Lenin‎ > ‎1905‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19050829 Die Schwarzen Hunderte und die Organisierung des Aufstandes

Wladimir I. Lenin: Die Schwarzen Hunderte und die Organisierung des Aufstandes

[Proletarij", Nr. 14, 16./29. August 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 213-218]

Die Ereignisse in Nischni Nowgorod und Balaschow haben die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Wir haben in der letzten Nummer einen ausführlichen Bericht über das Gemetzel in Nischni Nowgorod veröffentlicht, in der vorliegenden bringen wir die Schilderung der Ereignisse in Balaschow. Das Auftreten der Schwarzen Hunderte nimmt immer größeren Umfang an. Die Sozialdemokratie muss die Bedeutung dieser Erscheinung im allgemeinen Verlauf der revolutionären Entwicklung beachten. Zur Vervollständigung des Berichtes aus Samara sei hier noch das folgende von der Borissogljebsker Gruppe der SDAPR herausgegebene interessante Flugblatt1 abgedruckt:

Arbeiter und Einwohner der Stadt Borissogljebsk!

Die Ereignisse in Balaschow und Nischni Nowgorod, bei denen die Polizei die Fähigkeit bewiesen hat, ein Gemetzel gegen alle Andersdenkenden zu organisieren, haben euch den ganzen Ernst der durch die Revolution geschaffenen jetzigen Lage gezeigt. Die Zeit der Worte und der platonischen Kritik ist vorbei. Die Regierung drängt uns, durch die Logik der Dinge, von Worten zu Taten überzugehen. Sie sieht, dass die revolutionäre Bewegung aus der Phase herausgetreten ist, in der sie bisher nur von der Polizei und von der Gendarmerie bekämpft wurde. Sie hat es zu fühlen bekommen, dass das reguläre Heer des Innenministeriums für die Bekämpfung des „inneren Feindes" nicht ausreicht. Die gesamte Bevölkerung des russischen Reiches ist zum „inneren Feinde", zum „Aufrührer" geworden, und die Regierung sieht sich gezwungen, Freiwillige in die Reihen der regulären Armee aufzunehmen. Aber indem sie den Landstreichern, Lumpenproletariern, fahrenden Leuten und ähnlichen, keinerlei bürokratische Einschränkung anerkennenden Elementen den massenhaften Zutritt zum „Staatsdienst" eröffnete, war unsere Regierung gezwungen, auch die alten Methoden der Einwirkung auf die Massen und die alten konspirativen Methoden der direkten Bekämpfung der Revolution zu ändern. Lerne aus deinen Fehlern! Bisher pflegte unsere Regierung gegen das gedruckte Wort nur zu kämpfen. Jetzt veröffentlicht sie selbst Aufrufe in den „Moskowskije Wjedomosti", im „Russkoje Djelo", „Graschdanin", „Djen" und in den übrigen offiziellen Organen. Bisher pflegte unsere Regierung sich darauf zu beschränken, die Agitatoren zu verfolgen. Jetzt kommandiert sie Bischöfe, Generale, die Scharapows, Gringmuts und ihre anderen Agitatoren zur Agitation unter dem Volke. Bisher genügte es unserer Regierung, die revolutionären Organisationen zu unterdrücken. Jetzt organisiert sie selbst den Verband der russischen Leute, die Patriotenliga, die Monarchistenverbände. Bisher setzte schon der Gedanke an den Aufstand die Regierung in Schrecken. Jetzt organisiert sie selbst die Aufstände der Schwarzen Hunderte, hofft sie selber, einen Bürgerkrieg zu inszenieren. Aus Angst vor der nahenden Revolution hat die Regierung selbst zu den Waffen der Revolution gegriffen: Organisation, Propaganda, Agitation. Mit diesem zweischneidigen Schwert, mit den Schwarzen Hunderten, beginnt die Regierung Ausbrüche der Volksempörung und der Gegenrevolution zu organisieren. Nach einigen „Vorproben" in den Randgebieten beginnt sie jetzt Gastspiele im Zentrum Russlands zu organisieren. Wir waren kürzlich in Nischni Nowgorod und Balaschow Zeugen derartiger Schauspiele, und man kann auch hier nicht behaupten, dass der Absolutismus keinen Erfolg gehabt hätte. Die „revolutionären" Kampfmethoden erwiesen sich als wirksam: viele Feinde des Absolutismus wurden getötet und misshandelt, die Bevölkerung aber wurde durch diesen gesetzlichen Terror unserer Regierung in Schrecken gejagt.

