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Wladimir I. Lenin19051126 Parteiorganisation und Parteiliteratur

Wladimir I. Lenin: Parteiorganisation und Parteiliteratur

[Nowaja Schisn", Nr. 12 13./26. November 1905 Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 521-527]

Die nach der Oktoberrevolution in Russland geschaffenen neuen Bedingungen der sozialdemokratischen Tätigkeit haben die Frage der Parteiliteratur auf die Tagesordnung gestellt. Der Unterschied zwischen der illegalen und legalen Presse, dieses traurige Erbe der feudalen Epoche und des absolutistischen Russlands, beginnt zu schwinden. Dieses Erbe ist noch nicht tot, bei weitem noch nicht tot. Das Wüten der heuchlerischen Regierung unseres Ministerpräsidenten geht noch so weit, dass die „Nachrichten des Rats der Arbeiterdeputierten" „illegal" gedruckt werden; aber die dummen Versuche, das zu „verbieten", was sie zu verhindern nicht die Kraft hat, bringen der Regierung nichts ein als Schande und neue moralische Hiebe.

Während des Bestehens des Unterschiedes zwischen illegaler und legaler Presse wurde die Frage der Parteiliteratur und der außerparteilichen Literatur primitiv und auf äußerst falsche und entstellende Weise gelöst. Die gesamte illegale Presse war Parteipresse, wurde von Organisationen herausgegeben und von Gruppen geleitet, die auf diese oder jene Weise mit den Gruppen der praktischen Parteifunktionäre in Verbindung standen. Die ganze legale Presse stand außerhalb der Partei, weil die Zugehörigkeit zur Partei verboten war – aber sie „neigte" zu der einen oder andern Partei. Unnatürliche Bündnisse, anormale Formen des „Zusammenlebens", falsche Aushängeschilder waren unvermeidlich. Mit dem erzwungenen Nicht-zu-Ende-sprechen bei denen, die gewillt waren, die Parteimeinungen zum Ausdruck zu bringen, vermengte sich die Beschränktheit oder Feigheit des Denkens derjenigen, die zu diesen Auffassungen noch nicht herangereift, im Grunde noch keine Parteimenschen waren.

Verfluchte Zeit der äsopischen Redeweise, der literarischen Knechtschaft, der Sklavensprache, der geistigen Hörigkeit! Das Proletariat hat dieser Niedertracht, die alles Lebendige und Frische in Russland im Keim erstickte, ein Ende gemacht. Aber das Proletariat hat bisher für Russland nur die halbe Freiheit erkämpft.

Die Revolution ist noch nicht vollendet. Wenn der Zarismus schon nicht mehr die Kraft hat, die Revolution zu besiegen, so hat die Revolution noch nicht die Kraft, den Zarismus zu besiegen. Und wir leben in einer Zeit, wo sich die widernatürliche Kombination der offenen, ehrlichen, direkten, konsequenten Parteimäßigkeit mit der unterirdischen, verdeckten, „diplomatischen", schlauen „Legalität" überall und in allem zeigt. Diese widernatürliche Kombination zeigt sich auch in unserer Zeitung: so sehr auch Herr Gutschkow über die sozialdemokratische Tyrannei witzeln mag, die den Druck der bürgerlich-liberalen gemäßigten Zeitungen verbietet, bleibt doch die Tatsache bestehen, dass das Zentralorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, der „Proletarij", eben außerhalb des absolutistischen Polizeistaates Russland erscheint.

Gleichviel, auch die halbe Revolution zwingt uns alle, sofort an die Neuordnung der Dinge zu gehen. Die Literatur kann jetzt sogar „legal" zu neun Zehnteln Parteiliteratur sein. Die Literatur muss Parteiliteratur werden. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Sitten, im Gegensatz zur bürgerlichen privatgeschäftlichen Krämerpresse, im Gegensatz zum bürgerlichen literarischen Strebertum und Individualismus, zum „Edelanarchismus" und zur Profitjägerei – muss das sozialistische Proletariat das Prinzip der Parteiliteratur aufstellen, dieses Prinzip entwickeln und in möglichst voller und einheitlicher Form verwirklichen.

