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Wladimir I. Lenin 19051017 Politischer Streik und Straßenkampf in Moskau

Wladimir I. Lenin: Politischer Streik und Straßenkampf in Moskau1

[Proletarij", Nr. 21, 4./17. Oktober 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 389-398]

Die revolutionären Ereignisse in Moskau sind das erste Wetterleuchten, das das neue Kampffeld erhellt hat. Der Erlass des Gesetzes über die Reichsduma und der Friedensschluss kennzeichneten den Beginn einer neuen Periode in der Geschichte der russischen Revolution. Die liberale Bourgeoisie, bereits ermüdet durch den hartnäckigen Kampf der Arbeiter und beunruhigt durch das Gespenst der „permanenten Revolution", atmete erleichtert auf und griff mit Freuden nach dem ihr hingeworfenen Almosen. Auf der ganzen Linie setzte ein Kampf gegen die Boykottidee ein, es begann eine offene Schwenkung des Liberalismus nach rechts. Leider fanden sich sogar unter den Sozialdemokraten schwankende Gestalten (im Lager der Neu-Iskristen), die bereit waren, diese bürgerlichen Verräter an der Revolution unter bestimmten Bedingungen zu unterstützen und die Reichsduma „ernst zu nehmen". Man darf hoffen, dass die Ereignisse in Moskau die Kleingläubigen beschämen und den Zweiflern helfen werden, die Lage auf dem neuen Kampffelde richtig zu beurteilen. Sowohl die Träumereien der blutarmen Intellektuellen von der Möglichkeit allgemeiner Volkswahlen unter dem Absolutismus als auch die Illusionen der stumpfsinnigen Liberalen von der zentralen Bedeutung der Reichsduma zerfallen bei der ersten größeren revolutionären Aktion des Proletariats in nichts.

Unsere Information über die Moskauer Ereignisse ist heute (am 12. Oktober neuen Stils) noch sehr kärglich. Sie beschränkt sich auf kurze und vielfach widerspruchsvolle Mitteilungen ausländischer Zeitungen und auf die durch die Zensur gesiebten Berichte der legalen Presse über den Beginn der Bewegung. Sicher ist das eine: der Kampf der Moskauer Arbeiter nahm in seinem Anfangsstadium den gleichen Weg, der im Laufe des letzten Revolutionsjahres schon üblich geworden ist. Die Arbeiterbewegung drückte der ganzen russischen Revolution ihren Stempel auf. Mit vereinzelten Streiks beginnend, entwickelte sie sich schnell, einerseits bis zu Massenstreiks, anderseits bis zu Straßendemonstrationen. Im Jahre 1905 erscheint der politische Streik bereits als voll entwickelte Form der Bewegung und verwandelt sich vor unseren Augen in den Aufstand. Wenn die gesamte Arbeiterbewegung in Russland zehn Jahre brauchte, um die gegenwärtige (natürlich bei weitem noch nicht letzte) Stufe zu erreichen, so erhebt sich gegenwärtig die Bewegung in einzelnen Teilen des Landes in einigen Tagen vom einfachen Streik zum gigantischen revolutionären Ausbruch.

Den Streik der Setzer in Moskau haben, wie uns mitgeteilt wird, die unaufgeklärten Arbeiter begonnen. Jedoch entglitt die Bewegung bald ihren Händen und wurde zu einer Bewegung des gesamten Berufszweiges. Arbeiter anderer Berufe schließen sich an. Das unvermeidliche Hinausgehen der Arbeiter auf die Straße, sei es auch nur, um die über den Streik noch nicht informierten Genossen zu verständigen, verwandelt sich in eine politische Demonstration mit revolutionären Liedern und Reden. Die lange zurückgehaltene Erbitterung über die niederträchtige Komödie der „Volks"-Wahlen zur Reichsduma kommt zum Durchbruch. Der Massenstreik wächst an zu einer Massenmobilmachung von Kämpfern für die wahre Freiheit. Auf der Bildfläche erscheint die radikale Studentenschaft, die auch in Moskau kürzlich eine Resolution angenommen hat, die der Petersburger Resolution ganz ähnlich ist. Diese Resolution brandmarkt, wie sich's gehört, in der Sprache freier Bürger und nicht kriecherischer Beamten, die Reichsduma als eine freche Verhöhnung des Volkes, ruft zum Kampfe für die Republik und zur Einberufung einer wirklich vom ganzen Volke gewählten konstituierenden Versammlung durch eine provisorische revolutionäre Regierung auf. Es beginnt der Straßenkampf des Proletariats und der fortgeschrittenen Schichten der revolutionären Demokratie gegen die zaristische Soldateska und die Polizei.

