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Wladimir I. Lenin 19051024 Die Lehren der Moskauer Ereignisse

Wladimir I. Lenin: Die Lehren der Moskauer Ereignisse

[Proletarij", Nr. 22 11./24. Oktober 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 421-431]

Der revolutionäre Aufschwung des Moskauer Proletariats, der im politischen Streik und im Straßenkampf so augenfällig zum Ausdruck gekommen ist, hat noch nicht nachgelassen. Der Streik dauert fort. Er hat teilweise auf Petersburg übergegriffen, wo die Setzer aus Solidarität mit den Moskauer Genossen streiken. Man kann noch nicht sagen, ob sich die gegenwärtige Bewegung bis zur nächsten Welle legen oder ob sie eine andere, dauernde Form annehmen wird. Aber einige und dabei äußerst lehrreiche Ergebnisse haben die Moskauer Ereignisse bereits gezeitigt, und es verlohnt sich, bei diesen zu verweilen.

Im Großen und Ganzen ist die Bewegung in Moskau nicht bis zu einem entscheidenden Kampf der revolutionären Arbeiter mit den Streitkräften des Zarismus gelangt. Das waren nur kleine Vorpostengeplänkel, teilweise vielleicht eine militärische Demonstration im Bürgerkrieg, aber keine von jenen Schlachten, die den Ausgang des Krieges bestimmen. Von den beiden Voraussetzungen, die wir vor einer Woche nannten, scheint sich die erste zu bestätigen, nämlich dass wir es nicht mit einem entscheidenden Ansturm, sondern mit seiner Probe zu tun haben. Allein diese Probe hat uns alle Mitwirkenden des historischen Dramas in ihrer ganzen Größe gezeigt und so auf den wahrscheinlichen, teilweise sogar unvermeidlichen Verlauf des Dramas selbst ein grelles Licht geworfen.

Ausgelöst wurden die Moskauer Ereignisse durch Vorgänge, die auf den ersten Blick den Charakter eines rein akademischen Ereignisses trugen. Die Regierung schenkte den Universitäten eine partielle „Autonomie" bzw. eine Scheinautonomie. Die Herren Professoren erhielten eine Selbstverwaltung. Die Studenten erhielten das Versammlungsrecht. Damit wurde in das feudal-absolutistische Unterdrückungssystem eine kleine Bresche geschlagen. Durch diese Bresche ergossen sich sofort mit unerwarteter Kraft neue revolutionäre Ströme Ein elendes Konzessiönchen, ein winziges Reförmchen, das gewährt wurde, um die politischen Widersprüche abzuschleifen und die Ausgeraubten mit den Räubern zu „versöhnen", rief in Wirklichkeit eine enorme Verschärfung des Kampfes hervor und erhöhte die Zahl der an ihm Beteiligten. In die Studentenversammlungen strömten die Arbeiter. Es entstanden revolutionäre Volksmeetings, in denen die im Kampfe für die Freiheit führende Klasse, das Proletariat, überwog. Die Regierung war wütend, die „soliden" Liberalen, die die professorale Selbstverwaltung erhalten hatten, rannten hin und her und eilten von den revolutionären Studenten zur Polizei – und zur Knutenregierung. Die Liberalen benutzten die Freiheit, um ihr untreu zu werden, um die Studenten von der Ausdehnung und Verschärfung des Kampfes zurückzuhalten und um vor den Baschibosuks und den Schwarzhundertern, vor den Herren Trepow und Romanow „Ordnung" zu predigen! Die Liberalen benutzten die Selbstverwaltung, um sich als Sachwalter der Henker des Volkes zu betätigen und die Universität zu schließen, dieses reine Heiligtum, das die Knutenhelden der „Wissenschaft" bewilligt hatten und das die Studenten dadurch verunreinigten, dass sie den „gemeinen Mob" zur Beratung von Fragen zuließen, die von der absolutistischen Bande als „unerlaubt" bezeichnet waren. Die sich selbst verwaltenden Liberalen verrieten das Volk und verrieten die Freiheit, weil sie vor einer Schlägerei in der Universität Angst hatten. Und sie wurden für ihre gemeine Feigheit gebührend bestraft. Indem sie die revolutionäre Universität schlossen, eröffneten sie die Revolution auf der Straße. Die erbärmlichen Pedanten wollten schon mit den nichtswürdigen Subjekten Glasows um die Wette jubeln, dass es ihnen gelungen sei, den Brand in der Schule zu ersticken. In Wirklichkeit entfachten sie aber nur den Brand in einer großen Industriestadt. Diese geschraubten und gezierten Leutchen verboten den Arbeitern, zu den Studenten zu gehen; sie stießen damit bloß die Studenten zu den revolutionären Arbeitern. Sie schätzten alle politischen Fragen vom Standpunkt ihres vom jahrhundertealten Bürokratengeist erfüllten Hühnerstalles ein und flehten die Studenten an, diesen Hühnerstall zu schonen. Aber es genügte das erste frische Lüftchen eines freien und jungen revolutionären Elements, um alle den Hühnerstall ganz und gar vergessen zu machen; denn das Lüftchen wurde stärker, verwandelte sich in einen Sturm, der sich gegen den Urquell des ganzen Bürokratismus und der ganzen Schmach des russischen Volkes, gegen den zaristischen Absolutismus richtete. Und sogar jetzt, nachdem die erste Gefahr vorübergegangen ist und der Sturm sich offensichtlich gelegt hat, schlottern die Lakaien des Absolutismus noch vor Angst bei dem Gedanken an den Abgrund, der sich in den blutigen Moskauer Tagen vor ihnen öffnete.

