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Wladimir I. Lenin 19050926 Die liberalen Verbände und die Sozialdemokratie

Wladimir I. Lenin: Die liberalen Verbände und die Sozialdemokratie1

[Proletarij", Nr. 18, 13./26. September 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, Wien-Berlin 1931, S. 308 f.]

Welche Bedeutung haben die „Berufs"-Verbände der Intellektuellen für das Proletariat? Und sollen wir Sozialdemokraten ihnen nicht beitreten, um gegen die Trübung des Klassenbewusstseins der Arbeiter zu kämpfen?

Die „Berufs"-Verbände der Intellektuellen und der „Verband der Verbände" sind politische Organisationen. Es sind in Wirklichkeit liberale Verbände. Im Großen und Ganzen sind das Verbände, die den Kern der sogenannten konstitutionell-demokratischen, d.h. der bürgerlich-liberalen Partei ausmachen. Uns fällt jetzt eine ernstere Pflicht zu: aus allen Kräften die parteimäßige Erziehung des Proletariats und den Zusammenschluss seiner Avantgarde zu einer wirklichen politischen Partei, einer von allen anderen Parteien unbedingt unabhängigen, unbedingt selbständigen Partei zu fördern. Wir sind deshalb verpflichtet, uns gegenüber allen Schritten, die geeignet sind, in die klaren und bestimmten Parteiverhältnisse Verwirrung hinein zu tragen, äußerst vorsichtig zu verhalten. Die ganze liberale Bourgeoisie strengt jetzt alle ihre Kräfte an, um die Bildung einer gänzlich selbständigen Klassenpartei des Proletariats zu verhindern, um die gesamte „Befreiungs"-Bewegung in dem einen Strom des Demokratismus zu „vereinigen" und zu „verschmelzen" und so den bürgerlichen Charakter dieses Demokratismus zu verschleiern.

Wenn die Mitglieder der sozialdemokratischen Partei unter solchen Verhältnissen den liberalen Verbänden beiträten, so wäre das ein großer Fehler; sie würden in die äußerst schiefe Lage von Mitgliedern zweier verschiedener und feindlicher Parteien kommen. Man kann nicht zweien Herren dienen. Man kann nicht Mitglied zweier Parteien sein. Angesichts des Fehlens politischer Freiheit bei uns, im Dunkel der absolutistischen Ordnung, kann man die Parteien leicht verwechseln, und die Interessen der Bourgeoisie verlangen eine solche Verwechslung. Die Interessen des Proletariats erfordern aber eine genaue und klare Scheidung der Parteien. Und Garantien dafür, dass die sozialdemokratischen Gruppen, die in die „Berufs"-Verbände der Intellektuellen eintreten, ihre völlige Selbständigkeit bewahren, Mitglieder nur der SDAPR und keiner anderen Partei sind und über jeden ihrer Schritte ihrer Parteiorganisation Rechenschaft ablegen – solche Garantien, und zwar reale und nicht bloß in Worten bestehende, können gegenwärtig nicht gegeben werden. In neunundneunzig von hundert Fällen dürfte es solchen Mitgliedern nicht gelingen, ihre Selbständigkeit zu bewahren, und sie werden sich auf „Schliche" einlassen müssen, die vom Gesichtspunkt ihrer Ergebnisse zwecklos und für das noch junge eigene Parteibewusstsein der Arbeiter schädlich sind.

1 Das Bruchstück „Die liberalen Verbände und die Sozialdemokratie“ ist eine von Lenin geschriebene Einschaltung in einen mit derselben Überschrift versehenen Artikel W. W. Worowskis, der im „Proletarij“, Nummer 18 vom 13./26. September 1905, erschien. Wir bringen hier dieses Bruchstück vor dem Artikel „Sozialismus und Anarchismus, da es seinem Inhalt nach mit diesem Artikel zusammenhängt, der ebenfalls von parteilosen Organisationen spricht, aber von solchen eines anderen Typus: von den Räten der Arbeiterdeputierten als einem Kampforgan der Revolution. [Anmerkung 93 der „Ausgewählten Werke“, Band 3]

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