So war die Entwicklung der Bewegung in Moskau. Am Sonnabend, den 24. September/7. Oktober, streikten bereits außer den Setzern die Tabakfabriken und die elektrischen Straßenbahnen; es begann der Streik der Bäcker. Am Abend fanden große Manifestationen statt, denen sich neben Arbeitern und Studenten große Massen „Fernstehender" anschlossen (man hat schon aufgehört, revolutionäre Arbeiter und radikale Studenten bei öffentlichen Volksaktionen als einander Fernstehende zu betrachten). Kosaken und Gendarmen trieben die Manifestanten fortwährend auseinander, aber diese sammelten sich immer aufs Neue. Die Menge schlug die Polizei und die Kosaken zurück, es fielen Revolverschüsse, viele Polizisten wurden verwundet.

Am Sonntag, den 25. September/8. Oktober, nahmen die Ereignisse plötzlich eine bedrohliche Wendung. Um 11 Uhr morgens begannen Arbeiteransammlungen in den Straßen. Die Menge singt die Marseillaise. Revolutionäre Meetings werden veranstaltet. Druckereien, die sich zu streiken weigerten, werden zerstört. Das Volk stürmt Bäckereien und Waffenläden: die Arbeiter brauchen Brot, um zu leben, und Waffen, um für die Freiheit zu kämpfen (ganz so wie es in dem französischen Revolutionsliede heißt). Erst nach Überwindung des hartnäckigen Widerstandes der Manifestanten gelingt es den Kosaken, die Menge zu zerstreuen. Auf der Twerskaja, neben dem Hause des Generalgouverneurs, findet eine wahre Schlacht statt. Neben der Konditorei von Filippow versammelt sich ein Haufe von Bäckergesellen. Wie die Verwaltung dieser Konditorei später angab, traten die Arbeiter friedlich auf die Straße und stellten aus Solidarität mit den übrigen Streikenden die Arbeit ein. Eine Kosakenabteilung überfällt die Menge. Die Arbeiter dringen in das Haus ein, steigen auf das Dach, auf den Boden und bewerfen die Soldaten mit Steinen. Es erfolgt eine regelrechte Belagerung des Hauses. Die Soldaten schießen auf die Arbeiter. Alle Verbindungen werden unterbrochen. Zwei Kompanien Grenadiere machen ein Umgehungsmanöver, dringen von hinten in das Haus ein und erobern die feindliche Stellung. 192 Gesellen werden verhaftet, darunter acht Verwundete. Zwei Arbeiter sind tot. Auf der Seite der Polizei und der Truppen gibt es Verwundete; tödlich verwundet ist ein Gendarmerierittmeister.

Natürlich sind diese Nachrichten äußerst lückenhaft. Nach Privattelegrammen, die einige ausländische Zeitungen veröffentlichen, kannten die Grausamkeiten der Kosaken und der Soldaten keine Grenzen. Die Verwaltung der Filippowschen Konditorei erhebt Protest gegen die durch nichts hervorgerufenen Ausschreitungen der Truppen. Ein solides belgisches Blatt berichtet, dass die Hauswarte mit der Reinigung der Straßen von den Blutspuren beschäftigt waren: dieses kleine Detail, schreibt das Blatt, zeugt mehr als manche lange Berichte für den Ernst des Kampfes. Der „Vorwärts" berichtet auf Grund von an die Zeitungen gelangten privaten Meldungen, dass auf der Twerskaja 10.000 Streikende gegen ein Bataillon Infanterie gekämpft haben.2 Die Truppen gaben mehrere Salven ab. Die Wagen der „Ersten Hilfe" waren mit Arbeit überbürdet. Die Zahl der Toten wird mit mindestens 50, die der Verwundeten mit 600 angegeben. Man berichtet, dass die Verhafteten in die Kasernen abgeführt und unbarmherzig, viehisch geschlagen wurden, dass sie Spießruten laufen mussten. Man berichtet, dass sich die Offiziere während des Straßenkampfes durch unmenschliche Grausamkeit sogar Frauen gegenüber ausgezeichnet haben (Telegramm des Sonderberichterstatters des konservativ-bürgerlichen „Temps" aus Petersburg vom 27. September/10. Oktober).3