Vorläufig ist es noch kein Brand, aber zweifellos ist es schon eine Brandstiftung," murmelt Herr Menschikow in seinem Lakaienblatt „Nowoje Wremja" (vom 30. September/13. Oktober). „Vorläufig ist es noch keine Revolution, aber es ist schon der Prolog der Revolution. ,Sie ist', wie ich (Herr Menschikow) im April bewiesen habe, ,auf dem Wege', und welch furchtbare Schritte hat ,sie' seither gemacht!… Das Volkselement hat sie bis auf den Grund aufgewühlt."1

Ja, ja, die Trepow und Romanow samt den verräterischen liberalen Bourgeois sind ordentlich ins Gedränge geraten. Wenn sie die Universität öffnen, gewähren sie eine Tribüne für revolutionäre Volksversammlungen und erweisen der Sozialdemokratie einen unschätzbaren Dienst. Schließen sie die Universität, so eröffnen sie den Straßenkampf. Sie drehen und winden sich und knirschen mit den Zähnen, unsere Ritter von der Knute: sie öffnen die Moskauer Universität wieder, sie tun so, als wenn sie es den Studenten selbst überlassen wollten, während der Straßendemonstrationen die Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie sehen durch die Finger auf die revolutionäre Selbstverwaltung der Studenten, unter denen jetzt die Teilung in Parteien, in Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre usw., vor sich geht und die sich jetzt im Studenten-„Parlamente" eine richtige politische Vertretung schaffen (wobei sie sich, dessen sind wir sicher, nicht auf die revolutionäre Selbstverwaltung beschränken, sondern sofort und ernstlich an die Organisation und Bewaffnung von Regimentern der revolutionären Armee herantreten werden). Und zusammen mit Trepow drehen und winden sich die liberalen Professoren, die sich heute auf die Studenten werfen, um sie zu überreden, sie mögen doch bescheidener sein, und sich morgen an die Ritter von der Knute wenden, sie mögen doch etwas milder sein. Dieses sich Winden und Drehen der einen und der anderen bereitet uns das größte Vergnügen; denn dass die politischen Kommandeure und politischen Überläufer auf dem oberen Verdeck so herum springen, beweist nur, dass das revolutionäre Lüftchen gut weht.

