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Wladimir I. Lenin 19050405 Sozialdemokratie und provisorische revolutionäre Regierung

Wladimir I. Lenin: Sozialdemokratie und provisorische revolutionäre Regierung1

[Wperjod" Nr. 13 und 14, 23. März/5. April und 30. März/und 12. April 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 251-269]

I

Vor fünf Jahren noch erschien die Losung „Nieder mit dem Absolutismus" vielen Vertretern der Sozialdemokratie als verfrüht, als unverständlich für die Arbeitermasse. Diese Vertreter wurden mit Recht zu den Opportunisten gezählt. Es wurde ihnen erklärt und klar gemacht, dass sie hinter der Bewegung zurückbleiben, dass sie die Aufgaben der Partei als des Vortrupps der Klasse, als ihres Führers und Organisators, als des Vertreters der Gesamtbewegung, ihrer Grund- und Hauptziele nicht begreifen. Diese Ziele können vorübergehend durch die Alltagsarbeit verdeckt werden, sie dürfen jedoch nie die Bedeutung eines Leitsterns für das kämpfende Proletariat verlieren.

Und nun ist die Zeit gekommen, wo die Flammen der Revolution das ganze Land erfasst haben, wo die Ungläubigsten an die Unvermeidlichkeit des Sturzes des Absolutismus in der nächsten Zukunft glauben. Und die Sozialdemokratie – es ist wie eine Ironie der Geschichte – muss sich noch einmal mit ebensolchen reaktionären, opportunistischen Versuchen befassen, die Bewegung nach rückwärts zu zerren, ihre Aufgaben herabzudrücken, ihre Losungen zu verdunkeln. Die Polemik gegen die Vertreter solcher Versuche wird zu einem Gebot der Stunde, gewinnt (entgegen der Ansicht sehr vieler, die eine Polemik innerhalb der Partei ungern sehen) eine gewaltige praktische Bedeutung. Denn je näher wir an die unmittelbare Verwirklichung unserer nächsten politischen Aufgaben heranrücken, um so größer die Notwendigkeit, diese Aufgaben vollkommen klar zu verstehen, um so schädlicher jede Zweideutigkeit, Unklarheit oder Gedankenlosigkeit in dieser Frage.

Und Gedankenlosigkeit gibt es gar nicht wenig unter den Sozialdemokraten im Lager der neuen „Iskra" oder (was fast dasselbe ist) des „Rabotscheje Djelo". Nieder mit dem Absolutismus! – damit sind alle einverstanden, nicht nur alle Sozialdemokraten, sondern auch alle Demokraten, sogar alle Liberalen, wenn man ihren jetzigen Erklärungen glauben soll. Doch was besagt das? Wie soll eben dieser Sturz der jetzigen Regierung erfolgen? Wer soll jene Konstituierende Versammlung einberufen, die jetzt – unter Anerkennung des allgemeinen usw. Wahlrechts – auch die „Oswoboschdjenije"-Leute als ihre Losung aufzustellen bereit sind (siehe Nr. 67 des „Oswoboschdjenije")? Worin eben soll die wirkliche Sicherung freier und die Interessen des ganzen Volkes zum Ausdruck bringender Wahlen zu einer solchen Versammlung bestehen?

Wer sich keine klare und genaue Antwort auf diese Fragen gibt, der begreift nicht die Losung: Nieder mit dem Absolutismus! Diese Fragen aber führen uns unvermeidlich zu der Frage nach der provisorischen revolutionären Regierung. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass unter dem Absolutismus wirklich freie Wahlen des gesamten Volkes zu der konstituierenden Versammlung mit vollständiger Garantie einer wirklich allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmabgabe nicht nur unwahrscheinlich, sondern geradezu unmöglich sind. Und wenn wir nicht ins Blaue hinein die praktische Forderung des sofortigen Sturzes der absolutistischen Regierung erheben, so müssen wir uns klarmachen, durch welche andere Regierung eben wir die zu stürzende Regierung ersetzen wollen, oder anders gesagt: wie denken wir uns die Stellung der Sozialdemokratie zu der provisorischen revolutionären Regierung?

In dieser Frage zerren die Opportunisten der heutigen Sozialdemokratie, d. h. die Leute aus der neuen „Iskra", die Partei ebenso eifrig zurück, wie die „Rabotscheje-Djelo"-Leute vor fünf Jahren in der Frage des politischen Kampfes überhaupt. Ihre reaktionären Ansichten in diesem Punkt sind am vollständigsten entwickelt in Martynows Broschüre „Zwei Diktaturen", die die „Iskra" (Nr. 84) in einer besonderen Notiz gebilligt und empfohlen hat, und auf die wir schon mehrmals die Aufmerksamkeit unserer Leser gelenkt haben.

Gleich am Anfang seiner Broschüre schreckt uns Martynow mit folgender fürchterlichen Perspektive:

Wenn eine feste Organisation der revolutionären Sozialdemokratie imstande wäre, den ,allgemeinen bewaffneten Volksaufstand' gegen den Absolutismus ,festzusetzen und durchzuführen', wie Lenin es erträumt, ist es nicht einleuchtend, dass der allgemeine Volkswille sofort nach der Revolution gerade diese Partei zur provisorischen Regierung bestimmen würde? Ist es nicht einleuchtend, dass das Volk gerade dieser Partei und keiner anderen das nächste Schicksal der Revolution anvertrauen würde?"

