Lenin‎ > ‎1905‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19050802 Das Proletariat erkämpft, die Bourgeoisie erschleicht sich die Macht

Wladimir I. Lenin: Das Proletariat erkämpft, die Bourgeoisie erschleicht sich

die Macht1

[Proletarij", Nr. 10, 20. Juli/2. August 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 173-183]

Während des Krieges hat die Diplomatie nichts zu tun. Nach Schluss der Kriegsoperationen treten die Diplomaten in den Vordergrund, ziehen das Fazit, stellen Berechnungen auf und üben ehrliches Maklertum.

Etwas Ähnliches geht in der russischen Revolution vor sich. Während der militärischen Zusammenstöße des Volkes mit den Streitkräften des Absolutismus verstecken sich die liberalen Bourgeois in ihren Löchern. Sie sind gegen die Gewalt von oben und unten, sie sind Feinde sowohl der Willkür der Machthaber als auch der Anarchie des Pöbels. Sie erscheinen auf der Bühne nach Schluss der militärischen Operationen, und in ihren politischen Entscheidungen spiegelt sich die durch diese Operationen entstandene Veränderung in der politischen Situation klar wider. Die liberale Bourgeoisie wurde nach dem 9. Januar „rosarot"; jetzt, nach den Ereignissen in Odessa, die (im Zusammenhang mit den Ereignissen im Kaukasus, in Polen usw.) das enorme Wachstum des Volksaufstandes gegen den Absolutismus im letzten halben Jahre der Revolution anzeigen, beginnt sie „rot" zu werden.

Die drei soeben abgehaltenen liberalen Konferenzen sind in dieser Hinsicht sehr lehrreich. Am konservativsten von allen war die Konferenz der Industriellen und der Kaufleute. Sie genießen das größte Vertrauen des Absolutismus. Die Polizei lässt sie in Ruhe. Sie üben an dem Bulyginschen Projekt Kritik und verurteilen es, sie verlangen eine Verfassung, erörtern aber, soweit wir nach den unvollständigen Berichten urteilen können, nicht einmal die Frage des Boykotts der Bulyginschen Wahlen. Die radikalste ist die Konferenz der Delegierten des „Verbandes der Verbände". Sie tagt schon geheim und nicht auf russischem Territorium, obwohl nahe bei Petersburg, in Finnland. Wie man sagt, verstecken die Mitglieder der Konferenz aus Vorsicht die Papiere, und die polizeiliche Durchsuchung an der Grenze liefert der Polizei keinerlei Beweisstücke in die Hand. Die Konferenz spricht sich mit Stimmenmehrheit (gegen eine, wie es scheint, beträchtliche Minderheit) für den vollständigen und entschiedenen Boykott der Bulyginschen Wahlen, für eine breite Agitation zwecks Verwirklichung des allgemeinen Wahlrechtes aus.

In der Mitte steht die am meisten „einflussreiche" feierliche und geräuschvolle Konferenz der Vertreter der Städte und der Semstwos. Sie ist fast legal: die Polizei verfasst nur pro forma ein Protokoll und fordert die Konferenz zum Auseinandergehen auf, was allgemein mit einem Lächeln quittiert wird. Die Zeitungen, die mit der Veröffentlichung der Berichte begonnen haben, werden durch Verbot („Slowo") oder Verwarnung („Russkije Wjedomosti") bestraft. Die Zusammenkunft war nach dem Schlussbericht des Herrn Peter Dolgorukow, der in der „Times" erschien, von 216 Delegierten besucht. Über diese Konferenz telegraphieren die Korrespondenten der ausländischen Zeitungen in alle Weltrichtungen. Über die politische Hauptfrage, ob man die Bulyginsche „Verfassung" boykottieren soll, äußert sich die Konferenz überhaupt nicht. Nach den Meldungen der englischen Presse war die Mehrheit für den Boykott, das Organisationskomitee der Konferenz dagegen. Man einigte sich auf einen Kompromiss: die Frage bis zur Veröffentlichung des Bulyginschen Projektes offen zu lassen und dann telegraphisch eine neue Konferenz einzuberufen. Natürlich wird das Bulyginsche Projekt von der Konferenz entschieden verurteilt. Sie nimmt das Verfassungsprojekt des „Oswoboschdjenije" (Monarchie und Zweikammersystem) an, lehnt es ab, sich an den Zaren zu wenden, und beschließt, „sich an das Volk zu wenden".

