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Wladimir I. Lenin 19051208 Sozialismus und Anarchismus

Wladimir I. Lenin: Sozialismus und Anarchismus1

[Nowaja Schisn", Nr. 21, 25. November/8. Dezember 1905.Gezeichnet: N. Lenin.. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 542-555]

Der Vollzugsausschuss des Arbeiterdeputiertenrats hat gestern, am 23. November, beschlossen, die Bitte der Anarchisten, ihre Vertreter in den Vollzugsausschuss und in den Arbeiterdeputiertenrat zuzulassen, abzulehnen. Diesen Beschluss hat der Vollzugsausschuss selbst folgendermaßen begründet:

1. In der ganzen internationalen Praxis haben die sozialistischen Kongresse und Konferenzen keine Vertreter der Anarchisten zugelassen, weil diese den politischen Kampf als Mittel zur Erreichung ihrer Ideale nicht anerkennen; 2. eine Vertretung kann nur eine Partei haben, die Anarchisten aber sind keine Partei."

Wir halten den Beschluss des Vollzugsausschusses für einen außerordentlichen richtigen Schritt, dem eine gewaltige, sowohl prinzipielle als auch praktisch-politische Bedeutung zukommt. Freilich, wollte man den Arbeiterdeputiertenrat als Arbeiterparlament oder als Selbstverwaltungsorgan des Proletariats betrachten, dann wäre die Weigerung, die Anarchisten zuzulassen, unrichtig. So geringfügig (glücklicherweise) der Einfluss der Anarchisten unter unserer Arbeiterschaft ist, so haben sie doch unzweifelhaft eine gewisse Anzahl von Arbeitern auf ihrer Seite. Ob die Anarchisten eine Partei oder eine Organisation, eine Gruppe oder einen freien Bund Gleichgesinnter darstellen, ist eine formale Frage ohne ernsthafte prinzipielle Bedeutung. Schließlich, wenn die Anarchisten, die den politischen Kampf negieren, selber in eine Institution hinein wollen, die diesen Kampf führt, so zeigt diese krasse Inkonsequenz natürlich nur noch einmal die ganze Wankelmütigkeit der Weltanschauung und der Taktik der Anarchisten. Aber wegen Wankelmütigkeit kann man natürlich aus einem „Parlament" oder „Selbstverwaltungsorgan" niemanden ausschließen.

Der Beschluss des Vollzugsausschusses erscheint uns durchaus richtig und keineswegs den Aufgaben dieser Institution, ihrem Charakter und ihrer Zusammensetzung zu widersprechen. Der Arbeiterdeputiertenrat ist kein Arbeiterparlament und kein Organ der proletarischen Selbstverwaltung, überhaupt kein Organ der Selbstverwaltung, sondern eine Kampforganisation zur Erreichung bestimmter Ziele.

Dieser Kampforganisation gehören auf Grund einer vorübergehenden, nicht festgelegten Kampfvereinbarung an: die Vertreter der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Partei des proletarischen Sozialismus), die Parteien der „Sozialrevolutionäre" (Vertreter des kleinbürgerlichen Sozialismus oder die äußerste Linke der revolutionären bürgerlichen Demokratie), und schließlich viele „parteilose" Arbeiter. Diese letzteren sind jedoch nicht Parteilose überhaupt, sondern bloß parteilose Revolutionäre, denn ihre Sympathien gehören ganz und gar der Revolution, für deren Sieg sie mit hingebungsvoller Begeisterung, Tatkraft und Selbstaufopferung kämpfen. Deshalb wird es durchaus natürlich sein, wenn der Vollzugsausschuss auch Vertreter der revolutionären Bauernschaft aufnimmt.