Das ist unglaublich, aber es ist Tatsache. Der künftige Historiker der russischen Sozialdemokratie wird verwundert feststellen müssen, dass gleich zu Beginn der russischen Revolution die Girondisten der Sozialdemokratie das revolutionäre Proletariat mit einer solchen Perspektive schreckten! Der ganze Inhalt der Martynowschen Broschüre (und einer ganzen Reihe von Artikeln und einzelnen Stellen in den Artikeln der neuen „Iskra") läuft auf das Ausmalen der „Schrecknisse" dieser Perspektive hinaus. Dem geistigen Führer der Anhänger der neuen „Iskra" schwebt hier die „Machtergreifung" vor, es erscheint ihm das Schreckgespenst des „Jakobinertums", des Bakunismus, des Tkatschowismus und anderer schrecklicher Ismen, mit denen diverse revolutionäre Kinderwärterinnen so gern die politischen Säuglinge schrecken. Und selbstverständlich geht es hierbei nicht ohne „Zitate" aus Marx und Engels ab. Die armen Marx und Engels, welcher Missbrauch wird doch mit Zitaten aus ihren Werken getrieben! Wie erinnerlich, berief man sich auf die Wahrheit, dass „jeder Klassenkampf ein politischer Kampf ist", um die Beschränktheit und Rückständigkeit unserer politischen Aufgaben und Methoden der politischen Agitation und des politischen Kampfes zurecht fertigen. Jetzt wird Engels als falscher Zeuge zugunsten des Chwostismus zitiert. Er schrieb im „Deutschen Bauernkrieg":

Es ist das Schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er vertritt, und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert."

Es genügt, diesen Anfang des von Martynow angeführten langen Zitats aufmerksam durchzulesen, um sich davon zu überzeugen, wie unser Chwostist den Gedanken des Verfassers entstellt. Engels spricht von der Macht, die die Herrschaft einer Klasse erfordert. Ist das nicht klar? In Bezug auf das Proletariat ist es also die Macht, die die Herrschaft des Proletariats erfordert, d. h. die Diktatur des Proletariats zur Durchführung der sozialistischen Umwälzung. Martynow begreift das nicht und verwechselt die provisorische revolutionäre Regierung in der Zeit des Sturzes des Absolutismus mit der gesicherten Herrschaft des Proletariats in der Epoche des Sturzes der Bourgeoisie, er verwechselt die demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft mit der sozialistischen Diktatur der Arbeiterklasse. Aus der Fortsetzung des Zitats wird indes der Engelssche Gedanke noch klarer. Der Führer der extremen Partei, sagt er, „muss im Interesse der Bewegung selbst die Interessen einer ihm fremden Klasse durchführen und seine eigene Klasse mit Phrasen und Versprechungen, mit der Beteuerung abfertigen, dass die Interessen jener fremden Klasse ihre eigenen Interessen sind. Wer in diese schiefe Stellung gerät, ist unrettbar verloren".

Die durch Sperrdruck hervorgehobenen Stellen zeigen deutlich, dass Engels gerade vor jener schiefen Lage warnt, die ein Resultat des Verkennens der wahren Interessen „seiner eigenen" Klasse und des wahren Klasseninhaltes des Umsturzes durch den Führer ist. Der Anschaulichkeit halber wollen wir es unserem scharfsinnigen Martynow an einem einfachen Beispiele vorkauen. Als die Anhänger der Narodnaja Wolja im Glauben, die Interessen der „Arbeit" zu vertreten, sich selbst und anderen versicherten, dass 90 Prozent der Bauern in der künftigen russischen konstituierenden Versammlung Sozialisten sein würden2, gerieten sie dadurch in eine schiefe Lage, die sie unrettbar zum politischen Untergang führen musste, denn diese „Versprechungen und Beteuerungen" entsprachen nicht der objektiven Wirklichkeit. In Wirklichkeit hätten sie die Interessen der bürgerlichen Demokratie, die „Interessen einer fremden Klasse" durchgeführt. Beginnt Ihnen nicht ein Licht aufzugehen, verehrtester Martynow? Wenn die Sozialrevolutionäre die in Russland unvermeidlich bevorstehenden Agrarreformen als „Sozialisierung", als „Übergabe des Landes an das Volk", als den Anfang des „ausgleichenden Nutzungsrechts" hinstellen, bringen sie sich in eine schiefe Lage, die sie unrettbar zum politischen Untergang führen muss, denn in Wirklichkeit werden gerade jene Reformen, die sie anstreben, die Herrschaft einer anderen Klasse, der Dorfbourgeoisie, sichern, so dass ihre Phrasen, Versprechungen und Beteuerungen um so rascher durch die Wirklichkeit eine Widerlegung finden werden, je schneller die Entwicklung der Revolution vor sich gehen wird. Begreifen Sie noch immer nicht, worum es sich handelt, verehrtester Martynow? Begreifen Sie noch immer nicht, dass der Kern des Engelsschen Gedankens in dem Hinweis auf die Verderblichkeit des Verkennens der wahren geschichtlichen Aufgaben des Umsturzes besteht, dass die Worte von Engels folglich auf die Narodnaja Wolja und die „Sozialrevolutionäre" anwendbar sind?