Den Text dieses Appells besitzen wir noch nicht. Nach den Meldungen der ausländischen Presse besteht er aus einem in zurückhaltenden Äußerungen gehaltenen Abriss der Ereignisse aus der Zeit der Novemberkonferenz der Semstwo-Vertreter, einer Aufzählung von Tatsachen, die von der gewissenlosen Verschleppungstaktik der Regierung, von den durch die Regierung gebrochenen Versprechungen und von ihrer zynischen Gleichgültigkeit den Forderungen der öffentlichen Meinung gegenüber zeugen. Außer dem Appell an das Volk wurde auch fast einstimmig eine Resolution über den Widerstand gegen die willkürlichen und ungerechten Handlungen der Regierung angenommen. Diese Resolution erklärt, dass „angesichts der willkürlichen Handlungen der Administration und der ständigen Verletzung der staatsbürgerlichen Rechte durch sie die Konferenz es für die Pflicht aller hält, die natürlichen Rechte des Menschen mit friedlichen Mitteln zu verteidigen, einschließlich des Widerstands gegen die Handlungen der Behörden, die diese Rechte verletzen, auch wenn solche Handlungen sich auf den Buchstaben des Gesetzes stützen". (Wir zitieren nach der „Times".2)

Also unzweifelhaft ein Schritt unserer liberalen Bourgeoisie nach links. Die Revolution geht vorwärts und auch die bürgerliche Demokratie trottet hinter ihr her. Der wahre Charakter dieser Demokratie als einer bürgerlichen Demokratie, die die Interessen der besitzenden Klasse vertritt und die Sache der Freiheit inkonsequent und eigennützig verteidigt, zeigt sich immer deutlicher, trotzdem die bürgerliche Demokratie „röter" wird und sich hier und da bemüht, eine „fast revolutionäre" Sprache zu führen.

In der Tat, was bedeutet die Verschiebung der Frage des Boykotts der Bulyginschen Verfassung? Den Wunsch, mit dem Absolutismus noch etwas zu markten. Das mangelnde Selbstvertrauen jener Mehrheit, die sich zugunsten des Boykotts gebildet hatte. Das stillschweigende Bekenntnis, dass die Herren Großgrundbesitzer und Kaufleute eine Verfassung erbitten, sich aber gegebenenfalls auch mit weniger bescheiden werden. Wenn selbst die Konferenz der liberalen Bourgeois es nicht wagt, mit dem Absolutismus und der Bulyginschen Komödie sofort zu brechen, was ist dann von jener Konferenz der Bourgeois aller Sorten zu erwarten, die sich Bulyginsche „Duma" nennen und (wenn sie je gewählt wird!) mit Hilfe von verschiedenen Methoden des Druckes seitens der absolutistischen Regierung gewählt werden wird?