Außer berechtigtem Stolz und berechtigtem Vergnügen müssen die wirklichen Revolutionäre den Moskauer Ereignissen aber noch etwas mehr entnehmen: eine klarere Vorstellung von den Kräften und besonders von ihrem Wirken in der russischen Revolution sowie eine genaue Vorstellung von den Formen des Wirkens dieser Kräfte. Man braucht sich nur die politische Konsequenz der Moskauer Ereignisse vorzustellen, um ein vom Klassenstandpunkt außerordentlich typisches und charakteristisches Bild der ganzen Resolution zu erhalten. Hier diese Konsequenz: in die alte Ordnung wird eine kleine Bresche gelegt; die Regierung flickt die Bresche mit kleinen Konzessiönchen, trügerischen „Reformen" usw.; anstatt Beruhigung zeigt sich eine neue Verschärfung und Ausdehnung des Kampfes; die liberale Bourgeoisie schwankt, sie windet und dreht sich, um den Revolutionären die Revolution und den Polizisten die Reaktion auszureden; das revolutionäre Volk, mit dem Proletariat an der Spitze, erscheint auf dem Plan, und der offene Kampf erzeugt eine neue politische Situation; auf dem eroberten höheren und weiteren Kampffelde, in den befestigten Stellungen des Feindes öffnet sich eine neue Bresche und die Bewegung steigt auf demselben Wege höher und höher. Vor unseren Augen vollzieht sich auf der ganzen Linie der Rückzug der Regierung – so bemerkten unlängst mit Recht die „Moskowskije Wjedomosti", und eine liberale Zeitung fügte nicht ohne Witz hinzu: ein Rückzug mit einem Nachhutgefecht.2 Der Petersburger Berichterstatter der Berliner liberalen „Vossischen Zeitung" drahtet vom 3./16. Oktober nach einer Unterhaltung mit dem Vorsteher der Kanzlei Trepows:

Von der Regierung", sagte die Polizeiratte dem Korrespondenten, „sei ein konsequent durchgeführter Plan nicht zu erwarten, da jeder Tag Erscheinungen bringt, die nicht vorauszusehen seien. Sie müsse lavieren, mit Gewalt sei die heutige Bewegung nicht zu unterdrücken; sie könne zwei Monate, auch zwei Jahre dauern."3

Jawohl, die Taktik der Regierung hat sich vollständig geklärt. Es ist zweifellos ein Lavieren und ein Rückzug mit einem Nachhutgefecht. Und das ist eine ganz richtige Taktik vom Standpunkt der Interessen des Absolutismus: es wäre der größte Irrtum, es wäre eine verhängnisvolle Illusion, wenn die Revolutionäre vergäßen, dass die Regierung noch lange, sehr lange zurückweichen kann, ohne das Wesentlichste zu verlieren. Das Beispiel der nicht vollendeten, der halben und Bastardrevolution in Deutschland vom Jahre 1848 ein Beispiel, auf das wir in der nächsten Nummer des „Proletarij" noch einmal zurückkommen und an das zu erinnern wir niemals ermüden werden – zeigt, dass die Regierung auch dann, wenn sie bis zur Einberufung einer konstituierenden (in Worten) Versammlung nachgibt, stark genug bleibt, um die Revolution im letzten, entscheidenden Kampfe zu besiegen. Aus diesem Grunde müssen wir beim Studium der Moskauer Ereignisse, dieser jüngsten Schlacht in der langen Reihe der Schlachten unseres Bürgerkrieges, den Gang der Dinge nüchtern beurteilen, müssen wir uns mit der größten Energie und mit der größten Ausdauer auf einen langen, verzweifelten Kampf vorbereiten und uns vor jenen Verbündeten hüten, die sich schon als überlaufende Verbündete erweisen. Zu einer Zeit, wo so gut wie noch nichts Entscheidendes erkämpft ist, wo der Feind noch gewaltig viel Raum zu weiteren, vorteilhaften und ungefährlichen Rückzugsmanövern besitzt und immer ernstere Kämpfe stattfinden – zu einer solchen Zeit kann sich Vertrauensseligkeit gegenüber solchen Verbündeten, können sich Versuche, mit ihnen eine Verständigung einzugehen oder sie einfach unter den bekannten Bedingungen zu unterstützen, nicht nur als eine Dummheit, sondern als ein Verrat am Proletariat erweisen.

