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Wladimir I. Lenin 19050400 Eine Revolution vom Typus des Jahres 1789 oder vom Typus des Jahres 1848?

Wladimir I. Lenin: Eine Revolution vom Typus des Jahres 1789 oder vom Typus des Jahres 1848?1

[Geschrieben Anfang 1905. Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Lenin-Sammelbuch". Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 248-250]

Eine wichtige Frage bezüglich der russischen Revolution ist die:

I. Wird die Revolution bis zum völligen Sturz der zaristischen Regierung, bis zur Republik kommen,

II. oder wird sie sich auf eine Schmälerung, eine Begrenzung der Zarenmacht, auf eine monarchische Konstitution beschränken?

Oder anders ausgedrückt: ist uns eine Revolution vom Typus des Jahres 1789 oder vom Typus des Jahres 18482 beschieden? (wir sagen: Typus, um den albernen Gedanken, als ob eine Wiederholung der unwiderruflich entschwundenen sozialen, politischen und internationalen Situation von 1789 und 1848 möglich sei, zu beseitigen).

Dass der Sozialdemokrat das erste wünschen und darauf hinarbeiten muss, darüber sind Zweifel kaum möglich.

Indessen läuft die Martynowsche Fragestellung vollständig auf den chwostistischen Wunsch nach einer möglichst bescheidenen Revolution hinaus. Bei Typus II fällt die „Gefahr" einer Machtergreifung durch das Proletariat und die Bauernschaft, die die Martynows ängstigt, ganz weg. Im zweiten Fall wird die Sozialdemokratie unvermeidlich selbst gegenüber der Revolution „oppositionell" bleiben – und Martynow will eben selbst gegenüber der Revolution in Opposition bleiben.

Es fragt sich nun: welcher Typus ist der wahrscheinlichere?

Für I spricht (1), dass der Vorrat an Erbitterung, an revolutionärer Gesinnung in den russischen unteren Klassen ungleich größer ist als in Deutschland im Jahre 1848. Bei uns ist der Umschwung schroffer, bei uns gab es und gibt es zwischen dem Absolutismus und der politischen Freiheit keine Zwischenstufen (das Semstwo zählt nicht), der Despotismus ist asiatisch-jungfräulich. (2) Bei uns macht der unglückliche Krieg einen jähen Zusammenbruch noch wahrscheinlicher, da er die zaristische Regierung vollends verwirrt. (3) Bei uns ist die internationale Konjunktur eine günstigere, weil das proletarische Europa eine Hilfsaktion der europäischen Monarchen für die russische Monarchie unmöglich machen wird. (4) Bei uns ist die Entwicklung der bewusst-revolutionären Parteien, ihrer Literatur und Organisation um ein Vielfaches höher als in den Jahren 1789, 1848 und 1871. (5) Eine ganze Reihe vom Zarismus unterdrückter Nationalitäten, die Polen, Finnen usw., gestaltet bei uns den Ansturm gegen den Absolutismus besonders wuchtig. (6) Die Bauernschaft ist bei uns besonders verelendet, sie ist unglaublich verarmt und hat bereits absolut nichts zu verlieren.

Alle diese Erwägungen sind natürlich bei weitem nicht absolut. Ihnen können andere gegenübergestellt werden: (1) Überreste des Feudalismus gibt es bei uns sehr wenig. (2) Die Regierung ist erfahrener und verfügt über große Mittel, die revolutionäre Gefahr zu erkennen. (3) Der Krieg kompliziert die Unmittelbarkeit der revolutionären Explosion durch Aufgaben, die mit der Revolution nichts zu tun haben. Der Krieg beweist die Schwäche der russischen revolutionären Klassen, die ohne den Krieg nicht imstande waren, sich zu erheben (vergleiche Karl Kautsky, „Soziale Revolution"3). (4) Bei uns fehlt der Anstoß zum Umsturz aus den anderen Ländern. (5) Die nationalen Bewegungen zur Zerstückelung Russlands sind geeignet, unserer Revolution die Masse der großen und kleinen russischen Bourgeoisie zu entfremden. (6) Der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie ist bei uns viel tiefer als in den Jahren 1789, 1848 und 1871, die Bourgeoisie wird daher die proletarische Revolution mehr fürchten und eher in die Arme der Reaktion flüchten.

Alle diese Plus und Minus in Rechnung zu stellen, vermag natürlich nur die Geschichte. Unsere Sache, die Sache der Sozialdemokratie, ist es, die bürgerliche Revolution soweit wie möglich vorzutreiben, ohne jemals unsere wichtigste Aufgabe zu vergessen: die selbständige Organisation des Proletariats.

Hier eben gerät Martynow in Konfusion. Die vollständige Revolution heißt Ergreifung der Macht durch das Proletariat und die arme Bauernschaft. Diese Klassen aber, einmal an der Macht, können nicht umhin, nach der sozialistischen Revolution zu trachten. Ergo wird die Machtergreifung, vorerst ein Schritt im demokratischen Umsturz, durch die Logik der Dinge, gegen den Willen (und manchmal auch ohne das Bewusstsein) der Teilnehmer in den sozialistischen übergehen. Und hier ist der Zusammenbruch unvermeidlich. Da nun einmal der Zusammenbruch der Versuche einer sozialistischen Revolution unvermeidlich ist, so müssen wir (wie Marx 1871, der den unvermeidlichen Zusammenbruch des Aufstandes in Paris voraussah4) dem Proletariat den Rat geben, keinen Aufstand zu machen, abzuwarten, sich zu organisieren, reculer pour mieux sauter5.