Die absolutistische Regierung betrachtet eben diesen Akt der Liberalen nur als eine der Episoden des bürgerlichen Feilschens. Angesichts der Unzufriedenheit der Liberalen „erhöht" der Absolutismus sein Angebot ein wenig: die Auslandspresse meldet, dass am Bulyginschen Projekt eine Reihe neuer „liberaler" Abänderungen angebracht wird. Andererseits antwortet die Regierung auf die Unzufriedenheit der Semstwo-Vertreter mit einer neuen Drohung. Charakteristisch ist da die Meldung des Korrespondenten der „Times", wonach Bulygin und Goremykin als Antwort auf den „Radikalismus" der Vertreter der Semstwos vorschlagen, die Bauern gegen die „Herrschaften" aufzuhetzen, indem man ihnen die Zuteilung von Land im Namen des Zaren verspricht und (mit Hilfe der Bezirkshauptleute3) eine „Volks"-Abstimmung darüber veranstaltet, ob es Standes- oder allgemeine Wahlen geben soll. Natürlich ist diese Meldung nur ein Gerücht, das offenbar mit Absicht verbreitet wurde. Aber es bleibt außer Zweifel, dass die Regierung vor den wildesten, gröbsten und brutalsten Formen der Demagogie nicht zurückscheut. Sie fürchtet nicht den Aufruhr der „verwilderten" Massen und des Abschaums der Bevölkerung, die Liberalen aber fürchten sich vor dem Volksaufstand gegen die Gewaltherrscher und Plünderungshelden, gegen die Räubereien und türkischen Grausamkeiten. Die Regierung hat das Blutvergießen in unerhörtem Umfange und unerhörten Formen schon längst begonnen. Die Liberalen aber antworten, dass sie Blutvergießen vermeiden wollen! Hat nach so einer Antwort nicht jeder beliebige gedungene Mörder recht, wenn er sie wie bürgerliche Krämer behandelt? Ist nach alledem diese Resolution mit dem Appell an das Volk und mit dem Bekenntnis zum „friedlichen Widerstand" gegen Willkür und Vergewaltigung nicht lächerlich? Die Regierung verteilt Waffen nach rechts und links und kauft alle beliebigen Leute zur Niedermetzelung von Juden, „Demokraten", Armeniern, Polen usw. Und unsere „Demokraten" betrachten die Agitation für einen „friedlichen Widerstand" als einen „revolutionären" Schritt!

In der soeben erhaltenen Nummer 73 des „Oswoboschdjenije" poltert Herr Struve gegen Herrn Suworin, der Herrn Iwan Petrunkjewitsch aufmunternd auf die Schultern klopft und vorschlägt, solche Liberale in den verschiedenen Ministerien und Departements unterzubringen, um sie zu beschwichtigen.4 Herr Struve ist empört, denn gerade Herrn Petrunkjewitsch und seine Gesinnungsgenossen vom Semstwo („die sich vor der Geschichte und der Nation durch ein Programm" – durch was für eins? wo? – „gebunden haben") hat er für das künftige, aus der konstitutionell-demokratischen Partei zu bildende Ministerium in Aussicht genommen. Wir aber glauben, dass die Haltung der Herren Petrunkjewitsch sowohl bei ihrem Empfang durch den Zaren als auch auf dem Semstwokongress am 6./19. Juli sogar den Herren Suworin das volle Recht gibt, solche „Demokraten" mit Verachtung zu behandeln. Herr Struve schreibt: „Jeder aufrichtige und denkende Liberale in Russland fordert die Revolution." Wir aber sagen, wenn dieses „Fordern der Revolution" im Juli 1905 in einer Resolution über die friedlichen Mittel des Widerstandes zum Ausdruck kommt, so haben die Suworins das volle Recht, solchen „Forderungen" und solchen „Revolutionären" mit Verachtung und mit Hohn zu begegnen.

Herr Struve wird wahrscheinlich erwidern, dass die Ereignisse, die unsere Liberalen bis jetzt nach links getrieben haben, sie mit der Zeit noch weiter treiben werden. Er schreibt in derselben Nummer 73:

Die Bedingungen für eine physische Einmischung der Armee in den politischen Kampf werden erst dann wirklich gegeben sein, wenn ein Zusammenstoß der absolutistischen Monarchie mit der durch die Volksvertretung organisierten Nation erfolgt. Dann wird die Armee vor die Wahl gestellt sein: die Regierung oder die Nation, und die Wahl wird leicht und unfehlbar getroffen werden."

Dieses friedliche Idyll gleicht dem Aufschieben der Revolution auf die griechischen Kalenden.5 Wer organisiert denn die Nation durch die Volksvertretung? Der Absolutismus? Der ist aber nur damit einverstanden, die Bulyginsche Duma zu organisieren, gegen die ihr selbst protestiert und die ihr nicht als eine Volksvertretung anerkennt! Oder wird „die Nation" selbst die Volksvertretung organisieren? Wenn dem so ist, warum wollen dann die Liberalen von einer provisorischen revolutionären Regierung, die sich nur auf eine revolutionäre Armee stützen kann, nichts wissen? Wenn sie schon auf ihrer Konferenz im Namen des Volkes sprechen – warum tun sie dann nicht einen solchen Schritt, der die Organisierung der Nation durch die Volksvertretung bekunden würde? Wenn ihr wirklich Volksvertreter seid, Herrschaften, und nicht Vertreter der Bourgeoisie, die die Interessen des Volkes in der Revolution verraten, warum wendet ihr euch dann nicht an die Armee? Warum erklärt ihr nicht den Bruch mit der absolutistischen Monarchie? Warum schließt ihr die Augen vor dem unvermeidlichen Entscheidungskampf zwischen der revolutionären und der zaristischen Armee?