II

Engels weist auf die Gefahr hin, dass die Führer des Proletariats den unproletarischen Charakter des Umsturzes verkennen, der gescheite Martynow aber leitet daraus die Gefahr ab, dass die Führer des Proletariats, die sich sowohl durch das Programm und die Taktik (d. h. die ganze Propaganda und Agitation) als auch durch die Organisation von der revolutionären Demokratie abgegrenzt haben, bei der Schaffung der demokratischen Republik eine führende Rolle spielen könnten. Engels sieht die Gefahr darin, dass der Führer den scheinsozialistischen mit dem real-demokratischen Inhalt des Umsturzes verwechselt, der kluge Martynow aber leitet daraus die Gefahr ab, das Proletariat könnte zusammen mit der Bauernschaft bewusst die Diktatur übernehmen bei der Durchführung der demokratischen Republik als der letzten Form der bürgerlichen Herrschaft und der besten Form für den Klassenkampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie. Engels sieht die Gefahr in der falschen, schiefen Lage, wo man das eine sagt und das andere tut, wo man die Herrschaft der einen Klasse verspricht und in Wirklichkeit die Herrschaft einer anderen Klasse sichert; Engels sieht in diesem Irrtum den unrettbaren politischen Untergang, der kluge Martynow aber leitet die Gefahr des Unterganges daraus ab, dass die bürgerlichen Anhänger der Demokratie das Proletariat und die Bauernschaft daran hindern würden, eine wirkliche demokratische Republik zu sichern. Der kluge Martynow ist außerstande zu begreifen, dass ein solcher Untergang, der Untergang eines Führers des Proletariats, der Untergang Tausender von Proletariern im Kampfe für eine wahrhaft demokratische Republik, ein physischer Untergang, nicht nur kein politischer Untergang, sondern im Gegenteil die größte politische Errungenschaft des Proletariats ist, die größte Verwirklichung seiner Hegemonie im Kampfe um die Freiheit. Engels spricht von dem politischen Untergang desjenigen, der unbewusst von seinem Klassenweg auf einen fremden Klassenweg abirrt, der kluge Martynow aber, der ehrfurchtsvoll Engels zitiert, spricht von dem Untergang desjenigen, der auf dem richtigen Klassenwege immer vorwärts schreitet.

Der Unterschied zwischen dem Standpunkt der revolutionären Sozialdemokratie und dem des Chwostismus tritt hier mit aller Deutlichkeit zutage. Martynow und die neue „Iskra" scheuen vor der dem Proletariat zusammen mit der Bauernschaft zufallenden Aufgabe der radikalsten demokratischen Umwälzung zurück, scheuen zurück vor der sozialdemokratischen Leitung dieser Umwälzung und spielen so, wenn auch unbewusst, die Interessen des Proletariats in die Hände der bürgerlichen Demokratie. Aus dem richtigen Marxschen Gedanken, dass wir nicht eine Regierungs-, sondern eine Oppositionspartei der Zukunft vorzubereiten haben, zieht Martynow den Schluss, dass wir zu der gegenwärtigen Revolution in chwostistischer Opposition stehen müssen. Darauf läuft seine politische Weisheit hinaus. Hier seine Betrachtung, über die nachzudenken wir dem Leser sehr empfehlen möchten:

Das Proletariat kann weder die ganze politische Macht im Staate noch einen Teil von ihr erlangen, solange es nicht die sozialistische Revolution gemacht hat. Das ist jener unwiderlegliche Grundsatz, der uns von dem opportunistischen Jaurèsismus trennt …" (Martynow, S. 58.)

und der, fügen wir hinzu, unwiderleglich das Unvermögen des verehrten Martynow beweist, die Dinge richtig auseinanderzuhalten. Die Beteiligung des Proletariats an einer Regierung, die sich der sozialistischen Umwälzung widersetzt, mit der Beteiligung des Proletariats an der demokratischen Revolution in einen Topf werfen, heißt hoffnungslos missverstehen, worum es sich handelt. Es ist genau dasselbe, als wollte man die Teilnahme Millerands am Ministerium des Henkers Gallifet mit der Teilnahme Varlins an der Kommune, die die Republik verteidigt und durchgesetzt hat, in einen Topf werfen.

Doch hören wir weiter, um zu sehen, wie unser Verfasser sich verhaspelt.

Wenn dem aber so ist, so ist es offensichtlich, dass die bevorstehende Revolution keinerlei politische Formen realisieren kann gegen den Willen der gesamten (von Martynow gesperrt) Bourgeoisie, denn sie wird die Herrin des morgigen Tages sein…"

Erstens, warum wird hier nur von politischen Formen gesprochen, während im vorhergehenden Satz von der Macht des Proletariats überhaupt, bis zur sozialistischen Revolution, die Rede war? Warum spricht der Verfasser nicht von der Realisierung der ökonomischen Formen? Weil er, ohne es selbst zu merken, von der sozialistischen Umwälzung bereits auf die demokratische hinüber gesprungen ist. Wenn dem aber so ist (dies zweitens), so ist es ganz verfehlt, wenn der Verfasser tout court (kurzerhand) von dem „Willen der gesamten Bourgeoisie" spricht, denn die Epoche der demokratischen Umwälzung ist gerade gekennzeichnet durch die Verschiedenheit des Willens der verschiedenen Schichten der Bourgeoisie, die sich eben erst vom Absolutismus befreit. Von demokratischem Umsturz reden und sich nur auf eine einfache und bloße Gegenüberstellung von „Proletariat" und „Bourgeoisie" beschränken, ist purer Unsinn, denn dieser Umsturz kennzeichnet gerade jene Entwicklungsperiode der Gesellschaft, wo sie in ihrer Masse eigentlich zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie steht und eine sehr umfangreiche kleinbürgerliche, bäuerliche Schicht bildet. Diese gigantische Schicht hat, gerade weil der demokratische Umsturz noch nicht vollzogen ist, bei der Realisierung der politischen Formen viel mehr Interessen mit dem Proletariat gemein als die „Bourgeoisie" im eigentlichen und engeren Sinne des Wortes. In der Verkennung dieser einfachen Sache liegt eine der Hauptquellen der Martynowschen Konfusion. Weiter:

„… Wenn dem so ist, so kann der revolutionäre Kampf des Proletariats durch einfache Einschüchterung der Mehrheit der bürgerlichen Elemente nur zu dem einen führen – zu der Wiederherstellung des Absolutismus in seiner ursprünglichen Gestalt – und das Proletariat wird natürlich vor diesem eventuellen Resultat nicht haltmachen, es wird schlimmstenfalls auf die Einschüchterung der Bourgeoisie nicht verzichten, wenn die Dinge entschieden dahin treiben sollten, durch ein scheinkonstitutionelles Zugeständnis die zerfallende absolutistische Macht zu beleben und zu festigen. Doch das Proletariat hat, wenn es in den Kampf zieht, selbstverständlich nicht diesen schlimmen Fall im Auge."

