor, den berüchtigten Herrn Trubezkoi, gewählt hatten, schlossen unter dem Druck der polizeilichen Drohungen die Universität; sie fürchteten, wie sie sagten, die Wiederholung der Tifliser Schlacht in den Räumen der Universität. Sie beschleunigten nur das Blutvergießen auf den Straßen, außerhalb der Universität.

Soweit wir nach den kurzen telegraphischen Berichten der ausländischen Zeitungen urteilen können, war der Gang der Ereignisse in Moskau der „gewohnte", der nach dem 9./22. Januar sozusagen zur Norm geworden ist. Es begann mit dem Streik der Setzer, der rasch um sich griff. Am Sonnabend, den 24. September/7. Oktober, hatten bereits die Druckereien, Straßenbahnen und Tabakfabriken die Arbeit eingestellt. Die Zeitungen erschienen nicht. Man erwartete den Generalstreik der Industriearbeiter und Eisenbahner. Am Abend fanden große Manifestationen statt, an denen außer den Setzern auch die Arbeiter anderer Berufe, Studenten u. a., teilnehmen. Kosaken und Gendarmen trieben die Demonstranten viele Male auseinander, doch diese versammelten sich von neuem. Viele Polizisten wurden verwundet. Die Demonstranten warfen Steine und feuerten aus Revolvern. Der Offizier, der die Gendarmen befehligte, ist schwer verwundet. Ein Kosakenoffizier, ein Gendarm usw. wurden getötet.

Am Sonnabend schlossen sich die Bäcker dem Streik an.

Am Sonntag, den 25. September/8. Oktober, nahmen die Ereignisse plötzlich eine drohende Wendung. Von 11 Uhr morgens an begann die Ansammlung der Arbeiter auf den Straßen, besonders auf dem Strastnoi Boulevard und an anderen Stellen.

Die Menge sang die Marseillaise. Die Druckereien, die sich zu streiken weigerten, wurden zerstört. Erst nach äußerst hartnäckigem Widerstand gelang es den Kosaken, die Demonstranten zu zerstreuen.

Vor dem Kaufhaus Filippow, in der Nähe des Hauses des Generalgouverneurs, versammelte sich eine Menge von 400 Personen, hauptsächlich Bäckergesellen. Die Kosaken attackierten die Menge. Die Arbeiter drangen in die Häuser ein, stiegen auf die Dächer und warfen von dort aus Steine auf die Kosaken. Die Kosaken schossen auf das Dach eines Hauses, und da sie nicht imstande waren, die Arbeiter heraus zu treiben, nahmen sie zu einer richtiggehenden Belagerung Zuflucht. Das Haus wurde umzingelt, eine Polizeiabteilung und zwei Kompanien Grenadiere führten eine Umgehungsbewegung aus, drangen von hinten ins Haus ein und besetzten schließlich auch das Dach. Es wurden 192 Gesellen verhaftet. Acht Verhaftete sind verwundet; zwei Arbeiter wurden getötet (wir wiederholen, dass das ausschließlich telegraphische Mitteilungen ausländischer Zeitungen sind, die natürlich von der Wahrheit weit entfernt sind und nur eine annähernde Vorstellung vom Ausmaße der Schlacht geben). Eine solide belgische Zeitung bringt die Mitteilung, dass die Hauswarte eifrig mit der Reinigung der Straßen von den Blutspuren beschäftigt waren; dieses kleine Detail – schreibt sie – zeugt mehr als lange Berichte vom Ernst des Kampfes.

Wie es scheint, war es den Petersburger Zeitungen erlaubt, über den Kampf auf der Twerskaja zu schreiben. Doch schon am nächsten Tage fürchtete die Zensur die Veröffentlichung. Vom Montag, den 26. September/9. Oktober, an berichteten die offiziellen Depeschen, es habe in Moskau keine ernsten Unruhen gegeben. Doch telefonisch kamen an die Redaktionen der Petersburger Zeitungen andere Nachrichten. Die Menge, so stellte es sich heraus, versammelte sich von Neuem in der Nähe des Hauses des Generalgouverneurs. Es kam zu heftigen Zusammenstößen. Die Kosaken feuerten mehr als einmal. Beim raschen Reiten der Kosaken wurden viele Leute von ihren Pferden niedergetreten. Gegen Abend erfüllten die Arbeitermassen, unter entrollten roten Fahnen, die Boulevards mit revolutionären Rufen. Die Menge plünderte die Bäckereien und die Waffenläden. Schließlich wurde die Menge von der Polizei zerstreut. Es gab viele Verwundete. Die Zentrale Telegraphenstation wird von einer Kompanie Soldaten beschützt. Der Streik der Bäcker ist allgemein geworden. Die Gärung unter den Studenten verstärkt sich noch immer, die Versammlungen werden immer zahlreicher und immer revolutionärer. Der Petersburger Korrespondent der Times" berichtet von zum Kampfe aufrufenden Proklamationen in Petersburg, von der Gärung unter den dortigen Bäckern, von der Festsetzung einer Demonstration auf Sonnabend, den 1./14 Oktober, und von der äußerst beunruhigenden Stimmung der Bevölkerung.