Das ist eigentlich der Gedanke Martynows (und der neuen „Iskra"), wenn er ihn bis zu Ende gedacht hätte.

1 Hier rollt Lenin in knappster Form das Grundproblem der Revolution von 1905 auf, nämlich die Frage nach ihrem Charakter, ihren Triebkräften und Perspektiven, auf die die Bolschewiki und Menschewiki eine grundverschiedene Antwort gaben. 1789 oder 1848, mit anderen Worten, eine ganze oder eine halbe Revolution. Lenin wurde nicht müde, die Elemente der girondistischen Taktik der Menschewiki, d. h. ihre Angst vor der ganzen Revolution mit all ihren Konsequenzen, immer wieder aufzuzeigen. „Plebejische" oder kompromisslerische Taktik, Jakobiner oder Girondisten, 1789 oder 1848 – das sind Variationen ein und desselben Themas, das aus dem Gesichtskreis Lenins bis zum Oktobersieg 1917 nicht mehr verschwindet und zu dem er immer wieder zurückkehrt. Systematisch entwickelte Lenin dieses Thema in dem nächsten Aufsatz: („Sozialdemokratie und provisorische revolutionäre Regierung") Der Artikel: „Revolution vom Typus 1789 oder 1848?" dürfte wohl der erste Entwurf zu jenem Aufsatz sein. Vgl. auch den Artikel: „Der dritte Parteitag".

2 NB.: man könnte hier hinzufügen – „oder 1871"? Man muss diese Frage als vermutlichen Einwand vieler Niсhtsozialdemokraten prüfen.

3 In seiner Broschüre „Die soziale Revolution", erster Teil (Berlin 1902; eine russische Übersetzung dieser Broschüre unter Lenins Redaktion erschien 1903), schreibt Karl Kautsky: „… Aber selbst wenn eine Revolution nicht ein Mittel zum Zweck, sondern ein Endzweck wäre, der um jeden Preis, auch den blutigsten, nicht zu teuer erkauft wäre, könnte man nicht einen Krieg als Mittel wünschen, die Revolution zu entfesseln. Denn er ist das irrationellste Mittel zu diesem Zweck. Eine feindliche Invasion bringt so entsetzliche Zerstörungen mit sich, schafft so ungeheuerliche Anforderungen an den Staat, dass sie eine Revolution, die aus ihr entspringt, aufs Schwerste mit Aufgaben belastet, die dieser nicht eigentümlich sind und die vorübergehend fast alle ihre Mittel und Kräfte absorbieren. Dabei fällt eine Revolution, die aus einem Kriege entspringt, mitunter mit einem Versagen der revolutionären Kräfte zusammen, wenn diese durch den Krieg vorzeitig zur Lösung von Aufgaben berufen wird, für die sie noch zu schwach ist. Der Krieg selbst kann diese Schwäche noch steigern, schon durch die Opfer, die er mit sich bringt, wie durch die moralische und intellektuelle Degradierung, die ein Krieg meist hervorruft. Also enorme Vermehrung der Aufgaben des revolutionären Regimes und gleichzeitige Schwächung seiner Kräfte."

4 In der zweiten Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation über den deutsch-französischen Krieg vom 9. September 1870 schrieb Marx: „So findet sich die französische Arbeiterklasse in äußerst schwierige Umstände versetzt. Jeder Versuch, die neue Regierung zu stürzen, wo der Feind fast schon an die Tore von Paris pocht, wäre eine verzweifelte Torheit. Die französischen Arbeiter müssen ihre Pflicht als Bürger tun; aber sie dürfen sich nicht beherrschen lassen durch die nationalen Erinnerungen von 1792, wie die französischen Bauern sich trügen ließen durch die nationalen Erinnerungen des ersten Kaiserreichs. Sie haben nicht die Vergangenheit zu wiederholen, sondern die Zukunft aufzubauen. Mögen sie ruhig und entschlossen die Mittel ausnutzen, die ihnen die republikanische Freiheit gibt, um die Organisation ihrer eigenen Klasse gründlich durchzuführen."

Als aber die Revolution in Paris im März 1871 dennoch ausbrach, begrüßte sie Marx mit der größten Begeisterung. In einem Briefe an Kugelmann vom 12. April 1871 schrieb Marx: „Welche Elastizität, welche historische Initiative, welche Aufopferungsfähigkeit in diesen Parisern! … Die Geschichte hat kein ähnliches Beispiel ähnlicher Größe! … Wie dem auch sei, diese jetzige Erhebung von Paris – wenn auch unterliegend vor den Wölfen, Schweinen und gemeinen Hunden der alten Gesellschaft – ist die glorreichste Tat unserer Partei seit der Juniinsurrektion. Man vergleiche mit diesen Himmelsstürmern von Paris die Himmelssklaven des deutsch-preußischen heiligen römischen Reiches mit seinen posthumen Maskeraden, duftend nach Kaserne, Kirche, Krautjunkertum und vor allem Philistertum." Und am 17. April 1871 an Kugelmann: „Der Kampf der Arbeiterklasse mit der Kapitalistenklasse und ihrem Staate ist durch den Pariser Kampf in eine neue Phase getreten. Wie die Sache auch unmittelbar verlaufe, ein neuer Ausgangspunkt von welthistorischer Wichtigkeit ist gewonnen." („Briefe an Kugelmann", 2. Aufl, Intern. Arbeiter-Verlag, Berlin 1927, S. 97 u. 98.)

5Sich zurückziehen, um besser springen zu können. Die Red.

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