Über die Ereignisse der folgenden Tage werden die Nachrichten immer spärlicher. Die Erbitterung der Arbeiter ist ungeheuer gestiegen, die Bewegung wächst; die Regierung ist bemüht, alle Nachrichten zu verbieten und mit allen Mitteln zu unterbinden. Die ausländischen Zeitungen hoben direkt den Widerspruch hervor zwischen den beruhigenden Nachrichten der Regierungsagenturen (denen sie eine Zeitlang vertrauten) und den aus Petersburg telefonisch übermittelten Nachrichten. Gaston Leroux telegraphierte der Pariser Zeitung „Matin", die Zensur vollbringe Wunder, um die Verbreitung auch nur irgendwie alarmierender Nachrichten zu verhindern. Montag, den 26. September/9. Oktober, – schreibt er – gab es einen der blutigsten Tage in der Geschichte Russlands. In allen Hauptstraßen wurde gekämpft, sogar neben dem Hause des Generalgouverneurs. Die Manifestanten entfalteten ein rotes Banner. Es hat viele Tote und Verwundete gegeben.4

Die Mitteilungen anderer Blätter sind widersprechend. Sicher ist nur, dass der Streik zunimmt. Die Mehrzahl der Arbeiter in den Werkstätten und Fabriken schließt sich ihm an. Es streiken die Eisenbahner. Der Streik wird allgemein (Dienstag, den 27. September/10. Oktober, und Mittwoch).

Die Lage ist äußerst ernst. Die Bewegung greift nach Petersburg über: die Arbeiter von San-Galli haben die Arbeit bereits niedergelegt.

Damit enden im Augenblick unsere Informationen. Sie genügen natürlich noch nicht, um an eine erschöpfende Bewertung der Moskauer Ereignisse auch nur zu denken. Es lässt sich noch nicht sagen, ob sie die Generalprobe für den entscheidenden proletarischen Vorstoß gegen den Absolutismus, oder schon den Beginn dieses Vorstoßes selbst darstellen; ob sie nur die Ausbreitung der von uns oben skizzierten „üblichen" Kampfmethoden auf ein neues Gebiet Zentralrusslands darstellen, oder ob sie bestimmt sind, den Beginn einer höheren Kampfform und eines entschlosseneren Aufstandes zu bilden.