Worin besteht das Prinzip der Parteiliteratur? Nicht nur darin, dass für das sozialistische Proletariat die literarische Tätigkeit überhaupt keine Profitquelle für Einzelpersonen oder Gruppen sein darf, sie darf überhaupt keine von der allgemeinen Sache des Proletariats unabhängige individuelle Angelegenheit sein. Weg mit dem parteilosen Literaten! Weg mit den literarischen Übermenschen! Die literarische Tätigkeit muss zu einem Bestandteil der allgemeinen proletarischen Sache, zu einem „Rädchen und Schräubchen" des einen einheitlichen, großen sozialdemokratischen Mechanismus werden, der von dem ganzen klassenbewussten Vortrupp der gesamten Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird. Die literarische Betätigung muss ein Bestandteil der organisierten, planmäßigen, vereinigten sozialdemokratischen Parteiarbeit werden.

Jeder Vergleich hinkt," sagt ein deutsches Sprichwort. So hinkt auch mein Vergleich der Literatur mit einem Schräubchen, der lebendigen Bewegung mit einem Mechanismus. Es finden sich auch wohl hysterische Intellektuelle, die ein Geschrei erheben ob eines solchen Vergleichs, der den freien Ideenkampf, die Freiheit der Kritik, die Freiheit des literarischen Schaffens herabwürdigt, tötet, „bürokratisiert" usw. usw. Solches Geschrei wäre im Wesentlichen nur eine Äußerung des bürgerlich-intellektuellen Individualismus. Kein Zweifel, die literarische Tätigkeit verträgt am allerwenigsten eine mechanische Gleichmacherei, eine Nivellierung, eine Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit. Kein Zweifel, auf diesem Gebiet ist die Sicherung eines weiten Betätigungsfeldes für persönliche Initiative, individuelle Neigungen, eines Spielraums für Gedanken und Phantasie, Form und Inhalt unbedingt notwendig. Das alles ist unbestritten, aber das alles beweist nur, dass der literarische Teil der Parteitätigkeit des Proletariats nicht schablonenhaft identifiziert werden kann mit den anderen Gebieten der Parteitätigkeit des Proletariats. Das alles widerspricht nicht der in den Augen der Bourgeoisie und der bürgerlichen Demokratie fremden und sonderbaren Lage, dass die literarische Tätigkeit auf jeden Fall und obligatorisch ein mit den anderen Gebieten unzertrennlich verbundener Teil der sozialdemokratischen Parteiarbeit sein muss. Die Zeitungen müssen Organe der verschiedenen Parteiorganisationen werden. Die Literaten müssen auf jeden Fall den Parteiorganisationen angehören. Die Verlagsunternehmungen und Lager, die Läden und Lesezimmer, die Büchereien und verschiedenen Buchhandlungen – alles das muss der Partei unterstehen und ihr zur Rechnungslegung verpflichtet sein. Alle diese Arbeit muss das organisierte sozialistische Proletariat verfolgen, kontrollieren, alle diese Arbeit, ohne eine einzige Ausnahme, muss es mit dem lebendigen Strom der lebendigen proletarischen Sache erfüllen und so dem veralteten, halb sorglos-fahrlässigen, halb krämerhaften Prinzip: der Schriftsteller schreibt und der Leser liest, den Boden unter den Füßen wegziehen.