Dieses Experiment wird zweifellos sehr bald noch mehr erweitert werden. Die Lorbeeren der einen Schwarzen Hunderte werden die anderen so lange nicht schlafen lassen, bis nicht auch sie ihre Kräfte erprobt haben werden.

Wo es eine Revolution gibt, dort gibt es auch eine Gegenrevolution, und Borissogljebsk wird sich demnach darauf einrichten müssen, die organisatorischen Fähigkeiten hervorragender Vertreter der Schwarzhunderte-Richtung am eigenen Leibe erprobt zu bekommen. Wir haben guten Grund, auch in Borissogljebsk sowohl gegen die Juden als auch gegen die Arbeiter und die Intellektuellen gerichtete Pogrome zu erwarten. In dem Bestreben, allen „illegalen Maßnahmen" der Regierung gegen die revolutionäre Bewegung eine entsprechende Abwehr entgegenzusetzen, hat daher die Borissogljebsker Gruppe die Einzeichnungen zur Organisierung eines bewaffneten Selbstschutzes eröffnet und fordert alle, deren Sympathien nicht auf der Seite der Regierung und der Schwarzen Hunderte stehen, auf, die Organisierung von Selbstschutzgruppen mit Waffen- und Geldspenden zu unterstützen."

Der Bürgerkrieg wird also der Bevölkerung tatsächlich von der Regierung selbst aufgezwungen. Tatsächlich werden die „Landstreicher, Lumpenproletarier, fahrenden Leute" in den Staatsdienst aufgenommen. Unter diesen Umständen ist das Bourgeoisgeschwätz der Oswoboschdjenije-Leute, dass die Agitation für den Aufstand Verbrechen und Wahnsinn, dass die Organisation des Selbstschutzes schädlich sei („Oswoboschdjenije", N. 74), schon nicht mehr bloß eine grenzenlose politische Gemeinheit und nicht mehr nur eine Rechtfertigung des Absolutismus und (tatsächlich) eine Liebedienerei gegenüber den „Moskowskije Wjedomosti". Nein, diese Redereien werden zum lebensfernen Geschwabber der Oswoboschdjenije-Mumien, die von der revolutionären Bewegung erbarmungslos über Bord, aus dem „Leben" hinaus und dorthin geworfen werden, wohin sie am besten gehören: in die Raritätenkammer. Theoretische Diskussionen über die Notwendigkeit des Aufstandes können und müssen geführt, taktische Resolutionen in dieser Frage sollen sorgfältig durchdacht und ausgearbeitet werden, aber bei alledem darf nicht vergessen werden, dass der elementare Gang der Ereignisse sich ohne Rücksicht auf irgendwelche Weisheitskrämereien machtvoll Bahn bricht. Man darf nicht vergessen, dass sich die Entwicklung aller jener großen, durch Jahrhunderte im russischen Leben angehäuften Widersprüche mit unerbittlicher Gewalt vollzieht, die Volksmassen in den Vordergrund schiebt und die toten, abgestorbenen Lehren vom friedlichen Fortschritt auf den Kehrichthaufen wirft. Die Opportunisten aller Schattierungen pflegen uns zu sagen: Lernet vom Leben! Leider verstehen sie unter Leben nur den Sumpf der friedlichen Perioden, der Zeiten der Stagnation, wenn das Leben sich kaum vorwärts bewegt Diese blinden Menschen bleiben stets hinter den Lehren des revolutionären Lebens zurück. Ihre toten Doktrinen bleiben immer hinter dem stürmischen Strom der Revolution zurück, der die tiefsten, die fundamentalsten Interessen der Volksmassen berührenden Lebensfragen zum Ausdruck bringt.