In der Tat, ist denn die Haltung der liberalen Professoren vor den Moskauer Ereignissen und während dieser Ereignisse eine zufällige? Ist sie eine Ausnahme oder ist sie nicht eine Regel bei der ganzen konstitutionell-demokratischen Partei? Äußert sich in dieser Haltung eine besondere Eigenart dieser Gruppe der liberalen Bourgeoisie oder kommen in ihr die fundamentalen Interessen dieser Klasse im Allgemeinen und überhaupt zum Ausdruck? Unter Sozialisten kann es über diese Fragen nicht zweierlei Meinung geben, allein nicht alle Sozialisten können konsequent eine wahrhaft sozialistische Taktik durchführen.

Um das Wesen der Sache klarer zu zeigen, nehmen wir die Schilderung der liberalen Taktik durch die Liberalen selbst. In den Spalten der russischen Presse vermeiden sie es, sich gegen die Sozialdemokratie, ja auch nur direkt über sie zu äußern. Hier ist aber eine interessante Mitteilung der Berliner „Vossischen Zeitung",4 die die Ansichten der Liberalen offener zum Ausdruck bringt:

Die Studentenunruhen, die trotz – allerdings sehr verspätet – gewährter Autonomie an den Universitäten und Hochschulen in Petersburg wie in Moskau gleich zu Beginn des Semesters so stürmisch eingesetzt haben und in Moskau außerdem von einer ausgedehnten Arbeiterbewegung begleitet werden, deuten auf den Beginn einer neuen Phase der russischen revolutionären Bewegung hin. Der Verlauf der Studentenversammlungen sowohl wie auch deren Resolutionen zeigen, dass die Studentenschaft der Parole der sozialdemokratischen Führer gefolgt ist, die Universitäten zu Volksversammlungsplätzen zu machen und auf solche Weise die Revolution in die breiten Bevölkerungsschichten zu tragen. Wie das verwirklicht wird, haben die Moskauer Studenten bereits gezeigt: sie riefen in das Universitätsgebäude Arbeiter und andere Leute, die mit der Universität sonst nichts zu tun haben, in solcher Masse herbei, dass die Studenten selbst in Minderheit blieben. Selbstverständlich ist dieses Verfahren unter den bestehenden Verhältnissen auf die Dauer undurchführbar. Die Regierung wird es vorziehen, die Universitäten zu schließen, als solche Versammlungen zu dulden. Das ist so klar, dass es auf dem ersten Blick unbegreiflich zu sein scheint, dass die sozialdemokratischen Führer eine solche Parole ausgeben konnten. Sie wussten auch ganz genau, wohin es führen würde, sie strebten aber gerade die Schließung der Universität durch die Regierung an. Und weshalb? Einfach aus dem Grunde, weil sie der liberalen Bewegung mit allen möglichen Mitteln Hindernisse zu bereiten trachten. Sie geben zu, dass sie eine große politische Aktion aus eigener Kraft durchzuführen nicht imstande sind, deshalb dürfen auch die Liberalen und Radikalen nichts tun, weil das angeblich dem sozialistischen Proletariat nur schaden würde. Es solle sich seine Rechte selbst erobern. Die russische Sozialdemokratie möge auf diese ,unbeugsame' Taktik sehr stolz sein, jedem unbefangenen Beobachter muss sie aber sehr kurzsichtig erscheinen, und sie wird die russische Sozialdemokratie auch kaum zu Siegen führen. Was sie bei der im Falle der Fortsetzung solcher Taktik unvermeidlichen Schließung der Universitäten gewinnen kann, ist unerfindlich. Der Fortbestand der Universitäten und Hochschulen ist aber von größter Wichtigkeit für alle Fortschrittsparteien. Die langwierigen Studenten- und Professorenausstände haben der russischen Kultur schon schwere Wunden geschlagen. Wiederaufnahme des akademischen Lehrbetriebs tut dringend Not. Die Autonomie hat die freie Ausübung des Lehrberufs durch die Professoren ermöglicht. Deshalb sind die Professoren sämtlicher Universitäten und Hochschulen darüber einig, dass der Lehrbetrieb energisch wieder aufgenommen werden muss. Sie setzen ihren ganzen Einfluss ein, um die Studenten zu veranlassen, auf die Durchführung der sozialdemokratischen Parole zu verzichten."