Wir sagen selbstverständlich nicht, dass diese Umwandlung in der von der asiatischen Zensur und der europäischen Bourgeoisie verdorbenen literarischen Tätigkeit mit einem Schlage erfolgen kann. Uns liegt der Gedanke fern, irgendein einförmiges System oder die Lösung der Aufgabe durch ein paar Bestimmungen verkünden zu wollen. Nein, von einem Schematismus kann auf diesem Gebiet am allerwenigsten die Rede sein. Es handelt sich darum, dass unsere ganze Partei, dass das gesamte klassenbewusste sozialdemokratische Proletariat ganz Russlands diese neue Aufgabe erkenne, sie klar stelle und ihre Lösung allüberall in die Hand nehme. Wenn wir der Gefangenschaft der leibeigenschaftlichen Zensur entrinnen, wollen wir und werden wir nicht in die Gefangenschaft der bürgerlich-krämerhaften literarischen Beziehungen geraten. Wir wollen und werden eine nicht nur von der Polizei, sondern auch vom Kapital und vom Strebertum, ja noch mehr: eine auch vom bürgerlich-anarchistischen Individualismus freie Presse schaffen.

Diese letzten Worte scheinen widerspruchsvoll und eine Verhöhnung der Leser zu sein. Wie denn! – wird vielleicht irgendein Intellektueller, ein eifriger Freund der Freiheit rufen – wie denn, ihr wollt eine so delikate, individuelle Sache, wie das literarische Schaffen, der Kollektivität unterordnen! Ihr wollt, dass die Arbeiter mit Stimmenmehrheit Fragen der Wissenschaft, der Philosophie, der Ästhetik entscheiden! Ihr leugnet die absolute Freiheit des absolut-individuellen geistigen Schaffens!

Beruhigt euch, Herrschaften! Erstens ist von der Partei-Literatur und ihrer Unterordnung unter die Kontrolle der Partei die Rede. Jeder hat die Freiheit, zu schreiben und zu reden, was ihm behagt, ohne die geringste Einschränkung. Aber jeder freie Verband (und darunter auch die Partei) hat auch die Freiheit, solche Mitglieder davonzujagen, die das Schild der Partei zur Verkündung gegen die Partei gerichteter Anschauungen ausnützen. Die Freiheit des Wortes und der Presse soll vollständig sein. Aber auch die Verbände sollen volle Freiheit haben. Ich bin verpflichtet, dir im Namen der Freiheit des Wortes das volle Recht zu lassen, zu schreien, zu schwatzen und zu schreiben, was dir passt. Du aber musst mir im Namen der Freiheit der Verbände das Recht einräumen, mit Leuten, die das und jenes sagen, eine Vereinigung einzugehen oder zu lösen. Die Partei ist ein freiwilliger Verband, der, zunächst ideologisch und dann auch materiell, unvermeidlich zerfallen würde, wenn er sich nicht jener Mitglieder entledigte, die gegen die Partei gerichtete Anschauungen vertreten. Zur Feststellung der Grenze zwischen dem, was der Partei entspricht, und dem, was gegen sie gerichtet ist, dient das Parteiprogramm, dienen die taktischen Resolutionen und das Statut der Partei, dient schließlich die ganze Erfahrung der internationalen Sozialdemokratie, der internationalen freiwilligen Verbände des Proletariats, das in seinen Parteien ständig verschiedene Elemente und Strömungen umschließt, die nicht völlig konsequent, nicht ganz rein marxistisch und nicht ganz richtig sind, das aber ständig periodische „Reinigungen" seiner Parteien vornimmt. So wird es auch bei uns, ihr Herren Anhänger der bürgerlichen „Kritikfreiheit", innerhalb der Partei sein: die Partei wird jetzt bei uns mit einem Male eine Massenpartei werden, wir erleben jetzt den jähen Übergang zur offenen Organisation, zu uns werden jetzt unvermeidlich viele (vom marxistischen Standpunkt) inkonsequente Leute, vielleicht sogar manche Christen, vielleicht sogar manche Mystiker kommen. Wir haben gesunde Mägen, wir sind hartgesottene Marxisten. Wir werden diese inkonsequenten Leute verdauen. Die Freiheit des Denkens und der Kritik innerhalb der Partei wird uns nie vergessen lassen, dass es eine Freiheit der Vereinigung von Menschen zu freien Verbänden gibt, die man Parteien nennt.