Wie spärlich diese Nachrichten auch sind, so erlauben sie doch, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass das Auflodern des Aufstandes in Moskau im Vergleich zu den anderen Aufständen keine höhere Stufe der Bewegung darstellt. Es gab weder eine Aktion darauf vorbereiteter und gut bewaffneter revolutionärer Kampfabteilungen noch ein Übergehen wenigstens gewisser Truppenteile auf die Seite des Volkes oder eine umfassende Anwendung der „neuen" Art der Volkswaffe, der Bomben (die am 26. September/9. Oktober in Tiflis den Kosaken und Soldaten einen solchen Schrecken einjagten). Bei dem Fehlen auch nur einer dieser Bedingungen konnte weder mit der Bewaffnung einer großen Zahl von Arbeitern noch auf den Sieg des Aufstandes gerechnet werden. Die Bedeutung der Moskauer Ereignisse ist, wie wir bereits bemerkt haben, eine andere: sie bedeuten die Feuertaufe eines großen Zentrums, die Hineinziehung eines gewaltigen Industriebezirks in den Kampf.

Das Wachsen des Aufstandes in Russland verläuft nicht und kann natürlich auch nicht in einem gleichmäßigen und geradlinigen Aufschwung verlaufen. Am 9./22. Januar war in Petersburg das vorherrschende Merkmal die rasche und einmütige Bewegung ungeheurer Massen, die unbewaffnet waren und nicht in den Kampf traten, aber eine große Lehre für den Kampf erhielten. In Polen und im Kaukasus zeichnet sich die Bewegung durch eine gewaltige Hartnäckigkeit und eine verhältnismäßig häufigere Verwendung von Waffen und Bomben durch die Bevölkerung aus. In Odessa bestand das besondere Merkmal im Übergang eines Teiles der Truppen zu den Aufständischen. In allen Fällen und immer war die Bewegung im Grunde proletarisch und unverbrüchlich mit dem Massenstreik verschmolzen. In Moskau2 verlief die Bewegung in demselben Rahmen wie in einer ganzen Reihe anderer, weniger großer Industriezentren.

Vor uns taucht jetzt naturgemäß die Frage auf: wird die revolutionäre Bewegung auf diesem bereits erreichten, „üblich" und vertraut gewordenen Entwicklungsstadium stehenbleiben oder wird sie sich auf eine höhere Stufe erheben? Wenn man sich überhaupt auf das Gebiet der Einschätzung so komplizierter und unübersichtlicher Ereignisse wagen kann, wie es die Ereignisse der russischen Revolution sind, so gelangen wir unvermeidlich zu der ungleich größeren Wahrscheinlichkeit der zweiten Antwort auf diese Frage. Es ist wahr, auch die vorhandene und, wenn man sich so ausdrücken darf, bereits erlernte Kampfform – Partisanenkampf, unaufhörliche Streiks, Erschöpfung der Kräfte des Feindes im Straßenkampf bald an dem einen, bald an dem anderen Ende des Landes – auch diese Kampfform ergab und ergibt die ernsthaftesten Resultate. Kein Staat hält à la longue3 diesen hartnäckigen Kampf aus, der das industrielle Leben lahmlegt, in die Bürokratie und in die Armee völlige Demoralisation hinein trägt und in allen Volkskreisen Unzufriedenheit mit der Lage der Dinge sät. Um so weniger ist die russische absolutistische Regierung fähig, einen solchen Kampf auszuhalten. Wir können völlig überzeugt sein, dass die beharrliche Fortführung des Kampfes auch nur in den Formen, die von der Arbeiterbewegung bereits hervorgebracht worden sind, unvermeidlich zum Zusammenbruch des Zarismus führen wird.

