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Wladimir I. Lenin 19050125 Der Beginn der Revolution in Russland AW

Wladimir I. Lenin: Der Beginn der Revolution in Russland1

[Genf, Mittwoch, den 12./25. Januar. Nach Ausgewählte Werke, Band 3, Die Revolution von 1905-1907, Wien-Berlin 1932, S. 277-280]

In Russland spielen sich gewaltige historische Ereignisse ab. Das Proletariat hat sich gegen den Zarismus erhoben. Das Proletariat ist von der Regierung zum Aufstand getrieben worden. Jetzt sind wohl kaum noch Zweifel möglich, dass die Regierung absichtlich die Streikbewegung sich verhältnismäßig ungehindert entwickeln und es zu einer großen Demonstration kommen ließ, weil sie einen Vorwand haben wollte, um die Militärmacht einsetzen zu können. Und sie hat es dahin gebracht! Tausende von Toten und Verwundeten – das ist das Fazit des blutigen Sonntags, des 9./22. Januar in Petersburg. Das Militär hat über die wehrlosen Arbeiter, Frauen und Kinder gesiegt. Das Militär hat den Feind überwältigt, indem es die am Boden liegenden Arbeiter zusammenschoss. „Wir haben ihnen eine tüchtige Lektion erteilt!“ sagen jetzt mit nicht wiederzugebendem Zynismus die Diener des Zaren und ihre europäischen Lakaien aus der konservativen Bourgeoisie.

Ja, es war eine große Lehre! Das russische Proletariat wird diese Lehre nicht vergessen. Die am wenigsten vorbereiteten, die am meisten zurückgebliebenen Schichten der Arbeiterklasse, die in naivem Glauben an dem Zaren hingen und aufrichtig wünschten, friedlich „dem Zaren selbst“ die Bitten des gequälten Volkes vorzubringen, sie alle haben von der vom Zaren oder von dem Onkel des Zaren, dem Großfürsten Wladimir, geführten Militärmacht eine Lehre erhalten.

Die Arbeiterklasse hat eine große Lehre des Bürgerkrieges erhalten; die revolutionäre Erziehung des Proletariats hat an dem einen Tag einen so großen Schritt vorwärts gemacht, wie sie ihn in Monaten und Jahren des grauen, verschüchterten Alltagslebens nicht hätte machen können. Die Losung des heldenmütigen Petersburger Proletariats: „Tod oder Freiheit!“ hallt jetzt wie ein Echo durch ganz Russland wider. Die Ereignisse entwickeln sich mit rasender Geschwindigkeit. Der Generalstreik in Petersburg wächst. Das ganze industrielle, gesellschaftliche und politische Leben ist lahmgelegt. Am Montag, dem 10./23. Januar, werden die Zusammenstöße der Arbeiter mit dem Militär erbitterter. Entgegen den lügenhaften Regierungsmeldungen fließt Blut an sehr vielen Stellen der Hauptstadt. Die Arbeiter von Kolpino erheben sich. Das Proletariat bewaffnet sich und bewaffnet das Volk. Wie es heißt, sollen die Arbeiter das Sestrorezker Waffenarsenal besetzt haben. Die Arbeiter versehen sich mit Revolvern, schmieden sich Waffen aus ihren Werkzeugen, verschaffen sich Bomben zum verzweifelten Kampf für die Freiheit. Der Generalstreik greift auf die Provinz über. In Moskau haben bereits 10.000 Menschen die Arbeit niedergelegt. Für Morgen (Donnerstag, den 13./26. Januar) ist in Moskau der Generalstreik angesetzt. In Riga ist eine Revolte ausgebrochen. In Łódź demonstrieren die Arbeiter, die Erhebung Warschaus bereitet sich vor, in Helsingfors finden Demonstrationen des Proletariats statt. In Baku, Odessa, Kiew, Charkow, Kowno und Wilna wächst die Gärung unter den Arbeitern, und der Streik dehnt sich aus. In Sewastopol brennen die Lagerhäuser und das Arsenal der Marineverwaltung, und das Militär weigert sich, auf die meuternden Matrosen zu schießen. Streik in Reval und in Saratow. Bewaffneter Zusammenstoß der Arbeiter und Reservisten mit dem Militär in Radom.

Die Revolution breitet sich aus. Schon beginnt die Regierung unsicher zu werden. Von der Politik blutiger Repressalien versucht sie zu wirtschaftlichen Zugeständnissen überzugehen und sich mit einem Almosen oder mit dem Versprechen des Neunstundentages loszukaufen. Aber die Lehre des blutigen Tages kann nicht umsonst gewesen sein. Die Forderung der aufständischen Petersburger Arbeiter – sofortige Einberufung der konstituierenden Versammlung auf der Grundlage des allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlrechts – muss zur Forderung aller streikenden Arbeiter werden. Sofortiger Sturz der Regierung – das ist die Parole, mit der selbst die vorher zarengläubigen Petersburger Arbeiter auf das Blutbad vom 9. Januar geantwortet haben, geantwortet haben durch den Mund ihres Führers, des Priesters Georgij Gapon, der nach diesem Bluttage erklärt hat: „Wir haben keinen Zaren mehr. Ein Strom von Blut trennt den Zaren vom Volke. Es lebe der Kampf für die Freiheit!“

Es lebe das revolutionäre Proletariat! sagen wir. Der Generalstreik erhebt und mobilisiert immer breitere Massen der Arbeiterklasse und der städtischen Armut. Die Bewaffnung des Volkes wird zu einer der nächsten Aufgaben des revolutionären Moments.