Man bedenke doch z.B., wie lächerlich jetzt, angesichts dieser Lehren, die das Leben uns erteilt, das Geheul eines Teiles der Sozialdemokratie über die Gefahren eines Verschwörerstandpunktes gegenüber dem Aufstand ist, über die engherzige, „jakobinerhafte" Einschätzung seiner Notwendigkeit, über die Übertreibung der Bedeutung und Rolle der materiellen Kraft bei den bevorstehenden politischen Ereignissen. Dieses Geheul ertönte gerade kurz bevor der Aufstand für das Volk zur dringendsten Lebensnotwendigkeit wurde, als eben jene Volksmasse, die allen „Verschwörungen" besonders fern steht, durch die Taten der Schwarzen Hunderte in den Aufstand hineingezogen zu werden begann. Eine schlechte Doktrin erfährt durch eine gute Revolution eine glänzende Korrektur. In der neuen „Iskra" findet man senile, echt Bureninsche Witze2 (oder Spötteleien?) darüber, dass in einer fachmännisch-militärischen Broschüre militärische Fragen der Revolution bis zu den Fragen des Tages- und Nachtangriffs erörtert werden, oder dass an Stabsquartiere des Aufstandes gedacht werden müsse und an die Ernennung „diensttuender" Organisationsmitglieder, die sich über jeden Pogrom, jede Aktion des „Feindes" rechtzeitig informieren und unseren Kampftruppen, dem organisierten revolutionären Proletariat, entsprechende Anordnungen erteilen könnten. Und zu derselben Zeit erleben wir zum Hohn auf die lebensfremde Doktrin der Menschewiki im Auslande das Vorgehen der Menschewiki in Russland. Wir erfahren aus Jekaterinoslaw („Proletarij"3, Nr. 13), dass für die kritischen Tage (man erwartete einen Pogrom der Schwarzen Hunderte! Gibt es jetzt in Russland eine Stadt oder eine Siedlung, wo Ähnliches nicht erwartet würde?) ein Abkommen der Bolschewiki mit den Menschewiki und dem Bund getroffen ist. „Gemeinsame Geldsammlungen für die Anschaffung von Waffen, gemeinsamer Aktionsplan usw." Und welcher Art dieser Plan ist, ersehen wir daraus, dass z.B. die Sozialdemokraten auf einem Arbeitermeeting des Brjansker Werkes, an dem sich 500 Arbeiter beteiligten, zur Organisierung der Abwehr aufforderten. „Die organisierten Arbeiter des Brjansker Werkes wurden dann am Abend in einige Häuser einquartiert; es wurden Patrouillen aufgestellt, der Hauptstab ernannt usw. – kurz, wir waren in voller Kampfbereitschaft" (unter anderem teilten sie einander den „Standort des Hauptstabs" einer jeden der drei genannten Organisationen mit).

Die neu-iskristischen Publizisten spotten … über ihre eigenen praktisch arbeitenden Genossen!