Verstehen Sie etwas, lieber Leser? Das Proletariat wird vor einer Einschüchterung, die zur Wiederherstellung des Absolutismus führt, nicht haltmachen, wenn ein scheinkonstitutionelles Zugeständnis drohen sollte! Es ist genau dasselbe, wie wenn ich sagte: mir droht eine ägyptische Plage in Gestalt einer eintägigen Unterhaltung mit Martynow allein; deshalb greife ich schlimmstenfalls zu einer Einschüchterung, die nur zu einer zweitägigen Unterhaltung mit Martynow und Martow führen kann. Das ist ja Kohl, Verehrtester!

Der Gedanke, der Martynow vorschwebte, als er den von uns wiedergegebenen Unsinn niederschrieb, besteht in Folgendem: wenn das Proletariat in der Epoche des demokratischen Umsturzes anfängt, die Bourgeoisie mit der sozialistischen Revolution zu schrecken, so wird das nur zu einer Reaktion führen, die auch die demokratischen Errungenschaften gefährdet. Das ist alles. Weder von der Wiederherstellung des Absolutismus in seiner ursprünglichen Gestalt noch von der Bereitwilligkeit des Proletariats, schlimmstenfalls zu einer schlimmen Dummheit seine Zuflucht zu nehmen, kann natürlich die Rede sein. Das Ganze läuft wiederum auf jenen Unterschied zwischen dem demokratischen und dem sozialistischen Umsturz hinaus, den Martynow vergisst, auf das Vorhandensein jener gewaltigen bäuerlichen und kleinbäuerlichen Bevölkerung, die fähig ist, einen demokratischen, aber unfähig ist, im gegebenen Augenblick den sozialistischen Umsturz zu unterstützen.

Hören wir unsern klugen Martynow weiter:

„… Offenbar muss der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie am Vorabend der bürgerlichen Revolution in mancher Hinsicht sich von dem gleichen Kampf in seinem Endstadium, am Vorabend der sozialistischen Revolution unterscheiden…"

Ja, das ist offenbar, und hätte Martynow nachgedacht, worin eben dieser Unterschied besteht, so würde er den vorhergegangenen Gallimathias und überhaupt seine ganze Broschüre wohl kaum geschrieben haben.

„… Der Kampf um den Einfluss auf den Gang und Ausgang der bürgerlichen Revolution kann nur darin zum Ausdruck kommen, dass das Proletariat einen revolutionären Druck auf den Willen der liberalen und radikalen Bourgeoisie ausüben wird, dass die demokratischeren ,Unterschichten' der Gesellschaft ihre ,Oberschichten' zwingen werden, einzuwilligen, die bürgerliche Revolution bis zu ihrem logischen Ende zu führen. Er wird darin zum Ausdruck kommen, dass das Proletariat bei jeder Gelegenheit die Bourgeoisie vor das Dilemma stellen wird: entweder zurück in die Fesseln des Absolutismus, in denen sie erstickt, oder vorwärts mit dem Volk."

Dieser Erguss ist der Zentralpunkt der Martynowschen Broschüre. Hier steckt ihre Quintessenz, hier sind alle ihre grundlegenden „Ideen". Und als was erweisen sich diese klugen Ideen? Sehen wir zu: wer sind diese „unteren Schichten" der Gesellschaft, dieses „Volk", dessen sich unser Neunmalweiser endlich entsinnt? Es ist eben jene nach vielen Millionen zählende kleinbürgerliche Schicht in Stadt und Land, die durchaus fähig ist, revolutionär-demokratisch zu handeln. Und was ist dieser Druck des Proletariats und der Bauernschaft auf die oberen Schichten der Gesellschaft, was ist diese Vorwärtsbewegung des Proletariats zusammen mit dem Volke trotz der oberen Schichten der Gesellschaft? Es ist eben jene revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft, gegen die unser Chwostist wettert! Er hat nur Angst, zu Ende zu denken, hat Angst, die Dinge bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Er gebraucht deshalb Worte, deren Bedeutung er nicht begreift, er wiederholt zaghaft, mit lächerlichen und unklugen Verschnörkelungen* Losungen, deren wahrer Sinn ihm entgeht. Nur einem Chwostisten kann daher in dem „interessantesten" Teil seiner Schlussfolgerungen ein solches Kuriosum passieren: revolutionärer Druck des Proletariats und des „Volkes" auf die Oberschichten der Gesellschaft, aber ohne revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft – das konnte nur ein Martynow fertigbringen! Martynow will, das Proletariat solle den Oberschichten der Gesellschaft drohen, dass es mit dem Volke vorwärts schreiten werde, gleichzeitig aber solle das Proletariat mit seinen Führern aus der neuen „Iskra" fest beschließen, auf dem demokratischen Wege nicht vorwärts zu schreiten, da dies der Weg der revolutionär-demokratischen Diktatur sei. Martynow will, das Proletariat solle einen Druck auf den Willen der oberen Schichten ausüben, indem es seine eigene Willenlosigkeit bekundet. Martynow will, das Proletariat solle die oberen Schichten bewegen, „einzuwilligen", die bürgerliche Revolution bis zu ihrem logischen demokratisch-republikanischen Ende zu führen, und zwar sie dadurch bewegen, dass es seine eigene Angst bekundet, zusammen mit dem Volke dieses Zuendeführen der Revolution auf sich zu nehmen, die Macht und die demokratische Diktatur zu übernehmen. Martynow will, das Proletariat solle die Avantgarde bei der demokratischen Umwälzung bilden, und deshalb schreckt der kluge Martynow das Proletariat mit der Perspektive der Beteiligung an der provisorischen revolutionären Regierung, falls der Aufstand Erfolg haben sollte.

