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Wladimir I. Lenin 19051026 Der Allrussische politische Streik

Wladimir I. Lenin: Der Allrussische politische Streik

[Proletarij", Nr. 23, 18./31. Oktober 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 446-449]

Genf, 13./26. Oktober

Das Barometer zeigt auf Sturm! So kommentieren die heutigen ausländischen Zeitungen die telegraphischen Nachrichten über das machtvolle Anwachsen des allrussischen politischen Streiks.

Und nicht nur das Barometer zeigt auf Sturm, sondern alles, alles ist bereits mitgerissen worden von dem gigantischen Sturm des solidarischen Vorstoßes des Proletariats. Die Revolution schreitet mit erstaunlicher Geschwindigkeit vorwärts, entwickelt einen erstaunlichen Reichtum an Ereignissen, und wenn wir unseren Lesern eine ausführliche Geschichte der letzten drei, vier Tage geben wollten, dann müssten wir ein ganzes Buch schreiben. Jedoch, eine ausführliche Geschichte zu schreiben, wollen wir den künftigen Geschlechtern überlassen. Atemberaubende Szenen eines der größten Bürgerkriege, eines der größten Freiheitskriege, die die Menschheit jemals erlebt hat, sehen wir vor uns, und man muss rasch leben, um alle seine Kräfte diesem Kriege widmen zu können.

Der Sturm ist losgebrochen – und wie nichtig erscheinen jetzt die liberalen und demokratischen Reden, Vermutungen, Weissagungen und Pläne über die Duma! Wie veraltet sind bereits – nach wenigen Tagen, nach wenigen Stunden – unsere Streitigkeiten wegen der Duma! Einige von uns bezweifelten, dass das revolutionäre Proletariat die Kraft haben werde, diese schmähliche Komödie der Polizeiminister zunichte zu machen, einige von uns fürchteten sich, mit aller Kühnheit von einem Wahlboykott zu sprechen. Und nun, wo die Wahlen noch nicht einmal überall begonnen haben, hat eine einzige Armbewegung das ganze Kartenhaus ins Wanken gebracht. Eine einzige Armbewegung hat nicht nur die Liberalen und die ängstlichen Oswoboschdjenije-Leute, sondern auch Herrn Witte, das Haupt der neuen „liberalen" zaristischen Regierung, gezwungen, von Reformen zu sprechen (allerdings vorerst nur zu sprechen), die alle Spitzfindigkeiten der Bulyginschen Farce untergraben.

Dieser Arm, dessen Bewegung in der Frage der Duma eine Umwälzung hervorgerufen hat, ist der Arm des russischen Proletariats … Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will." heißt es in einem deutschen sozialistischen Liede.1 Jetzt hat sich dieser starke Arm erhoben. Unsere Hinweise und Voraussagungen über die große Bedeutung des politischen Massenstreiks für den bewaffneten Aufstand haben sich glänzend bewahrheitet. Der allrussische politische Streik hat diesmal tatsächlich das ganze Land erfasst und alle Völker des verfluchten russischen „Imperiums" im heroischen Aufstand der geknechtetsten und fortgeschrittensten Klasse vereinigt. Die Proletarier aller Völker dieses Reiches der Knechtung und Vergewaltigung formieren sich jetzt zu einer großen Armee der Freiheit, zu einer Armee des Sozialismus. Moskau und Petersburg haben sich in die Ehre der revolutionären proletarischen Initiative geteilt. Die Hauptstädte sind in den Streik getreten. Finnland streikt. Die Ostseeprovinzen mit Riga an der Spitze haben sich der Bewegung angeschlossen. Das heldenmütige Polen ist erneut in die Reihe der Streikenden eingetreten, gerade so, als mache es sich über die ohnmächtige Wut der Feinde lustig, die Polen durch ihre Hiebe niederzuschlagen glaubten und die seine revolutionären Kräfte nur noch fester geschmiedet haben. Es erheben sich die Krim (Simferopol) und der Süden. In Jekaterinoslaw errichtet man Barrikaden und es fließt Blut. Es streikt das Wolgagebiet (Saratow, Simbirsk, Nischni-Nowgorod), sowohl in den zentralen, ackerbautreibenden Gouvernements (Woronesch) als auch im Industriezentrum (Jaroslawl) entbrennt der Streik.