Doch ist es im höchsten Grade unwahrscheinlich, dass die revolutionäre Bewegung im modernen Russland auf der Stufe stehen bleiben wird, die sie heute bereits erreicht hat. Im Gegenteil, alle Angaben sprechen eher dafür, dass dies nur eine der ersten Stufen des Kampfes ist. Noch haben sich alle Folgen des schmachvollen und verderblichen Krieges im Volke bei weitem nicht ausgewirkt. Die Wirtschaftskrise in den Städten und der Hunger auf dem Lande steigern die Erbitterung ungeheuer. Die Mandschurische Armee ist nach allen Nachrichten äußerst revolutionär gestimmt, und die Regierung fürchtet sich, sie zurückzurufen; aber es ist unmöglich, diese Armee nicht zurückzurufen, denn es drohen sonst neue und ernsthafte Aufstände. Noch nie wurde die politische Agitation unter den Arbeitern und der Bauernschaft Russlands in so breitem Maßstabe, so planmäßig und so gründlich geführt wie jetzt. Die Komödie der Reichsduma wird der Regierung unvermeidlich neue Niederlagen bringen und in der Bevölkerung neue Erbitterung hervorrufen. Der Aufstand ist vor unseren Augen im Verlaufe von etwa zehn Monaten ungeheuer angewachsen, und weder eine Phantasie noch ein frommer Wunsch, sondern eine direkte und unbedingte Schlussfolgerung aus den Tatsachen des Massenkampfes ist die Feststellung, dass der Aufstand sich binnen kurzem auf eine neue, höhere Stufe erheben wird, wo die Kampfabteilungen der Revolutionäre oder aufständische Truppenteile der Volksmasse zu Hilfe kommen, ihr helfen werden, sich Waffen zu verschaffen, und in die Reihen der „zaristischen" Truppen (noch zaristischen, doch schon bei weitem nicht mehr ganz zarischen) die größten Schwankungen tragen werden, so dass der Aufstand zu einem ernsthaften Siege führen wird, von dem sich der Zarismus nicht mehr wird erholen können.

Die zaristischen Truppen haben in Moskau den Sieg über die Arbeiter davongetragen. Doch dieser Sieg hat die Besiegten nicht entkräftet, sondern sie nur fester zusammengeschweißt, den Hass tiefer gepflanzt und die Arbeiter den praktischen Aufgaben eines ernsten Kampfes näher gebracht. Dieser Sieg ist einer von jenen, die in die Reihen der Sieger Schwankungen bringen müssen. Das Militär beginnt erst jetzt zu erkennen, und zwar nicht nur auf Grund der Gesetze, sondern auch aus eigener Erfahrung, dass es jetzt gänzlich und ausschließlich zum Kampf gegen den „inneren Feind" mobilisiert wird. Der Krieg mit Japan ist zu Ende. Doch die Mobilmachung dauert fort, die Mobilmachung gegen die Revolution. Wir fürchten eine solche Mobilmachung nicht, wir stehen nicht an, sie zu begrüßen, denn je größer die Zahl der Soldaten sein wird, die zum systematischen Kampfe gegen das Volk aufgerufen wird, desto schneller wird die politische und revolutionäre Aufklärung dieser Soldaten vor sich gehen. Durch die Mobilmachung immer neuer Truppenteile zum Kriege gegen die Revolution schiebt der Zarismus die Lösung hinaus, doch dieses Hinausschieben ist am vorteilhaftesten für uns; denn in diesem langwierigen Partisanenkrieg lernen die Proletarier kämpfen, während die Truppen unvermeidlich ins politische Leben hineingezogen werden. Und der Ruf dieses Lebens, der Kampfruf des jungen Russland, wird sogar in die fest verschlossenen Kasernen dringen und die Unaufgeklärtesten, Zurückgebliebensten und Hilf losesten wecken.

Das Auflodern des Aufstandes ist noch einmal unterdrückt worden. Noch einmal: Es lebe der Aufstand!

1 Dieser Artikel stellt den ursprünglichen Entwurf des Artikels „Politischer Streik und Straßenkampf in Moskau" dar und wurde zwei Tage früher geschrieben. Lenin hatte für diesen Artikel aus den Berichten der russischen und ausländischen Presse ein riesiges Material gesammelt. Doch wurde das Material geteilt und noch für einen zweiten Artikel „Die Lehren der Moskauer Ereignisse" verwertet.

2 Einige durchgestrichene Worte sind nicht zu entziffern. D. Red.

3 Auf die Länge. D. Red.

Kommentare