Das ist die Höhe des reaktionären Chwostismus. Man sollte sich vor Martynow, wie vor einem Heiligen, tief verbeugen dafür, dass er die chwostistischen Tendenzen der neuen „Iskra" zu Ende geführt und sie in einer höchst aktuellen und politischen Grundfrage plastisch und systematisch zum Ausdruck gebracht hat.**

III

Wo liegt die Quelle der Martynowschen Konfusion? In der Verwechslung des demokratischen und des sozialistischen Umsturzes, im Vergessen der Rolle der Zwischenschicht, der Volksschicht, die zwischen der „Bourgeoisie" und dem „Proletariat" steht (die kleinbürgerliche Masse der städtischen und ländlichen Armut, die „Halbproletarier", Halbeigentümer), im Nichtverstehen der wahren Bedeutung unseres Minimalprogramms. Martynow hat läuten hören, dass es dem Sozialisten nicht gezieme, an einer bürgerlichen Regierung teilzunehmen (wenn das Proletariat um den sozialistischen Umsturz kämpft), und er beeilt sich, dies so zu „verstehen", dass man zusammen mit der revolutionären bürgerlichen Demokratie an dem revolutionär-demokratischen Umsturz und an jener Diktatur, die zur vollständigen Durchführung eines solchen Umsturzes notwendig ist, nicht teilnehmen dürfe. Martynow hat unser Minimalprogramm gelesen, aber nicht bemerkt, dass die strenge Aussonderung der Reformen, die sich auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft verwirklichen lassen, im Unterschied zu den sozialistischen Umgestaltungen, nicht bloß eine literarische, sondern eine höchst lebendige und praktische Bedeutung hat; er hat nicht bemerkt, dass dieses Programm in der Revolutionsperiode einer sofortigen Überprüfung und praktischen Anwendung unterliegt. Martynow hat sich nicht überlegt, dass der Verzicht auf die Idee der revolutionär-demokratischen Diktatur in der Zeit des Sturzes des Absolutismus gleichbedeutend ist mit dem Verzicht auf die Durchführung unseres Minimalprogramms. In der Tat, man denke nur an alle ökonomischen und politischen Reformen, die in diesem Programm aufgestellt sind, an die Forderungen der Republik, der Volksbewaffnung, der Trennung von Kirche und Staat, der vollen demokratischen Freiheiten, der entschiedenen ökonomischen Reformen. Ist es denn nicht klar, dass die Durchführung dieser Reformen auf dem Boden der bürgerlichen Ordnung ohne die revolutionär-demokratische Diktatur der unteren Klassen nicht denkbar ist? Ist es denn nicht klar, dass es sich hier eben nicht um das Proletariat allein im Unterschied zur „Bourgeoisie" handelt, sondern um die „unteren Klassen", die die treibende Kraft jeder demokratischen Umwälzung sind? Diese Klassen sind das Proletariat und Dutzende von Millionen der städtischen und ländlichen Armut, die in kleinbürgerlichen Existenzverhältnissen leben. Die Zugehörigkeit sehr vieler Vertreter dieser Masse zur Bourgeoisie steht außer Zweifel. Aber noch weniger zu bezweifeln ist, dass die völlige Verwirklichung der Demokratie im Interesse dieser Masse liegt und dass, je aufgeklärter diese Masse, um so unvermeidlicher ihr Kampf für diese völlige Verwirklichung. Der Sozialdemokrat wird natürlich niemals die zwiespältige politisch-ökonomische Natur der kleinbürgerlichen städtischen und ländlichen Masse vergessen; er wird niemals die Notwendigkeit einer besonderen und selbständigen Klassenorganisation des um den Sozialismus kämpfenden Proletariats vergessen. Er wird aber auch nicht vergessen, dass diese Masse „außer einer Vergangenheit eine Zukunft, außer Vorurteilen ein Urteil hat"3, das sie vorwärts treibt, der revolutionär-demokratischen Diktatur zu; er wird nicht vergessen, dass Aufklärung nicht das Buch allein bringt und sogar nicht so sehr das Buch, als vielmehr der Gang der Revolution selbst, die die Augen öffnet, die eine politische Schule ist. Unter solchen Umständen kann eine Theorie, die auf die Idee der revolutionär-demokratischen Diktatur verzichtet, nicht anders bezeichnet werden denn als eine philosophische Rechtfertigung der politischen Rückständigkeit.