Weil ihr vor dem revolutionären Volk Angst habt und weil ihr in Wirklichkeit, während ihr euch an dieses Volk mit Phrasen wendet, dem Absolutismus Rechnung tragt und mit ihm feilscht. Ein weiterer Beweis dafür sind die Unterhandlungen des Vorsitzenden des Organisationskomitees des Semstwokongresses, des Herrn Golowin, mit dem Moskauer Generalgouverneur Koslow, Herr Golowin versicherte Koslow, dass die Gerüchte über die Absicht, diese Konferenz in eine konstituierende Versammlung zu verwandeln, Unsinn seien. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass der Vertreter der organisierten bürgerlichen Demokratie sich gegenüber dem Vertreter des Absolutismus dafür verbürgte, dass diese nicht auf einen Bruch mit dem Absolutismus abziele! Nur politische Säuglinge sind imstande, nicht zu verstehen, dass das Versprechen, die Konferenz nicht als konstituierende Versammlung zu proklamieren, gleichbedeutend ist mit dem Versprechen, keine wirklich revolutionären Maßnahmen zu ergreifen. Denn Koslow fürchtete natürlich nicht die Worte „konstituierende Versammlung", sondern die Taten, die geeignet sind, den Konflikt zu verschärfen und den Entscheidungskampf des Volkes und der Armee gegen den Zarismus zu entfachen! Ist denn das nicht politische Heuchelei, wenn ihr euch in Worten Revolutionäre nennt, vom Appell an das Volk und von der Aufgabe aller Hoffnungen auf den Zaren sprecht, in Wirklichkeit aber die Diener des Zaren über eure Absichten beruhigt?

Ach diese aufgeblasenen liberalen Worte! Wie viel davon hat doch der Führer der „konstitutionell-demokratischen" Partei, Herr Petrunkjewitsch, auf der Konferenz zusammen geredet! Wir wollen einmal sehen, durch welche Erklärungen er sich „vor der Geschichte und der Nation gebunden" hat. Wir zitieren nach dem Bericht der „Times".

Herr de Roberti spricht sich für eine Petition an den Zaren aus. Dagegen sprechen Petrunkjewitsch, Nowossilzew, Schachowskoi, Roditschew. Die Abstimmung ergibt nur sechs Stimmen für die Petition. Aus der Rede des Herrn Petrunkjewitsch:

Als wir am 6./19. Juni nach Peterhof fuhren, hofften wir noch, dass der Zar die drohende Gefahr der Lage einsehen und etwas zu ihrer Abwendung unternehmen wird. Jetzt muss jedwede Hoffnung darauf aufgegeben werden. Nur ein Ausweg ist geblieben. Bis jetzt hofften wir auf eine Reform von oben, von nun an ist unsere einzige Hoffnung – das Volk. (Lauter Beifall.) Wir müssen dem Volk in schlichten und klaren Worten die Wahrheit sagen. Die Unfähigkeit und Machtlosigkeit der Regierung haben die Revolution heraufbeschworen. Das ist eine Tatsache, die von allen anerkannt werden muss. Unsere Pflicht ist es, uns alle Mühe zu geben, Blutvergießen zu vermeiden. Viele von uns haben lange Jahre im Dienste des Vaterlandes gestanden. Jetzt müssen wir mutig zum Volk gehen und nicht zum Zaren."