Dem Wesen der Sache nach bildet der Arbeiterdeputiertenrat ein nicht festgelegtes, breites Kampfbündnis der Sozialisten und revolutionären Demokraten, wobei freilich das „parteilose revolutionäre Element" eine ganze Reihe von Übergangsstufen zwischen den einen und den anderen verdeckt. Die Notwendigkeit eines solchen Bündnisses für die Führung von politischen Streiks und anderen aktiveren Formen des Kampfes für die dringenden, von der überwiegenden Majorität des Volkes anerkannten und gebilligten demokratischen Forderungen ist offensichtlich. Die Anarchisten würden in diesem Bündnis nicht ein Plus, sondern ein Minus sein, sie würden lediglich Desorganisation hineinbringen und würden dadurch die Wucht des allgemeinen Vorstoßes schwächen; für sie ist die Notwendigkeit und Wichtigkeit politischer Reformen „noch eine Streitfrage". Das Fernhalten der Anarchisten von dem Kampfbündnis, das sozusagen unsere demokratische Revolution durchführt, ist vom Standpunkt und im Interesse dieser Revolution durchaus notwendig. In einem Kampfbündnis haben nur diejenigen Platz, die für das Ziel dieses Bündnisses kämpfen. Würden z. B. die „Kadetten" oder die „Partei der Rechtsordnung" sogar ein paar Hundert Arbeiter in ihren Petersburger Organisationen zählen, so könnte der Vollzugsausschuss des Arbeiterdeputiertenrats wohl kaum den Vertretern solcher Organisationen Zutritt gewähren.

Zur Erklärung seines Beschlusses beruft sich der Vollzugsausschuss auf den Brauch der internationalen sozialistischen Kongresse. Wir begrüßen wärmstens diese Erklärung, diese Anerkennung der geistigen Leitung der internationalen Sozialdemokratie durch das Organ des Petersburger Arbeiterdeputiertenrats. Die russische Revolution hat bereits internationale Bedeutung erlangt. Die Gegner der Revolution in Russland verschwören sich bereits mit Wilhelm II., mit allerhand Dunkelmännern, Unterdrückern, Soldatenschindern und Ausbeutern Europas gegen das freie Russland. Auch wir wollen nicht vergessen, dass ein vollständiger Sieg unserer Revolution ein Bündnis des revolutionären Proletariats Russlands mit den sozialistischen Arbeitern aller Länder erheischt.

Nicht umsonst haben die internationalen sozialistischen Kongresse Beschlüsse über Nichtzulassung der Anarchisten angenommen. Zwischen Sozialismus und Anarchismus liegt ein ganzer Abgrund, den die Lockspitzel der Geheimpolizei oder die Zeitungsknechte der reaktionären Regierung als nicht vorhanden hinstellen möchten. Die Weltanschauung der Anarchisten ist eine umgestülpte bürgerliche Weltanschauung. Ihre individualistischen Theorien, ihr individualistisches Ideal steht im direkten Gegensatz zum Sozialismus. Ihre Ansichten drücken nicht die Zukunft der bürgerlichen Ordnung aus, die unaufhaltsam zur Vergesellschaftung der Arbeit führt, sondern die Gegenwart, ja sogar die Vergangenheit dieser Ordnung, die Herrschaft des blinden Zufalls über den vereinzelten einsamen Kleinproduzenten. Ihre Taktik, die auf die Ablehnung des politischen Kampfes hinausläuft, spaltet die Proletarier und verwandelt sie in Wirklichkeit in passive Teilnehmer der einen oder andern bürgerlichen Politik, denn ein wirkliches Fernbleiben von der Politik ist für die Arbeiter unmöglich und undurchführbar.

In der jetzigen russischen Revolution tritt die Aufgabe des Zusammenschlusses der Kräfte des Proletariats, seiner Organisation, der politischen Schulung und Erziehung der Arbeiterklasse besonders dringend hervor. Je mehr Unheil die reaktionäre Regierung anrichtet, je eifriger ihre Lockspitzel an der Aufstachelung der dunklen Instinkte der unwissenden Masse arbeiten, je verzweifelter sich die Verfechter des bei lebendigem Leibe verwesenden Absolutismus an die Versuche klammern, die Revolution durch organisierte Pogrome, Plünderungen, Mordüberfälle und Verteilung von Schnaps an das arme Volk zu diskreditieren – um so wichtiger wird diese organisatorische Aufgabe, die vor allem der Partei des sozialistischen Proletariats zufällt. Wir werden daher auch alle Mittel des geistigen Kampfes anwenden, damit der Einfluss der Anarchisten auf die russischen Arbeiter ebenso nichtig bleibe, wie er es bisher war.

1 Der Artikel „Sozialismus und Anarchismus erschien in der Nummer 21 der „Nowaja Schisn“ vom 25. November/8. Dezember 1905. Lenin benützte diesen Anlass auch dazu, um das richtige Verhältnis der Arbeiterpartei zu den Räten überhaupt festzustellen. [Aus Anmerkung 94 der „Ausgewählten Werke“, Band 3]

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