Der revolutionäre Sozialdemokrat wird mit Verachtung eine solche Theorie von sich weisen. Am Vorabend der Revolution wird er nicht nur auf das „schlimme Ende" hinweisen. Nein, er wird auch auf die Möglichkeit eines guten Endes hinweisen. Er wird davon träumen – er ist verpflichtet zu träumen, wenn er kein hoffnungsloser Philister ist –, dass es uns nach der gigantischen Erfahrung Europas, nach der beispiellosen Energieentfaltung der Arbeiterklasse in Russland, gelingen wird, wie noch nie bisher, die Fackel des revolutionären Lichtes vor der dunklen und niedergebeugten Masse zu entzünden, dass es uns gelingen wird – dank dem Umstand, dass wir auf den Schultern einer ganzen Reihe revolutionärer Generationen Europas stehen –, alle demokratischen Reformen, unser ganzes Minimalprogramm in einer noch nicht dagewesenen Vollständigkeit zu verwirklichen; dass es uns gelingen wird zu erreichen, dass die russische Revolution nicht eine Bewegung von einigen Monaten, sondern von vielen Jahren sei, dass sie nicht nur zu kleinen Zugeständnissen der Machthaber, sondern zu deren völligem Sturz führe. Wenn dies aber gelingt, dann … dann wird das revolutionäre Feuer Europa in Flammen setzen; der unter der bürgerlichen Reaktion schmachtende europäische Arbeiter wird sich seinerseits empören und uns zeigen, „wie man's macht", dann wird der revolutionäre Aufschwung Europas seine Rückwirkung auf Russland ausüben und aus der Epoche einiger Revolutionsjahre die Epoche einiger Revolutionsdezennien machen, dann … aber wir werden noch Zeit haben, mehr als einmal darüber zu sprechen, was wir „dann" zu tun haben werden, zu sprechen nicht aus der verdammten Genfer Ferne, sondern vor tausendköpfigen Arbeiterversammlungen in den Straßen von Moskau und Petersburg, bei den freien Zusammenkünften der russischen „Muschiks".

IV

Den Philistern der neuen „Iskra" und ihrem „führenden Kopf", unserem guten bibelfesten Martynow, erscheinen solche Träumereien selbstverständlich fremd und seltsam. Sie fürchten die volle Verwirklichung unseres Minimalprogramms durch die revolutionäre Diktatur des einfachen, gemeinen Volkes. Sie fürchten für ihr eigenes Erkenntnisvermögen, sie haben Angst, das Konzept auf Grund des eingepaukten (aber nicht durchdachten) Büchleins zu verlieren, sie fürchten, dass sie nicht imstande sein werden, die richtigen und kühnen Schritte der demokratischen Reformen von den abenteuerlichen Sprüngen des klassenlosen Sozialismus der Narodniki oder des Anarchismus zu unterscheiden. Ihre Philisterseele sagt ihnen mit Recht, dass es bei raschem Vorwärtsschreiten schwerer ist, den richtigen Weg zu erkennen und schnell die komplizierten und neuen Fragen zu lösen als bei der Routine der kleinen Alltagsarbeit; deshalb murmeln sie instinktiv: verschone mich, verschone mich! Möge der Kelch der revolutionär-demokratischen Diktatur an uns vorübergehen! Es könnte der Untergang sein! Liebe Leute, „immer langsam voran, immer langsam voran, damit der Krähwinkler Landsturm nachkommen kann!" 4

Kein Wunder, dass es einem Parvus, der, solange es sich vornehmlich um die Kooptierung der Ältesten und Verdienstvollen handelte, die neue „Iskra" großmütig unterstützt hat, schließlich in einer solchen Sumpfgesellschaft unheimlich geworden ist. Kein Wunder, dass ihn da immer häufiger das taedium vitae (Lebensekel) überkam. Und schließlich wurde er rebellisch. Er beschränkte sich nicht auf die Verteidigung der Losung „die Revolution organisieren", die der neuen „Iskra" tödlichen Schrecken eingejagt hatte, er begnügte sich nicht mit den Aufrufen, die von der „Iskra" als Flugblätter gedruckt wurden, wobei sie sogar wegen der „jakobinischen" Schrecklichkeit die Erwähnung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei vergaß***. Nein. Parvus webte sich von dem Alpdruck der neunmalweisen Axelrodschen (oder Luxemburgschen?) Theorie der Organisation als Prozess frei und vermochte endlich vorwärts zu gehen, anstatt wie ein Krebs rückwärts zu krabbeln. Er wollte nicht mehr die „Sisyphusarbeit'' der endlosen Korrekturen zu den Martynowschen und Martowschen Dummheiten besorgen. Er trat direkt (leider zusammen mit Trotzki) mit einer Verteidigung der Idee der revolutionär-demokratischen Diktatur hervor, der Idee von der Pflicht der Sozialdemokratie, an der provisorischen revolutionären Regierung nach dem Sturze des Absolutismus teilzunehmen.5 Parvus hat tausendmal recht, wenn er sagt, dass die Sozialdemokratie kühne Schritte nach vorwärts nicht fürchten darf, sich nicht scheuen darf, Hand in Hand mit der revolutionären bürgerlichen Demokratie dem Feinde gemeinsame „Schläge" zu versetzen, unter der unerlässlichen (sehr zeitgemäß in Erinnerung gebrachten) Voraussetzung, dass die Organisationen nicht vermengt werden; getrennt marschieren, vereint schlagen; die Verschiedenartigkeit der Interessen nicht verheimlichen; seinen Verbündeten ebenso wie seinen Feind beobachten usw.