Am nächsten Tage setzte Herr Petrunkjewitsch fort: „Wir müssen den Rahmen unserer Tätigkeit sprengen und zum Bauern gehen. Bis jetzt hofften wir auf die Reformen von oben; aber derweil wir warteten, verrichtete die Zeit ihr Werk. Die Revolution, die von der Regierung gefördert wurde, hat uns überholt. Das Wort ,Revolution' erschreckte zwei von unseren Mitgliedern gestern so sehr, dass sie den Kongress verließen. Aber wir müssen der Wahrheit mannhaft ins Gesicht schauen. Wir können nicht die Hände in den Schoß legen und warten. Man erwiderte uns, dass der Appell der Semstwos und der Stadtvertretungen an das Volk Agitation sei, die Unruhe stiften werde. Herrscht etwa in den Dörfern Ruhe? Nein, die Unruhe ist schon offenbar und dazu in schlimmerer Form. Wir können den Sturm nicht aufhalten, aber wir müssen auf jeden Fall dafür sorgen, dass eine zu starke Erschütterung vermieden wird. Wir müssen dem Volke sagen, dass es keinen Nutzen bringt, wenn Fabriken und Güter zerstört werden. Wir dürfen diese Zerstörung nicht als einen einfachen Vandalismus betrachten. Das ist die blinde und rohe Art der Bauern, dem Übel abzuhelfen, das sie instinktiv fühlen, aber nicht zu erfassen imstande sind. Mögen die Behörden ihnen mit den Nagajkas antworten. Unsere Pflicht ist es dennoch, zum Volke zu gehen. Wir hätten das früher tun sollen. Vierzig Jahre bestehen schon die Semstwos, ohne mit den Bauern in enge und intime Berührung gekommen zu sein. Wollen wir also keine Zeit verlieren, um diesen Fehler zu korrigieren. Wir müssen dem Bauer sagen, dass wir mit ihm sind."

Sehr gut, Herr Petrunkjewitsch! Wir sind mit dem Bauer, wir sind mit dem Volk, wir anerkennen die Revolution als eine Tatsache, wir haben jede Hoffnung auf den Zaren aufgegeben… Viel Glück, Herrschaften! Aber… aber wie denn? Nicht mit dem Zaren, sondern mit dem Volk, und darum verspricht man dem Generalgouverneur Koslow, dass der Kongress nicht als konstituierende Versammlung, das heißt als eine wirkliche, echte Volksvertretung funktionieren wird? Die Revolution anerkennen und darum die Bestialitäten, Mordtaten und Räubereien der Zarenknechte mit friedlichen Mitteln des Widerstandes beantworten? Zum Bauer und mit dem Bauer gehen und sich darum mit dem allerzweifelhaftesten Programm begnügen, das nur eine Ablösung mit der Zustimmung der Gutsbesitzer verspricht! Nicht mit dem Zaren gehen, sondern mit dem Volk und darum einem Verfassungsprojekt zustimmen, das erstens die Monarchie sowie die Aufrechterhaltung der Macht des Zaren über die Armee und die Beamtenschaft sichert und zweitens durch ein Oberhaus von vornherein die politische Herrschaft der Großgrundbesitzer und der Großbourgeoisie verbürgt.*

Die liberale Bourgeoisie geht zum Volk. Das ist wahr. Sie ist gezwungen, zu ihm zu gehen, denn ohne das Volk ist sie im Kampf gegen den Absolutismus kraftlos. Aber sie fürchtet das revolutionäre Volk und geht zu ihm nicht als Vertreterin seiner Interessen, nicht als neuer, feuriger Kampfgenosse, sondern als ein Krämer, ein Makler, der von einer der kämpfenden Parteien zur anderen läuft. Heute ist sie beim Zaren und bittet ihn im Namen des „Volkes" um eine monarchische Verfassung, wobei sie das Volk, die „Unruhen", die „Rebellion", die Revolution ängstlich verleugnet. Morgen droht sie von ihrem Kongress aus dem Zaren, und zwar mit einer monarchischen Verfassung und mit einem friedlichen Widerstand gegen die Bajonette. Und ihr wundert euch, Herrschaften, dass die Zarenknechte eure winzige, ängstliche, heuchlerische Seele durchschauten? Ihr fürchtet euch davor, ohne Zaren zu bleiben. Der Zar fürchtet sich nicht davor, ohne euch zu bleiben. Ihr habt Angst vor dem entscheidenden Kampf. Der Zar fürchtet ihn nicht, sondern er will den Kampf, er provoziert ihn selbst und beginnt ihn, er will die Kräfte messen, bevor er nachgibt. Es ist ganz natürlich, dass der Zar euch verachtet. Es ist ganz natürlich, dass die Lakaien des Zaren, die Herren Suworin, euch diese Verachtung durch das aufmunternde Klopfen auf die Schulter eures Petrunkjewitsch ausdrücken. Ihr habt diese Verachtung verdient, weil ihr nicht gemeinsam mit dem Volke kämpft, sondern euch hinter dem Rücken des revolutionären Volkes die Macht erschleicht.