Damit ist der Kampf zwischen dem bürgerlichen Liberalismus (den konstitutionellen Demokraten) und den Sozialdemokraten vollständig umrissen. Stört nicht die liberale Bewegung! – das ist die Losung, die in dem angeführten Artikel vorzüglich zum Ausdruck kommt. Und worin besteht diese liberale Bewegung? Im Zurückgehen, denn die Professoren nützen die akademische Freiheit nicht (und wollen sie auch nicht ausnützen) für die revolutionäre, sondern für die gegenrevolutionäre Propaganda aus; sie nützen sie nicht, um den Brand zu entfachen, sondern um ihn zu löschen, nicht um das Kampffeld auszudehnen, sondern um vom entschiedenen Kampfe in der Richtung zur friedlichen Zusammenarbeit mit Trepow abzulenken. Die „liberale Bewegung" wurde bei der Verschärfung des Kampfes (wir sahen das in Wirklichkeit) zu einem Abschwenken von den Revolutionären zu den Reaktionären. Gewiss, die Liberalen bringen uns einen gewissen Vorteil, insofern sie in die Reihen Trepows und der anderen Diener der Romanows Unsicherheit hinein tragen; dieser Vorteil wird jedoch den Schaden, den sie dadurch verursachen, dass sie in unsere Reihen Schwankungen hinein tragen, nur dann überwiegen, wenn wir zwischen den Konstitutionellen Demokraten und uns unwiderruflich die Scheidelinie ziehen und jeden schwankenden Schritt dieser Leute rücksichtslos brandmarken werden. Die Liberalen, die sich ihrer herrschenden Stellung in der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung bewusst sind oder sie vielmehr zumeist nur ahnen, streben danach, die Revolution zu beherrschen, und bezeichnen jede Fortsetzung, Erweiterung und Verschärfung der Revolution über die gewöhnliche Flickarbeit hinaus als eine „Störung" der liberalen Bewegung. Aus Angst um das Schicksal der von Trepow erlaubten scheinbaren akademischen Freiheit kämpfen sie heute gegen die revolutionäre Freiheit. Aus Angst um die gesetzliche „Versammlungsfreiheit", die die Regierung morgen in einer polizeilich verunstalteten Form geben wird, werden sie uns davor zurückhalten, diese Freiheit für die wahrhaft proletarischen Ziele auszunützen. Aus Angst um das Schicksal der Reichsduma zeigten sie schon auf dem Septemberkongress weise Mäßigung und sie zeigen sie auch jetzt, indem sie gegen den Boykott heulen: Hindert uns doch nicht, in der Reichsduma unsere Sache zu verrichten.