Aber je glühender unsere Sympathie für alle diese Losungen des von den Chwostisten sich abwendenden revolutionären Sozialdemokraten ist, um so unangenehmer haben uns einige von Parvus angeschlagene falsche Töne berührt. Wir heben diese kleinen Irrtümer hervor, nicht aus Nörgelei, sondern deshalb, weil von dem, dem viel gegeben ist, auch viel verlangt wird. Am Gefährlichsten wäre es jetzt, wenn die richtige Stellungnahme von Parvus durch seine eigene Unachtsamkeit kompromittiert würde. Zu den zumindest unbedachten Wendungen in dem in Rede stehenden Vorwort von Parvus zu der Broschüre Trotzkis gehört folgender Satz: „Wenn wir das revolutionäre Proletariat von den anderen politischen Strömungen absondern wollen, so müssen wir verstehen, ideologisch an der Spitze der revolutionären Bewegung zu stehen" (das ist richtig), „revolutionärer als alle zu sein". Das ist unrichtig. Das heißt, es ist unrichtig, wenn man diesen Satz in jenem allgemeinen Sinne auffasst, den er durch die Parvussche Redewendung erhält, es ist unrichtig vom Standpunkt des Lesers, der dieses Vorwort als etwas Selbständiges, unabhängig von Martynow und den Leuten der neuen „Iskra" ansieht. Betrachtet man diesen Satz dialektisch, d. h. relativ, konkret, von allen Seiten, ohne es jenen literarischen Kunstreitern gleichzutun, die sogar nach vielen Jahren aus einem geschlossenen Werke einzelne Phrasen herausgreifen und ihren Sinn entstellen – so wird es klar, dass dies von Parvus gerade gegen den Chwostismus gerichtet ist, und insоweit ist es richtig (vgl. besonders die nachfolgenden Worte von Parvus: „wenn wir hinter der revolutionären Entwicklung zurückbleiben" usw.). Aber der Leser kann doch nicht die Chwostisten allem im Auge haben, und unter den gefährlichen Freunden der Revolution aus dem Lager der Revolutionäre gibt es außer den Chwostisten noch ganz andere Leute, es gibt die „Sozialrevolutionäre", es gibt Leute, die, vom Strom der Ereignisse mitgerissen, der revolutionären Phrase hilflos gegenüberstehen, wie die Nadjeschdins, oder solche, bei denen der Instinkt die revolutionäre Weltanschauung ersetzt (von der Art Gapons). Die hat Parvus vergessen, und zwar deshalb vergessen, weil seine Darstellung, die Entwicklung seines Gedankens nicht frei, sondern durch die angenehme Erinnerung an jene Martynowerei gehemmt war, vor der er den Leser zu warnen sucht. Die Darstellung von Parvus ist nicht genügend konkret, denn er berücksichtigt nicht alle die verschiedenen, in Russland vorhandenen revolutionären Strömungen in ihrer Gesamtheit, die in der Epoche der demokratischen Umwälzung unvermeidlich sind und natürlich die mangelnde Klassengliederung der Gesellschaft in einer solchen Epoche widerspiegeln. Unklare, mitunter sogar reaktionäre sozialistische Gedanken umhüllen in einer solchen Zeit ganz natürlich die revolutionär-demokratischen Programme und verstecken sich hinter der revolutionären Phrase (man denke an die Sozialrevolutionäre und Nadjeschdin, der, wie es scheint, nur den Namen geändert hat, indem er von den „revolutionären Sozialisten" zu der neuen „Iskra" überging). Unter solchen Umständen können und werden wir Sozialdemokraten nie die Losung aufstellen: „revolutionärer als alle sein". Wir denken nicht daran, die Revolutionshascherei eines vom Klassenboden losgerissenen Demokraten, der mit Phrasen prunkt, auf gangbare und billige Losungen (besonders auf dem Agrargebiete) erpicht ist, mitzumachen; wir werden im Gegenteil uns demgegenüber stets kritisch verhalten, werden die wahre Bedeutung der Worte, den wahren Inhalt der idealisierten großen Ereignisse aufdecken und eine nüchterne Bewertung der Klassen und Schattierungen innerhalb der Klassen in den erregtesten Momenten der Revolution lehren.

Ebenso falsch, und zwar aus demselben Grunde, sind die Sätze von Parvus: „die provisorische revolutionäre Regierung in Russland wird eine Regierung der Arbeiterdemokratie sein", „wenn die Sozialdemokratie an der Spitze der revolutionären Bewegung des russischen Proletariats stehen wird, so wird diese Regierung eine sozialdemokratische sein", die sozialdemokratische provisorische Regierung „wird eine geschlossene Regierung mit einer sozialdemokratischen Mehrheit sein". Das kann nicht sein, wenn nicht von zufälligen, flüchtigen Episoden die Rede ist, sondern von einer revolutionären Diktatur, die einigermaßen von Dauer, die imstande sein sollte, irgendwelche Spuren in der Geschichte zu hinterlassen. Dies kann nicht sein, weil einigermaßen von Dauer (natürlich nicht absolut, sondern relativ) nur eine revolutionäre Diktatur sein kann, die sich auf die ungeheure Mehrheit des Volkes stützt. Das russische Proletariat aber bildet jetzt die Minderheit der Bevölkerung Russlands. Zu einer gewaltigen, erdrückenden Mehrheit kann es nur werden, wenn es sich mit der Masse der Halbproletarier, der Halbeigentümer, d. h. mit der Masse der kleinbürgerlichen städtischen und ländlichen Armut vereinigt. Eine solche Zusammensetzung der sozialen Basis einer möglichen und erwünschten revolutionär-demokratischen Diktatur wird sich natürlich auch in der Zusammensetzung der revolutionären Regierung widerspiegeln, sie wird die Beteiligung oder sogar das Überwiegen der buntscheckigsten Vertreter der revolutionären Demokratie in dieser Regierung unvermeidlich machen. Es wäre überaus schädlich, sich in dieser Hinsicht irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Wenn der hohle Deklamator Trotzki jetzt (leider neben Parvus) schreibt, dass ein „Priester Gapon nur einmal auftauchen konnte", dass es „für einen zweiten Gapon keinen Platz" gibt, so lediglich deshalb, weil er eben ein hohler Deklamator ist. Gäbe es in Russland keinen Platz für einen zweiten Gapon, so würde es bei uns auch keinen Platz für eine wirklich „große", bis ans Ende gehende demokratische Revolution geben. Um zu einer großen zu werden, um an 1789-1793, und nicht an 1848-1850 zu erinnern und sie zu überflügeln, muss sie gigantische Massen zu aktivem Leben, zu heroischen Anstrengungen, zu „gründlichem historischen Schaffen" aufrütteln, muss sie sie aus fürchterlicher Finsternis, aus beispielloser Bedrückung, aus unsäglicher Verwilderung und hoffnungsloser Stumpfheit emporheben. Die Revolution rüttelt sie bereits auf, sie wird sie aufrütteln – die Regierung selbst erleichtert dies durch ihren krampfhaften Widerstand, aber selbstverständlich kann von einer durchdachten politischen Erkenntnis, von einem sozialdemokratischen Bewusstsein dieser Massen und ihrer zahlreichen „urwüchsigen" Volks- oder gar Bauernführer keine Rede sein. Sie können nicht gleich, ohne eine Reihe revolutionärer Prüfungen durchgemacht zu haben, Sozialdemokraten werden, nicht nur infolge ihrer Unwissenheit (die Revolution klärt, wir wiederholen es, mit märchenhafter Geschwindigkeit auf), sondern deshalb, weil ihre Klassenlage keine proletarische ist, weil die objektive Logik der historischen Entwicklung sie im gegenwärtigen Augenblick vor die Aufgaben eines demokratischen und keineswegs eines sozialistischen Umsturzes stellt.