Eine Antwort auf diese Fragen wird allem Anschein nach die nahe Zukunft erteilen. Sicher ist das eine: das Anwachsen des Aufstandes, die Ausbreitung des Kampfes, die Verschärfung seiner Formen vollziehen sich ununterbrochen vor unseren Augen. Das Proletariat ganz Russlands bahnt sich durch heroische Anstrengungen hindurch seinen Weg, bald hier bald da andeutend, nach welcher Richtung sich der bewaffnete Aufstand entwickeln kann und zweifellos auch entwickeln wird. Gewiss, auch die jetzige Form des Kampfes, die durch die Bewegung der Arbeitermassen bereits herausgearbeitet worden ist, fügt dem Zarismus die ernstesten Schläge zu. Der Bürgerkrieg hat die Form eines verzweifelt-hartnäckigen und allgemeinen Partisanenkrieges angenommen. Die Arbeiterklasse lässt dem Feinde keine Ruhepausen, sie unterbricht jäh das industrielle Leben, bringt dauernd die ganze Maschinerie der lokalen Verwaltung zum Stehen, versetzt das ganze Land in einen Zustand der Unsicherheit, mobilisiert immer neue und neue Kräfte für den Kampf. Kein Staat kann einem solchen Ansturm auf die Dauer standhalten, um so weniger die verfaulte zaristische Regierung, deren frühere Anhänger einer nach dem anderen von ihr abfallen. Und wenn der liberalen monarchistischen Bourgeoisie der Kampf mitunter zu hart erscheint, wenn sie den Bürgerkrieg und den Zustand der beunruhigenden Unsicherheit, in der das Land lebt, fürchtet, so ist für das revolutionäre Proletariat die Fortdauer dieses Zustandes, die Fortdauer des Kampfes eine Lebensnotwendigkeit. Wenn unter den Ideologen der Bourgeoisie Leute aufzutauchen beginnen, die daran gehen, den revolutionären Brand durch ihre Predigten vom friedlichen, legalen Fortschritt zu löschen, und die um die Abstumpfung und nicht um die Verschärfung der politischen Krise bemüht sind – so wird der klassenbewusste Proletarier, der an der verräterischen Natur der bürgerlichen Freiheitsliebe nie gezweifelt hat, unbeirrt vorwärtsschreiten, die Bauernschaft mit sich reißen und Zersetzung in die Reihen des zaristischen Heeres tragen. Der hartnäckige Kampf der Arbeiter, die andauernden Streiks, Demonstrationen, lokalen Aufstände, alle diese sozusagen probeweisen Schlachten und Zusammenstöße ziehen unvermeidlich das Heer in das politische Leben und somit auch in den Kreis der revolutionären Fragen hinein. Die Erfahrungen des Kampfes klären rascher und gründlicher auf, als dies unter anderen Verhältnissen Jahre der Propaganda hätten tun können. Der Krieg gegen den äußeren Feind ist zu Ende, aber die Regierung fürchtet offensichtlich die Rückkehr der Gefangenen und die Rückkehr des Heeres aus der Mandschurei. Die Nachrichten über ihre revolutionäre Stimmung mehren sich. Die Projekte von Ackerbaukolonien in Sibirien für Soldaten und Offiziere der mandschurischen Armee müssen die Gärung steigern selbst wenn diese Projekte nur Projekte bleiben sollten. Die Mobilisierung wird trotz des Friedensschlusses nicht eingestellt. Es wird immer deutlicher, dass die Armee gänzlich und ausschließlich gegen die Revolution benötigt wird. Unter diesen Umständen haben wir Revolutionäre gegen die Mobilisierung absolut nichts einzuwenden: wir sind sogar bereit, sie zu begrüßen. Dadurch, dass die Regierung, um den Preis der Einbeziehung immer neuer und neuer Heeresteile in den Kampf, die Lösung hinausschiebt und immer größere Mengen Militärs für den Bürgerkrieg abrichtet, beseitigt sie nicht die Quelle aller dieser Krisen, sondern erweitert im Gegenteil ihren Boden. Die Regierung erlangt die Hinausschiebung um den Preis einer unvermeidlichen Erweiterung des Kampfes und einer Verschärfung des Kampfes. Die Regierung zieht die Rückständigsten und Unwissendsten, die Eingeschüchtertsten und die politisch Abgestorbensten in den Kampf hinein; und der Kampf wird sie aufklären, aufrütteln, beleben. Je länger dieser Zustand des Bürgerkrieges andauern wird, desto unvermeidlicher wird die Herausbildung einer Masse von Neutralen und eines Kerns von Kämpfern für die Revolution aus der konterrevolutionären Armee sein.

Der ganze Verlauf der russischen Revolution in den letzten Monaten beweist, dass die gegenwärtig erreichte Stufe nicht die höchste Stufe ist und es auch nicht sein kann. Die Bewegung wird noch höher steigen, als sie seit dem 9./22. Januar gestiegen ist. Damals sahen wir zum ersten Mal eine Bewegung, die durch die Einmütigkeit und Geschlossenheit gewaltiger Arbeitermassen, die sich im Namen politischer Forderungen erhoben, die Welt in Erstaunen setzte. Aber diese Bewegung war in revolutionärer Hinsicht noch äußerst unbewusst und völlig hilflos im Sinne der Bewaffnung und Kriegsbereitschaft. Polen und der Kaukasus haben schon das Muster eines höheren Kampfes geliefert, wo das Proletariat zum Teil bewaffnet aufzutreten beginnt und der Krieg einen Dauercharakter annimmt. Der Odessaer Aufstand zeichnete sich durch das Hinzukommen einer neuen und wichtigen Bedingung für den Erfolg aus: durch den Übergang eines Teiles der Truppen auf die Seite des Volkes. Allerdings wurde noch nicht sofort ein Erfolg erzielt; die schwierige Aufgabe der „Kombinierung der See- und Landstreitkräfte" (eine der schwierigsten Aufgaben auch für das reguläre Heer) wurde noch nicht gelöst. Aber sie wurde gestellt, und alle Anzeichen sprechen dafür, dass die Odessaer Ereignisse kein Einzelfall bleiben werden. Der Moskauer Streik zeigt uns die Ausdehnung des Kampfes auf ein „echt-russisches" Gebiet, dessen Unerschütterlichkeit die Reaktionäre lange erfreut hatte. Das revolutionäre Vorgehen in diesem Rayon ist schon deshalb von gewaltiger Bedeutung, weil dort Proletariermassen die Feuertaufe erhielten, die am unbeweglichsten waren und gleichzeitig in einem verhältnismäßig kleinen Gebiet in einer Anzahl wie nirgendwo sonst in Russland konzentriert sind. Die Bewegung begann in Petersburg, durchschritt die Randgebiete ganz Russlands, mobilisierte Riga, Polen, Odessa, den Kaukasus, und jetzt ist das Feuer auf das eigentliche „Herz" Russlands übergesprungen.