Zur Schande der Sozialdemokratie muss zugegeben werden, dass sich in ihrer Mitte Opportunisten gefunden haben, die auf Grund einer doktrinär-lebensfremden Verdrehung des Marxismus an diesem Köder anbissen! Die Revolution ist bürgerlich, überlegen sie, darum… darum müssen wir uns in demselben Maße zurückziehen, in dem die Bourgeoisie in der Form von Konzessionen des Zarismus Erfolge erlangt. Wenn die Neu-Iskristen die reale Bedeutung der Reichsduma bis jetzt noch nicht sehen, so eben deshalb, weil sie, selbst zurückweichend, natürlich nicht die Rückwärtsbewegung der Konstitutionellen Demokraten sehen können. Und dass die Neu-Iskristen seit dem Erlass des Gesetzes über die Reichsduma zurückweichen, ist eine unwiderlegliche Tatsache. Vor der Reichsduma dachten sie nicht daran, die Frage der Verständigung mit den Konstitutionellen Demokraten auf die Tagesordnung zu setzen. Nach der Reichsduma stellten sie (Parvus, Tscherewanin und Martow) diese Frage, und zwar nicht nur theoretisch, sondern in einer unmittelbar praktischen Form. Vor der Reichsduma stellten sie den Demokraten ziemlich strenge Bedingungen (bis zur Mithilfe bei der Volksbewaffnung usw.). Nach der Reichsduma setzten sie auf einmal die Bedingungen herab und beschränkten sich auf das Versprechen, die Duma der Schwarzen Hunderte oder die liberale Duma in eine revolutionäre zu verwandeln. Vor der Reichsduma antworteten sie in einer offiziellen Resolution auf die Frage, wer die vom ganzen Volke gewählte konstituierende Versammlung einberufen soll: entweder die provisorische revolutionäre Regierung oder eine der Vertretungskörperschaften. Nach der Reichsduma strichen sie die provisorische revolutionäre Regierung und sagten: entweder die „demokratischen (nach Art der Konstitutionellen Demokraten?) Volksorganisationen (?) oder die Reichsduma. So sehen wir auf diese Weise in der Tat, wie die Neu-Iskristen ihr prachtvolles Prinzip handhaben: die Revolution ist eine bürgerliche; schaut darauf, Genossen, dass die Bourgeoisie nicht von ihr abschwenke!

Indem die Moskauer Ereignisse zum ersten Mal nach dem Erlass des Gesetzes über die Reichsduma gezeigt haben, wie die Taktik der Konstitutionellen Demokraten in ernsten politischen Augenblicken in der Tat aussieht, haben sie auch gezeigt, dass der von uns charakterisierte opportunistische Nachtrab der Sozialdemokratie sich unvermeidlich in ein bloßes Anhängsel der Bourgeoisie verwandelt. Wir sagten soeben: eine Reichsduma der Schwarzen Hunderte oder eine liberale Reichsduma. Einem Neu-Iskristen würden diese Worte ungeheuerlich erscheinen, denn er hält den Unterschied zwischen einer Duma der Schwarzen Hunderte und einer liberalen Duma für durchaus wichtig. Aber gerade die Moskauer Ereignisse haben die Falschheit dieser „parlamentarischen" Idee bloßgelegt, die in der vorparlamentarischen Epoche ganz deplatziert hervorgehoben wurde. Gerade die Moskauer Ereignisse haben auch gezeigt, dass der liberale Überläufer faktisch die Rolle Trepows spielte. Die Schließung der Universität, die gestern Trepow verfügt hätte, haben heute die Herren Manuilow und Trubezkoi durchgeführt. Ist es nicht klar, dass auch die „Duma"-Liberalen zwischen Trepow und Romanow einerseits und dem revolutionären Volk anderseits hin und her schwanken werden? Ist es nicht klar, dass selbst die geringste Unterstützung der liberalen Überläufer nur politischer Einfaltspinsel würdig ist?

Im parlamentarischen System ist es oft notwendig, die liberalere Partei gegen die weniger liberale zu unterstützen. Im revolutionären Kampf für eine parlamentarische Ordnung die liberalen Überläufer zu unterstützen, die eine „Verständigung" Trepows mit der Revolution erstreben, ist Verrat.