Und an diesem Umsturz wird das revolutionäre Proletariat mit aller Energie teilnehmen, den jämmerlichen Chwostismus der einen wie die revolutionäre Phrase der andern von sich weisend, klassenmäßige Bestimmtheit und Bewusstsein in den schwindelerregenden Wirbel der Geschehnisse hinein tragend, unentwegt und mutig vorwärtsschreitend, die revolutionär-demokratische Diktatur nicht fürchtend, sondern sie vielmehr leidenschaftlich herbei sehnend, für die Republik und die volle republikanische Freiheit, für ernste ökonomische Reformen kämpfend, damit eine wirklich weite und des 20. Jahrhunderts wirklich würdige Arena geschaffen werde für den Kampf um den Sozialismus.

1 Gewissermaßen die Fortsetzung dieses Artikels ist der Aufsatz: „Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" (S. 270 ff.); vgl. auch den Resolutionsentwurf sowie das Referat auf dem III. Parteitag der SDAPR über die provisorische revolutionäre Regierung (S. 355, 357), ferner die Aufsätze: „Über die provisorische revolutionäre Regierung", „Ein dritter Schritt rückwärts", „Revolutionäre Armee und revolutionäre Regierung" und andere.

2 Lenin meint an dieser Stelle die Darlegung des Programms der Partei „Volkswille“, die im Jahre 1879 in Nr. 3 ihres Organs „Narodnaja Wolja“ (Volkswille) enthalten war. [Anmerkung der „Ausgewählten Werke“]

* Wir haben bereits die Unsinnigkeit des Gedankens vermerkt, als könnte das Proletariat selbst im schlimmsten Falle die Bourgeoisie nach rückwärts stoßen.

** Der Artikel war bereits gesetzt, als uns die Nr. 93 der „Iskra" zuging, auf die wir noch zurückkommen werden.

[Bezieht sich auf den Artikel Martows: „Auf der Tagesordnung (Die Arbeiterpartei und die Machtergreifung als unsere nächste Aufgabe)" in Nr. 93 der „Iskra" vom 30. (17.) März 1905. Den Artikel Martows behandelt Lenin im nächsten Artikel: „Die revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft"; siehe auch das Referat auf dem III. Parteitag und den Artikel: „Über die provisorische revolutionäre Regierung". (Anmerkung der „Sämtlichen Werke)

Lenin meint hier hauptsächlich den Artikel Martows „Vom Tage. Die Arbeiterpartei und die Machtergreifung als unsere nächste Aufgabe“ (Anmerkung der „Ausgewählten Werke“]

3 Marx schrieb im „Achtzehnten Brumaire“, die Dynastie Bonaparte „repräsentiert nicht die Aufklärung, sondern den Aberglauben des Bauern, nicht sein Urteil, sondern sein Vorurteil, nicht seine Zukunft, sondern seine Vergangenheit“.

4 In den „Ausgewählten Werken“ keine deutsche Volksweise, sondern „Langsamen Schrittes, im schüchternen Zickzack“!… mit der Anmerkung: „Aus einem Spottgedicht, das Martow 1900 gegen die Ökonomisten und Opportunisten schrieb und unter dem Pseudonym Narziss Tuporylow veröffentlichte. D. Red.

*** Ich weiß nicht, ob unsere Leser eine charakteristische Tatsache bemerkt haben: unter dem Haufen Plunder, den die neue „Iskra" in Form von Flugblättern herausgibt, gab es auch gute Flugblätter, die von Parvus unterzeichnet waren. Die Redaktion der „Iskra" ließ gerade diese Flugblätter im Stich, indem sie weder unsere Partei noch ihren Verlag erwähnen wollte.

5 Es handelt sich um das Vorwort von Parvus zu Trotzkis Broschüre: „Bis zum 9. Januar" (russisch). Die Broschüre erschien in Genf Anfang Februar 1905. Trotzki schrieb sie größtenteils noch vor den Januarereignissen Der letzte Aufsatz ist später geschrieben und ist betitelt: „Nach dem Petersburger Aufstand. Was nun?". Das Vorwort von Parvus ist datiert „München, 31. Januar 1905".

Lenins Redewendung, Parvus „wollte nicht mehr die ,Sisyphusarbeit' der endlosen Korrekturen zu den Martynowschen und Martowschen Dummheiten besorgen", spielt an auf eine von Lepeschinski gezeichnete Каritur: „Sisyphusarbeit. Der moderne Sisyphus". Die Karikatur zeigt den menschewistischen Sumpf und seine Sumpfbewohner, wobei Plechanow, der seine Blöße mit einem kleinen Feigenblatt, überschrieben „Dialektik", verdeckt, sich zwecklos abmüht, Martow an den Ohren aus dem Sumpf zu ziehen.

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