Und an die Spitze dieser vielsprachigen, viele Millionen zählenden Arbeiterarmee trat die bescheidene Delegation des Verbandes der Eisenbahner. Die Tribüne, auf der sich die politischen Komödien der Herren Liberalen mit ihren hochtrabend-feigen Reden an den Zaren, mit ihren an die Adresse von Witte gerichteten Grimassen abgespielt haben – auf diese Tribüne stürmte der Arbeiter und präsentierte dem neuen Haupt der neuen „liberalen" zaristischen Regierung, Herrn Witte, sein Ultimatum. Die Delegation der Eisenbahnarbeiter wollte die „kleinbürgerliche Instanz", die Reichsduma, nicht abwarten. Die Arbeiterdelegation wollte auch ihre kostbare Zeit nicht an die „Kritik" dieser Puppenkomödie vergeuden. Die Arbeiterdelegation hatte ja vom Anfang an die Kritik durch die Tat – den politischen Streik – vorbereitet und erklärte nun dem Ministerclown: Es kann nur eine Lösung geben – die Einberufung der konstituierenden Versammlung auf der Grundlage des allgemeinen und direkten Wahlrechts.

Der Ministerclown sprach, wie die Eisenbahnarbeiter treffend bemerkten, „wie eine echte Beamtenseele und machte wie immer Ausflüchte, ohne sich auf etwas Bestimmtes festzulegen". Er verspricht Verfügungen über Pressefreiheit und lehnt das allgemeine Wahlrecht ab; die konstituierende Versammlung sei „jetzt unmöglich", so äußerte er nach ausländischen Telegrammen.

Und die Arbeiterdelegation verkündete den Generalstreik. Die Arbeiterdelegation begab sich vom Minister zur Universität, wo politische Versammlungen mit Zehntausenden von Teilnehmern stattfanden. Das Proletariat verstand es, die Tribüne auszunutzen, die ihm die revolutionäre Studentenschaft zur Verfügung gestellt hatte. In den ersten systematisch organisierten, freien politischen Massenversammlungen Russlands, in allen Städten, in den Schulen, in den Fabriken, auf den Straßen wird über die Antwort des Ministerclowns diskutiert, wird von der Aufgabe des entschlossenen, bewaffneten Kampfes gesprochen, der die Einberufung der konstituierenden Versammlung „möglich" und notwendig machen wird. Die ausländische bürgerliche Presse, selbst die liberalste, stottert entsetzt von den „terroristischen und aufrührerischen" Losungen, die von den Rednern in den freien Volksversammlungen verkündet werden, als hätte die Regierung des Zaren durch ihre ganze Politik der Knechtung nicht selbst die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit des Aufstandes hervorgerufen.

Der Aufstand naht, er erwächst vor unseren Augen aus dem allrussischen politischen Streik. Die Ernennung des Ministerclowns, der den Arbeitern versicherte, dass eine vom ganzen Volke gewählte konstituierende Versammlung „jetzt" unmöglich sei, beweist deutlich den Aufstieg der revolutionären Kräfte und den Zusammenbruch der Kräfte der zaristischen Regierung. Der Absolutismus hat schon nicht mehr die Kraft, offen gegen die Revolution vorzugehen. Die Revolution hat noch nicht die Kraft, dem Feinde den entscheidenden Schlag zu versetzen. Dieses Schwanken der Kräfte, die sich fast die Wage halten, erzeugt unvermeidlich Kopflosigkeit bei der Regierungsmacht und bewirkt den Übergang von Repressalien zu Zugeständnissen, zu Gesetzen über Presse- und Versammlungsfreiheit.

Vorwärts denn zu neuem, noch breiterem und beharrlicherem Kampf, damit der Feind nicht zur Besinnung komme! Das Proletariat hat bereits Wunder vollführt für den Sieg der Revolution. Der allrussische politische Streik hat den Sieg der Revolution gewaltig näher gebracht und den Feind gezwungen, sich in Todesangst zu winden. Wir haben jedoch noch lange, noch lange nicht alles getan, was wir tun können und für den endgültigen Sieg tun müssen. Der Kampf nähert sich immer mehr der eigentlichen Entscheidung, aber er ist noch nicht so weit gediehen. Doch gerade jetzt erhebt sich die Arbeiterklasse, mobilisiert ihre Kräfte und bewaffnet sich in einem bisher ungeahnten Umfang. Und sie wird endlich den verhassten Absolutismus hinwegfegen, alle Ministerclowns davon jagen, ihre eigene provisorische revolutionäre Regierung einsetzen und allen Völkern Russlands zeigen, wie es „möglich" und wie es gerade „jetzt" notwendig ist, eine wirklich vom gesamten Volke gewählte und wahrhafte konstituierende Versammlung einzuberufen.

1 Das Zitat stammt aus dem im Auftrag Lassalles von Georg Herwegh verfassten „Bundeslied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereines" („Bet' und arbeit'! ruft die Welt…"), das von Hans von Bülow vertont wurde.

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