Die ausländischen Korrespondenten und Publizisten der Bourgeoisie erfassen zuweilen dieses Wesen der Sache ziemlich treffend, obschon sie das eigenartig zum Ausdruck bringen. Herr Gaston Leroux im „Matin versucht die Ansichten der Semstwo-Männer so zu deuten: „Unordnung oben, Unordnung unten, wir allein sind die Vertreter der Ordnung."6 Die Ansicht der Semstwo-Männer ist wirklich so. In ehrliches Russisch übersetzt, heißt das: Oben und unten ist man zu kämpfen bereit, wir ehrlichen Makler aber, wir erschleichen uns die Macht. Wir warten, ob nicht auch bei uns ein 18. März kommen wird, ob das Volk nicht wenigstens einmal im Straßenkampfe über die Regierung siegen und sich uns die Gelegenheit bieten wird, gleich der deutschen liberalen Bourgeoisie, nach dem ersten Sieg des Volkes die Macht in die Hände zu nehmen. Und dann, wenn wir gegenüber dem Absolutismus eine Kraft darstellen werden, werden wir uns gegen das revolutionäre Volk wenden und mit dem Zaren einen Pakt gegen das Volk schließen. Unser Verfassungsprojekt ist das fertige Programm eines solchen Paktes.

Die Berechnung ist nicht dumm. Vom revolutionären Volk gilt bisweilen, was die Römer von Hannibal sagten: Du verstehst zu siegen, aber nicht, den Sieg auszunützen! Wenn der Sieg des Aufstandes nicht zu einer revolutionären Umwälzung, zur vollständigen Niederwerfung des Absolutismus, zur Beseitigung der inkonsequenten und eigennützigen Bourgeoisie und zur revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft führt, wird er noch nicht den Sieg des Volkes bedeuten.

Das Organ der französischen konservativen Bourgeoisie, der „Temps", erteilt den Semstwo-Männern direkt den Rat, den Konflikt schleunigst durch eine Verständigung mit dem Zaren zu schlichten (Leitartikel vom 24. Juli n. St.).7 Reformen, sagt das Blatt, sind unmöglich ohne die Vereinigung der moralischen und der materiellen Kraft. Über die materielle Kraft verfügt nur die Regierung, die moralische besitzen die Semstwo-Männer.

Eine ausgezeichnete Formulierung der bürgerlichen Ansichten und eine ausgezeichnete Bestätigung unserer Analyse der Politik der Semstwo-Männer! Der Bourgeois hat dabei nur eine Kleinigkeit vergessen: das Volk, die Dutzende Millionen Arbeiter und Bauern, die durch ihre Arbeit alle Reichtümer der Bourgeoisie erzeugen und die für die Freiheit kämpfen, weil sie dieselbe so nötig haben wie das Licht und die Luft. Der Bourgeois war berechtigt, sie zu vergessen, da sie ja ihre „materielle Kraft" noch nicht durch einen Sieg über die Regierung bewiesen haben. Anders als durch die „materielle Kraft" wurde in der Geschichte noch keine große Frage gelöst und der zaristische Absolutismus, wir wiederholen, beginnt selbst den Kampf und provoziert das Volk, um seine Kräfte mit ihm zu messen.