Die schändliche Komödie der Reichsduma erscheint jetzt, wo sie zeitlich mit diesem wirklich revolutionären Auftreten der kampfentschlossenen und wirklich vorgeschrittenen Klasse zusammenfällt, noch verächtlicher. Die Vereinigung des Proletariats mit der revolutionären Demokratie, von der wir schon mehr als einmal sprachen, wird zur Tatsache. Die radikale Studentenschaft, die in Petersburg und Moskau die Losungen der revolutionären Sozialdemokratie angenommen hat, ist die Avantgarde aller demokratischen Kräfte, die die Niedertracht der in die Reichsduma gehenden „konstitutionell-demokratischen" Reformer verabscheuen und den entscheidenden Kampf gegen den verfluchten Feind des russischen Volkes, nicht aber den Kuhhandel mit dem Absolutismus, anstreben.

Man schaue sich diese liberalen Professoren, Rektoren, Prorektoren und die ganze Gesellschaft dieser Trubezkoi, Manuilow u.a.m. an … Das sind doch die besten Leute des Liberalismus und der konstitutionell-demokratischen Partei. die der Idee am meisten hingegebenen, gebildetsten, uneigennützigsten, dem unmittelbaren Druck der Interessen und dem Einfluss des Geldsacks am wenigsten zugänglichen Leute. Und wie verhalten sich diese besten Leute? Wie haben sie die erste Macht, die Macht der Universitätsverwaltung, die ihnen durch Wahl in die Hand gegeben wurde, ausgenützt? Sie zittern schon feig vor der Revolution, sie fürchten schon die Verschärfung und Erweiterung der Bewegung, sie löschen schon den Brand und bemühen sich, zu beruhigen, wofür ihnen auch schon das verdiente Lob des Fürsten Meschtscherski ins Gesicht gespuckt wurde.

Und diese Philister der bürgerlichen Wissenschaft haben auch schon die gebührende Strafe erhalten. Sie schlossen die Universität in Moskau, weil sie Kämpfe in der Universität befürchteten. Sie haben nur rascher und viel gewaltigere Kämpfe auf der Straße hervorgerufen. Sie wollten die Revolution in der Universität ersticken und fachten nur die Revolution auf der Straße an. Sie sind gehörig ins Gedränge gekommen, zusammen mit den Herren Trepow und Romanow, die sie jetzt von der Notwendigkeit der Versammlungsfreiheit überzeugen wollen: schließt man die Universität, so eröffnet man den Straßenkampf; öffnet man die Universität, so öffnet man eine Tribüne für revolutionäre Volksversammlungen, aus denen neue und noch entschlossenere Freiheitskämpfer hervorgehen.