Ihr Herren könnt noch so verächtlich die Nase rümpfen, wenn von Nachtangriffen und ähnlichen rein taktischen militärischen Fragen die Rede ist; ihr könnt euch noch so viel lustig machen über den „Plan", diensttuende Organisationssekretäre oder überhaupt Organisationsmitglieder für den Fall außerordentlicher Kampfaktionen zu ernennen – das Leben geht seinen Weg, die Revolution erteilt ihre Lehren und reißt die verknöchertsten Pedanten zusammen. Militärische Fragen mit allen ihren Einzelheiten müssen in der Zeit des Bürgerkrieges studiert werden, und das Interesse der Arbeit für diese Fragen ist eine durchaus berechtigte und gesunde Erscheinung. Hauptstäbe (oder der Tagesdienst der Organisationsmitglieder) müssen organisiert werden. Aufteilung der Patrouillen, Einquartierung der Abteilungen – alles das sind rein militärische Funktionen, alles das sind einleitende Operationen der revolutionären Armee, alles das ist die Organisation des bewaffneten Aufstandes, die Organisation der revolutionären Macht, die an diesen kleinen Vorbereitungen, an diesen leichten Scharmützeln heranreift und sich festigt, ihre Kraft erprobt, kämpfen lernt und sich auf den Sieg vorbereitet – einen Sieg, der um so näher rückt und wahrscheinlicher wird, je mehr sich die allgemeine politische Krisis vertieft und je stärker die Gärung, die Unzufriedenheit und das Schwanken in den Reihen der zaristischen Armee werden.

Dem Beispiele der Genossen aus Jekaterinoslaw und Borissogljebsk müssen und werden die sozialdemokratischen Genossen in ganz Russland in immer größerem Umfange folgen. Die Aufforderung, die Sache mit Geld und Waffen zu unterstützen, ist durchaus zeitgemäß. Die Zahl jener Menschen wächst und wird immer mehr wachsen, die, so sehr sie allen „Plänen" und sogar allen Ideen der Revolution vollkommen fern stehen, beim Anblick der Gräueltaten der Polizei, der Kosaken und der Schwarzen Hunderte gegenüber den wehrlosen Bürgern die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes sehen und fühlen. Eine Wahl gibt es nicht, alle anderen Wege sind abgeschnitten. Es ist unmöglich, sich über das, was jetzt in Russland geschieht, nicht aufzuregen, nicht an Krieg und Revolution zu denken, und jeder, der sich aufregt, denkt, sich interessiert, wird gezwungen, in dieses oder jenes bewaffnete Lager zu treten. Man wird euch trotz noch so friedlicher, pedantisch legaler Handlungsweise dennoch misshandeln, zum Krüppel schlagen, töten. Die Revolution duldet keine Neutralen. Der Kampf ist schon entbrannt, der Kampf auf Tod und Leben, der Kampf zwischen dem alten Russland der Knechtschaft, der Leibeigenschaft und des Absolutismus und dem neuen, jungen Russland, dem Russland des Volkes, dem Russland der werktätigen Massen, die sich nach Licht und Freiheit sehnen, um dann von Neuem und wiederum den Kampf für die volle Befreiung der Menschheit von jedem Joch und jeder Ausbeutung aufzunehmen. Möge der bewaffnete Volksaufstand herannahen!

1 Das hier zitierte Flugblatt der Borissogljebsker Gruppe der SDAPR, von dem sich ein Exemplar im Archiv des Lenin-Instituts befindet, war mit der Hand geschrieben und hektographiert. Es trägt unter dem Kopf „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ die Aufschrift „Sammelliste" und eine Nummer sowie auf der Rückseite Rubriken für die Zeichnung von Beiträgen für die Organisierung der Abwehr. Borissogljebsk ist eine 40.000 Einwohner zählende Stadt im Schwarzerde-Gebiet; Zentrum des Getreidehandels.

2 Der Ausspruch „Bureninsche Witze" rief eine Polemik der „Iskra" hervor: Martow widmete in dem Artikel „An der Reihe" in der Nr. 110 vom 10./23. September 1905 diesem Zwischenfalle neun Absätze. Die fachmännisch-militärische Broschüre, über die sich die Menschewiki lustig machten, war W. Sewerzews Broschüre „Erläuterungen über Taktik und Befestigungswesen im Volksaufstand", Genf 1905.

3 Die Mitteilungen über ein Kampfübereinkommen der Bolschewiki mit dem Bund und den Menschewiki sind einem langen Bericht aus Jekaterinoslaw entnommen, der in Nr. 13 des „Proletarij" vom 9./22. August 1905 in der Rubrik „Aus dem öffentlichen Leben" erschienen und vom 26. Juli/8. August datiert war.

Kommentare