Die Bourgeoisie Frankreichs erteilt der russischen Bourgeoisie den Rat, schleunigst mit dem Zaren einen Kompromiss zu schließen. Sie fürchtet sich, sie empfindet eine unbestimmte Furcht vor dem entscheidenden Kampfe. Weiß man doch noch nicht, ob das Volk, wenn es siegt, die Herren Petrunkjewitsche, die sich zur Macht schleichen, zu ihr zulassen wird! Es ist unmöglich, im Voraus zu bestimmen, in welchem Maße der Sieg entscheidend sein wird, welches seine Ergebnisse sein werden, und das erklärt vollauf die Ängstlichkeit der Bourgeoisie.

Das Proletariat bereitet sich in ganz Russland zu diesem entscheidenden Kampf vor. Es sammelt seine Kräfte, es lernt und erstarkt bei jedem neuen Zusammenstoß. Die bisherigen Zusammenstöße endeten zwar mit Misserfolgen, aber diese haben immer wieder zu neuen und stärkeren Angriffen geführt. Das Proletariat geht dem Siege entgegen. Es reißt die Bauernschaft mit sich fort. Gestützt auf die Bauernschaft, paralysiert das Proletariat die schwankende Haltung und den Verrat der Bourgeoisie, wird es die Machtanwärter der Bourgeoisie beiseite schieben und den Absolutismus mit Gewalt zerstören, aus dem russischen Leben alle Spuren der verfluchten Leibeigenschaft mit der Wurzel ausreißen. Dann werden wir dem Volk nicht eine monarchische Verfassung erkämpfen, die der Bourgeoisie politische Privilegien sichert. Wir werden in Russland die Republik erkämpfen mit voller Freiheit für alle unterdrückten Völker, mit voller Freiheit für die Bauern und Arbeiter. Und dann werden wir die ganze revolutionäre Energie des Proletariats für den breitesten und kühnsten Kampf für den Sozialismus, für die volle Befreiung aller Werktätigen von jeglicher Ausbeutung ausnützen.

1 Gemeint sind: der Kongress der Industriellen und der Kongress der Vertreter der Semstwos und der Städte am 6/.19. Juli und der Kongress des „Verbandes der Verbände" vom 1./14. bis 3./16. Juli in Finnland.

2 Die in dem Artikel angeführten Mitteilungen über den Kongress sind den in der „Times" veröffentlichten Telegrammen ihrer Moskauer und Petersburger Korrespondenten vom 19., 21. und 24. Juli (n. St.) 1905 entnommen. Die auf der nächsten Seite folgende Berufung auf die „Times" bezieht sich auf der am 25. Juli 1905 veröffentlichten Korrespondenz aus Moskau vom 11./24. Juli: „The Moscow congress. Government counter move" (der Kongress in Moskau. Gegenaktion der Regierung).

3 „Semski natschalnik" = staatliche provinziale Verwaltungsbeamte etwa wie die preußischen Landräte oder die österreichischen Bezirkshauptleute. D. Red.

4 Die zitierten Worte sind aus dem Artikel P. Struves: „Eine gerade Antwort auf die krummen Reden des H. Suworin" im „Oswoboschdjenije" vom 6./19. Juli 1905 entnommen. Bei dem Zitat aus Nr. 73 derselben Zeitung (auf der nächsten Seite) hat Lenin den Artikel Struves „Fürst Potemkin" im Auge. Der hier erwähnte Artikel Suworins hieß „Kleine Briefe" und erschien am 23. Juni/6. Juli 1905 im „Nowoje Wremja".

5 Nach dem lateinischen Spruch „ad calendas graecas", soviel wie: bis zum St. Nimmerleinstag. D. Red.

* Siehe das von unserer Zeitung herausgegebene Flugblatt „Drei Verfassungen".

6 Hier wird der am 24. Juli 1905 veröffentlichte und von Gaston Leroux gezeichnete Bericht vom 1./14. Juli zitiert, der die Überschrift trug: „Les réformes en Russie. Essai sur la révolution (Ce qu'elle est, ce qu'elle veut, ce qu'elle fera)" (Die Reformen in Russland. Eine Abhandlung über die Revolution – was sie ist, was sie will, was sie tun wird").

7 Lenin meint hier den Leitartikel vom 24. Juli 1905: „Bulletin de l'étranger. Le Congrès de Moscou." (Auslandsbericht. Der Kongress in Moskau.)

Kommentare