Lenin‎ > ‎1905‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19051026 Brief an M. M. Essen

Wladimir I. Lenin: Brief an M. M. Essen1

[Geschrieben am 13./26. Oktober 1905. Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Leninski Sbornik", Nr. 5. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 432-434]

26. X. 1905

Liebes Tierchen!

Wir erhielten dieser Tage Ihren langen Brief. Vielen Dank. Wir erhalten sehr wenig Nachrichten aus Piter, und gedrucktes Material schickt man uns auch nur selten. Bitte bleiben Sie bei Ihrer Absicht, uns buchstäblich alles, alle Neuigkeiten, auch Korrespondenzen, zu senden.

In den Parteiangelegenheiten scheinen Sie mir den Pessimismus ein wenig zu übertreiben. Ich urteile von hier aus. Ich höre hier fortwährend von der „Peripherie", dass der „Proletarij" sichtlich verfällt, dass die Dinge schlecht von der Hand gehen, dass die Zeitung herunterkommt usw. usw. Wenn die Not am größten ist, ist Gottes Hilfe am nächsten. Bei einer solchen gigantischen Bewegung, wie der gegenwärtigen, und mit einer illegalen Partei wird kein ZK der Welt imstande sein, auch nur den tausendsten Teil der Ansprüche zu befriedigen. Und dass unsere Losungen, die Losungen des „Proletarij", nicht wie die Stimme des Predigers in der Wüste verhallen, das erkennen wir deutlich sogar aus den legalen Zeitungen, die von Meetings in der Universität mit 10-15 Tausend Menschen usw. berichten. Großartig ist unsere russische Revolution, weiß Gott! Wir hoffen bald heimzureisen – die Ereignisse entwickeln sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit in dieser Richtung.

Die Zusammenkunft mit dem ZK werden wir unbedingt zustande bringen. Es ist schon eine beschlossene Sache und die Angelegenheit ist eingeleitet.

Auch die Meinungsverschiedenheiten scheinen Sie zu übertreiben. Ich kann hier keinerlei Meinungsverschiedenheiten zwischen dem „Proletarij" und dem ZK bemerken.

Der Zeitpunkt des Aufstandes? Wer vermag ihn festzusetzen? Ich persönlich würde ihn am liebsten bis zum Frühjahr und bis zur Rückkehr der mandschurischen Armee aufschieben; ich neige überhaupt zu der Auffassung, dass der Aufschub des Aufstandes für uns vorteilhaft ist. Aber wir werden ja doch sowieso nicht gefragt. Wir sehen es ja jetzt an dem grandiosen Streik.

Dass das ZK den Schwerpunkt auf die Leitung der literarischen Tätigkeit verlegt, ist nach meiner Meinung eine richtige Taktik. Ich wünsche nur, wir hätten, außer dem bei den gegenwärtigen Verhältnissen sehr nützlichen „Rabotschij", kleine, lebendige Agitations-Bulletins von 2, Maximum 4 Seiten, die häufig, mindestens einmal, vielleicht zweimal wöchentlich erscheinen. Die Führung der Partei ist bei der gegenwärtigen gigantischen, unglaublichen Entwicklung der Bewegung nur durch die Presse möglich. Man muss also lebendige, bewegliche, rasch erscheinende, kurze Flugblatt-Bulletins schaffen, die die grundlegenden Losungen und Resümees der wichtigsten Ereignisse bringen.

Dass das Zentralorgan eingestellt werden soll, ist ein Missverständnis. Sie fürchteten den Bankrott der ganzen Sache und dachten gar nicht daran, das Zentralorgan zu drosseln. Aber im Allgemeinen sinkt jetzt die Bedeutung des Auslandes stündlich, und das ist unvermeidlich. Natürlich werden wir den „Proletarij" unter keinen Umständen fallen lassen, so lange wir ihn nicht in Piter auf dem Njewski2 werden drucken können. Aber auch der legalen Zeitung muss jetzt große Aufmerksamkeit gewidmet werden. Das Ausland kann seinen Laden (propagandistische Literatur) schon zum Teil schließen; wir werden ihn bald ganz schließen und in Piter wieder aufmachen.

Zu der Vorbereitung des Aufstandes würde ich raten, sofort und allenthalben in der breitesten Weise die Bildung einer Masse, Hunderter und Tausender, autonomer Kampftrupps zu propagieren, die sehr klein sein sollen (von drei Mann an) und die sich, so gut es geht, selbst bewaffnen und auf jede Weise vorbereiten. Ich wiederhole, dass ich den Augenblick des Aufstandes lieber bis zum Frühjahr hinausschieben würde, aber ich kann es natürlich aus der Ferne schwer beurteilen.

Mit festem Händedruck

Ihr

N. Lenin

1 Die Anrede mit „Tierchen" (Swjeruschka) ist darauf zurückzuführen, dass Genossin M. M. Essen, den Decknamen „Tier" (Swjer) trug. In ihrem Briefe, den Lenin hier beantwortet, macht sie dem ZK den Vorwurf, dass es der Unterstützung des „Proletarij" nicht genügend Aufmerksamkeit widme. „Was einen“ – schreibt Essen – „endgültig von ihnen entfernt, ist ihr Verhalten dem ,Proletarij' gegenüber. Wenn das dem Alten gegenüber empörend ist, so ist es der Partei gegenüber ein Verbrechen. Davon haben wir mit ihnen scharf genug gesprochen. Ich habe erklärt, dass wenn sie den ,Proletarij' einstellen, kein Mensch auf der Seite des Zentralkomitees verbleiben wird… Sie sind verpflichtet, vor allem das Zentralorgan herauszugeben. Wenn die Mittel knapp sind, dann brauchen keine blöden populären Organe geschaffen werden." Die Worte Lenins, dass er den Augenblick des Aufstandes gern hinausschieben möchte, sind die Antwort auf die folgende Stelle in Essens Brief: „Das Zentralkomitee bezeichnet es als Abenteurerpolitik, zum bewaffneten Aufstand aufzurufen, ohne darauf vorbereitet zu sein; die Frage ist aber doch nicht, ob wir vorbereitet sind, sondern dass die Ereignisse nicht warten. Jetzt, oder es wird zu spät sein – davon müssen wir bei unserer Arbeit ausgehen. Die breite Agitation in Stadt und Land, zusammen mit der Aufforderung zum bewaffneten Aufstand und zur Bildung von Kampfgruppen, das ist unsere Tagesarbeit…"

2 Njewski Prospekt (Newa-Straße), die Hauptstraße Petersburg Heute „Prospekt des 25. Oktober" (7. November). D. Red.

Kommentare