Nur das bewaffnete Volk kann ein wirklicher Schutz für die Volksfreiheit sein. Und je schneller es dem Proletariat gelingen wird, sich zu bewaffnen, je länger es sich in seiner militärischen Position des streikenden Revolutionärs halten wird, um so rascher wird das Militär erschüttert werden, um so mehr werden sich unter den Soldaten Leute finden, die endlich begreifen werden, was sie tun, die auf die Seite des Volkes treten werden gegen die Unmenschen, gegen den Tyrannen, gegen die Mörder der wehrlosen Arbeiter, ihrer Frauen und Kinder. Wie immer der jetzige Aufstand in Petersburg selbst enden möge, in jedem Falle wird er unvermeidlich und unausbleiblich die erste Stufe zu einem noch umfassenderen, zielbewussteren, besser vorbereiteten Aufstand bilden. Der Regierung mag es vielleicht gelingen, die Stunde der Vergeltung hinauszuschieben, aber dieses Hinauszögern wird den nächsten Schritt des revolutionären Ansturms nur noch grandioser gestalten. Die Zwischenzeit wird die Sozialdemokratie nur benutzen, um die Reihen der organisierten Kämpfer fester zusammenzuschweißen und um die Nachricht von dem mutigen Beginnen der Petersburger Arbeiter überall zu verbreiten. Das Proletariat wird sich dem Kampfe anschließen, dadurch, dass es die Fabriken und Werke verlässt und sich Waffen beschafft. Die Losungen des Freiheitskampfes werden unter die arme Bevölkerung der Städte, unter die Millionen der Bauernschaft immer weiter und weiter dringen. In jeder Fabrik, in jedem Stadtbezirk, in jedem größeren Dorf werden sich revolutionäre Komitees bilden. Das rebellierende Volk wird daran gehen, alle Regierungsinstitutionen des zaristischen Absolutismus zu stürzen und die sofortige Einberufung der konstituierenden Versammlung zu proklamieren.

Die sofortige Bewaffnung der Arbeiter und aller Staatsbürger überhaupt, die Vorbereitung und Organisierung der revolutionären Kräfte zur Vernichtung der Regierungsbehörden und -institutionen – das ist die praktische Grundlage, auf der alle Revolutionäre sich zum gemeinsamen Schlage vereinigen können und müssen. Das Proletariat muss stets seinen selbständigen Weg gehen, in fester Verbindung mit der sozialdemokratischen Partei, eingedenk seines großen Endzieles der Erlösung der ganzen Menschheit von jeder Ausbeutung. Aber diese Selbständigkeit der sozialdemokratischen proletarischen Partei wird uns niemals die Wichtigkeit des gemeinsamen revolutionären Ansturms im Moment der wirklichen Revolution vergessen lassen. Wir Sozialdemokraten können und müssen unabhängig von den Revolutionären der bürgerlichen Demokratie vorgehen und die Klassenselbständigkeit des Proletariats wahren, aber wir müssen mit ihnen Hand in Hand gehen während des Aufstandes, beim offenen Angriff auf den Zarismus, beim Widerstand gegen das Militär, bei den Angriffen auf die Bastillen des verfluchten Feindes des ganzen russischen Volkes.

Das Proletariat der ganzen Welt blickt jetzt mit fieberhafter Spannung auf das Proletariat Russlands. Der Sturz des Zarismus in Russland, von unserer Arbeiterklasse heldenhaft begonnen, wird ein Wendepunkt sein in der Geschichte aller Länder, eine Erleichterung für die Sache aller Arbeiter aller Nationen, in allen Staaten, an allen Ecken und Enden des Erdballs. Und möge jeder Sozialdemokrat, jeder klassenbewusste Arbeiter dessen eingedenk sein, welche ungeheuren Aufgaben dieses das ganze Volk bewegenden Kampfes jetzt auf seinen Schultern lasten. Möge er nicht vergessen, dass er auch die Nöte und Interessen der ganzen Bauernschaft, der ganzen Masse der Werktätigen und Ausgebeuteten, des ganzen Volkes gegen den Feind des gesamten Volkes vertritt. Vor aller Augen steht jetzt das Beispiel der Proletarierhelden von Petersburg.

Es lebe die Revolution!

Es lebe das aufständische Proletariat!

1 Der Beginn der Revolution in Russland“ war der erste Artikel einer ganzen Reihe, die Lenin über die Lage in Russland unmittelbar nach dem Petersburger Blutsonntag schrieb.

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