Die Moskauer Ereignisse haben in Wirklichkeit jene Gruppierung der sozialen Kräfte gezeigt, von der der „Proletarij" schon so oft geschrieben hat. Das sozialistische Proletariat und der Vortrupp der bürgerlichen revolutionären Demokratie haben gekämpft. Die liberale monarchistische Bourgeoisie hat verhandelt. Lernt doch, Genossen Arbeiter, lernt aufmerksamer aus den Lehren der Moskauer Ereignisse! So, gerade so werden die Dinge in der ganzen russischen Revolution gehen. Wir müssen uns fester zusammenfügen in eine wirklich sozialistische Partei, die bewusst die Interessen der Arbeiterklasse zum Ausdruck bringt und nicht nur spontan hinter der Masse hertrottet. Wir dürfen im Kampfe nur auf die revolutionäre Demokratie rechnen, nur mit ihr allein Verständigungen zulassen und diese nur auf dem Felde des Kampfes gegen die Trepow und Romanow verwirklichen. Wir müssen mit allen Kräften danach streben, dass außer dem Vortrupp der revolutionären Demokratie – der Studentenschaft – auch die breite Volksmasse sich erhebe, deren Bewegung nicht nur im Allgemeinen demokratisch (heute nennt sich jeder Überläufer Demokrat), sondern eine wirklich revolutionäre Bewegung ist, nämlich die Bauernmasse. Wir müssen dessen eingedenk sein, dass die Liberalen und die Konstitutionellen Demokraten zu derselben Zeit, wo sie in die Reihen der Anhänger des Absolutismus Schwankungen hinein tragen, ebenso danach streben werden, auch in unsere Reihen Schwanken zu bringen. Eine ernste Bedeutung, eine entscheidende Bedeutung wird nur der offene revolutionäre Kampf haben, der alle liberalen Hühnerställe und alle liberalen Dumas in die Rumpelkammer schmeißen wird. Bereitet euch, ohne einen Augenblick zu verlieren, zu neuen und neuen Kämpfen vor! Bewaffnet euch, jeder womit er kann, stellt sofort Abteilungen von Kämpfern zusammen, die bereit sind, mit hingebungsvoller Energie gegen den verfluchten Absolutismus zu kämpfen! Seid dessen eingedenk, dass die Ereignisse euch auf jeden Fall und unvermeidlich morgen oder übermorgen schon zum Aufstand herausfordern werden! Es handelt sich nur darum, ob ihr dazu bereit und vereinigt oder ob ihr zerfahren und kopflos sein werdet.

Die Moskauer Ereignisse haben noch einmal, zum hundertsten Mal die Kleingläubigen widerlegt. Sie haben gezeigt, dass wir immer noch zu einer Unterschätzung der revolutionären Aktivität der Massen neigen. Sie werden viele von denen, die schon zu schwanken begonnen, die nach dem Friedensschluss und dem Dumageschenk den Glauben an den Aufstand schon verloren hatten, eines anderen belehren. Nein, der Aufstand wächst und erstarkt gerade jetzt mit unglaublicher Schnelligkeit. Möge der kommende Ausbruch, im Vergleich mit dem der 9. Januar und die denkwürdigen Tage von Odessa nur als ein Spiel erscheinen werden, uns alle auf dem Posten finden.

1 Die hier zitierten Worte Menschikows sind seinem Artikel „Unruhe" in Nr. 10.625 des „Nowoje Wremja" vom 30. September/13. Oktober 1905 entnommen.

2 Die zitierten Zeilen stammen aus einem Artikel „Ein Rückzug" in Nr. 249 der „Moskowskije Wjedomosti" vom 11./24. September 1905. Die Zeitung „Rusj" brachte in ihrer Nr. 218 vom 13./26. September in der Rubrik „Aus der Presse und der Gesellschaft" ebenfalls ein Zitat aus diesem Artikel und fügte hinzu: „Wenn das Moskauer Blatt unparteiisch wäre, dann hätte es bemerken müssen: Ein Rückzug mit Rückzugsgefechten.

3 Aus einem in der „Vossischen Zeitung" veröffentlichten Petersburger Telegramm vom 16. Oktober unter der Überschrift: „Die Wirren in Russland. Die ratlose Regierung."

4 Die hier angeführten Mitteilungen sind dem in der „Vossischen Zeitung" vom 11. September erschienenen Bericht „Studentenunruhen" entnommen.

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