Zweitens, ihr Herren bürgerlichen Individualisten, müssen wir euch sagen, dass eure Reden über die absolute Freiheit eine einzige Heuchelei sind. In einer auf der Macht des Geldes begründeten Gesellschaft, in einer Gesellschaft, in der die Massen der Werktätigen ein Bettlerdasein und eine Handvoll Reicher ein Schmarotzerdasein führen, kann es keine tatsächliche und wirkliche „Freiheit" geben. Seid ihr denn, ihr Herren Schriftsteller, frei gegenüber euren bürgerlichen Verlegern, frei gegenüber eurem bürgerlichen Publikum, das von euch Pornographie in Rahmen und Bild und Prostitution in Gestalt von „Ergänzungen" zur „heiligen" Kunst der Inszenierung fordert? Ist doch diese absolute Freiheit eine bürgerliche oder anarchistische Phrase (denn als Weltanschauung ist der Anarchismus die Kehrseite der Bürgerlichkeit). Man kann nicht zugleich in der Gesellschaft leben und frei von ihr sein. Die Freiheit des bürgerlichen Schriftstellers, Künstlers, Schauspielers ist nur die maskierte (oder sich heuchlerisch maskierende) Abhängigkeit vom Geldsack, von der Bestechung, von der Bezahlung.

Und wir Sozialisten entlarven diese Heuchelei, reißen diese lügnerischen Aushängeschilder herunter – nicht um eine klassenlose Literatur und Kunst zu erhalten (das wird erst in der sozialistischen, klassenlosen Gesellschaft möglich sein), sondern nur um der heuchlerisch-freien, in Wirklichkeit aber mit der Bourgeoisie verbundenen Literatur die wirklich freie, mit dem Proletariat offen verbundene Literatur entgegenzustellen.

Das wird eine freie Literatur sein, weil nicht Gewinnsucht und Karriere, sondern die Idee des Sozialismus und das Mitgefühl mit den Werktätigen neue Kräfte für ihre Reihen werben werden. Das wird eine freie Literatur sein, weil sie nicht einer übersättigten Heldin, nicht den sich langweilenden und an Fettsucht leidenden „oberen Zehntausend", sondern den Millionen und Abermillionen Werktätigen dienen wird, die die Blüte des Landes, seine Kraft, seine Zukunft verkörpern. Das wird eine freie Literatur sein, die das letzte Wort des revolutionären Gedankens der Menschheit durch die Erfahrung und die lebendige Arbeit des sozialistischen Proletariats befruchten und eine ständige Wechselbeziehung schaffen wird zwischen der Erfahrung der Vergangenheit (dem wissenschaftlichen Sozialismus, der die Entwicklung des Sozialismus, angefangen mit seinen primitiven, utopistischen Formen, zur Vollendung bringt) und der Erfahrung der Gegenwart (dem gegenwärtigen Kampf der Genossen Arbeiter).

An die Arbeit denn, Genossen! Vor uns liegt eine schwierige und neue, aber große und dankbare Aufgabe: die weitreichende, vielseitige, vielgestaltige literarische Tätigkeit in enger und unzertrennlicher Verbindung mit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zu organisieren. Die ganze sozialdemokratische Literatur soll Parteiliteratur werden. Alle Zeitungen, Zeitschriften, Verlagsunternehmungen usw. sollen sofort an die Reorganisationsarbeit herangehen und eine solche Lage der Dinge schaffen, bei der alle auf dieser oder jener Grundlage dieser oder jener Parteiorganisation gehören. Nur dann wird die „sozialdemokratische" Literatur wirklich eine solche werden, nur dann wird sie ihre Schuldigkeit tun, nur dann wird sie auch im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft imstande sein, sich von der Sklaverei der Bourgeoisie loszumachen und mit der Bewegung der wirklich fortgeschrittensten und konsequent revolutionären Klasse zu verschmelzen.

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