Wie unendlich lehrreich ist doch das Beispiel dieser liberalen Professoren für die Bewertung unserer Reichsduma! Ist es denn jetzt, nach der Erfahrung mit den Hochschulen nicht klar, dass die Liberalen und Konstitutionaldemokraten um das „Schicksal der Duma" ebenso bangen werden, wie diese traurigen Ritter von der Dreigroschen-Wissenschaft um das „Schicksal der Universitäten" bangen? Ist es denn jetzt nicht klar, dass die Liberalen und Konstitutionaldemokraten die Duma zu nichts anderem benützen können, als zu einem noch breiteren und noch widerlicheren Predigen des friedlichen, gesetzlichen Fortschritts? Ist jetzt die Lächerlichkeit der Hoffnungen auf die Umwandlung der Duma in eine revolutionäre Versammlung nicht klar? Ist es nicht klar, dass es nur eine Methode gibt, zwar nicht speziell auf die Duma, nicht speziell auf die Universitäten, sondern auf die ganze alte absolutistische Ordnung „Einfluss auszuüben": die Methode der Moskauer Arbeiter, die Methode des Volksaufstandes? Er allein wird nicht nur bewirken, dass die Manuilow in den Universitäten um Versammlungsfreiheit und die Petrunkjewitsch in der Duma um Volksfreiheit bitten; er wird die wirkliche Freiheit des Volkes erkämpfen.

Die Moskauer Ereignisse haben die wirkliche Gruppierung der gesellschaftlichen Kräfte gezeigt: die Liberalen sind von der Regierung zu den Radikalen gerannt, um diesen den revolutionären Kampf auszureden. Die Radikalen haben in den Reihen des Proletariats gekämpft. Vergessen wir diese Lehre nicht: sie bezieht sich direkt auch auf die Reichsduma.

Mögen sich Petrunkjewitsch und die anderen Konstitutionaldemokraten im absolutistischen Russland mit Parlamentsspielerei abgeben – die Arbeiter werden den revolutionären Kampf für die wirkliche Volkssouveränität führen.

Wie das Auflodern des Aufstandes in Moskau auch enden mag, die revolutionäre Bewegung wird jetzt jedenfalls noch kräftiger auftreten, noch breitere Gebiete erfassen und neue Kräfte heranziehen. Selbst wenn wir annehmen, dass die Truppen des Zaren in Moskau jetzt einen vollen Sieg feiern – noch einige solcher Siege und der völlige Zusammenbruch des Zarismus wird zur Tatsache. Und das wird dann ein wirklicher, echter Zusammenbruch des gesamten Erbes der Leibeigenschaft, des Absolutismus und der Finsternis sein und nicht jenes schwächliche, feige und heuchlerische Zurechtflicken eines faulenden Plunders, mit dem die liberalen Bourgeois sich und die anderen täuschen. Nehmen wir sogar an, dass die morgige Post die traurige Nachricht bringt: der Ausbruch des Aufstandes ist noch einmal unterdrückt. Wir werden dann ausrufen: Noch einmal: es lebe der Aufstand!

1 Die vorletzten 6 Absätze dieses Artikels, also beginnend mit „die schändliche Komödie mit der Reichsduma …" und endend mit dem Schluss des vorletzten Absatzes, stellen einen von Lenin verfassten und mit der Überschrift „Eine schändliche Komödie" versehenen besonderen Aufsatzentwurf dar. Ein Vergleich dieses Entwurfs mit dem Manuskript des Artikels „Politischer Streik und Straßenkampf in Moskau" ergibt das Vorhandensein von Zeichen Lenins, aus denen hervorgeht, dass jener zur Einfügung in diesen bestimmt war. Auf beiden Manuskripten ist auch die Stelle genau angegeben, wo der Entwurf in den Artikel eingefügt werden sollte. Aus einem unbekannten Grunde wurde aber der vorliegende Artikel in Nr. 20 des „Proletarij" ohne diese Einfügung veröffentlicht. Die Gedankengange und einzelne Sätze dieses Entwurfes kamen aber in der nächsten Nummer des Blattes in dem Artikel Lenins „Die Lehren der Moskauer Ereignisse" zum Ausdruck.

2 Die „Mitteilung" ist dem „Vorwärts", Nr. 237 vom 10. Oktober 1905 entnommen. Der vom 9. Oktober datierte Bericht trägt die Überschrift „Schlachtberichte".

3 Der zitierte Bericht erschien im „Temps", Nr. 16.183 vom 10. Oktober 1905, unter der Überschrift „Les troubles en Russie".

4 Das zitierte, vom 9. Oktober 1905 datierte Telegramm war im Pariser „Matin", Nr. 7898 vom 10. Oktober, abgedruckt und trug die Überschrift: „La crise russe. L'émotion à Saint Petersbourg." (Die russische Krise. Die Gärung in Petersburg) und war von Gaston Leroux unterschrieben.

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