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Wladimir I. Lenin 19050323 Proletariat und Bauernschaft

Wladimir I. Lenin: Proletariat und Bauernschaft

[„Wperjod"1 Nr. 11, 23. (10.) März 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 223-229]

Die Bauernaufstände beginnen. Aus verschiedenen Gouvernements kommen Nachrichten über Überfälle der Bauern auf die Herrengüter, über Konfiszierung von gutsherrlichem Getreide und Vieh durch die Bauern. Das zarische Militär, von den Japanern in der Mandschurei aufs Haupt geschlagen, nimmt Revanche am wehrlosen Volk, indem es Expeditionen gegen den inneren Feind unternimmt – gegen die Dorfarmut. Die städtische Arbeiterbewegung gewinnt in der revolutionären Bauernschaft einen neuen Bundesgenossen. Die Frage nach dem Verhalten der zielbewussten Vorhut des Proletariats, der Sozialdemokratie, gegenüber der Bauernbewegung gewinnt unmittelbare praktische Bedeutung und muss in allen unseren Parteiorganisationen, bei jedem Auftreten der Propagandisten und Agitatoren auf die nächste Tagesordnung gesetzt werden.

Die Sozialdemokratie hat bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass die Bauernbewegung sie vor eine doppelte Aufgabe stellt. Wir müssen diese Bewegung unbedingt unterstützen und vorwärtstreiben, soweit sie eine revolutionär-demokratische Bewegung ist. Wir müssen gleichzeitig unbeugsam auf unserem proletarischen Klassenstandpunkte beharren, indem wir das ländliche Proletariat, ähnlich wie das städtische und mit diesem zusammen, in einer selbständigen Klassenpartei organisieren, indem wir ihm den feindlichen Gegensatz zwischen seinen Interessen und denen der bürgerlichen Bauernschaft klarmachen, es zum Kampfe für die sozialistische Revolution aufrufen und darauf hinweisen, dass die Befreiung von Knechtschaft und Armut nicht in der Umwandlung einiger Schichten der Bauernschaft in Kleinbürger, sondern in der Ersetzung der ganzen bürgerlichen Ordnung durch die sozialistische liegt.

Diese doppelte Aufgabe der Sozialdemokratie wurde mehr als einmal in der alten „Iskra" betont, angefangen von Nr. 3, d. h. noch vor der ersten Bauernbewegung von 1902; sie fand ihren Ausdruck auch in unserem Parteiprogramm und wurde in unserer Zeitung (Nr. 3**) wiederholt. Heute, da es besonders wichtig ist, diese Aufgabe in ihrer praktischen Behandlung klarzustellen, ist es interessant, die Bemerkungen Karl Kautskys anzuführen, der in der deutschen sozialdemokratischen Zeitschrift „Die Neue Zeit" einen Artikel „Die Bauern und die Revolution in Russland" veröffentlicht hat3. Als Sozialdemokrat hält Kautsky unentwegt an der Wahrheit fest, dass jetzt unsere Revolution nicht vor der Aufgabe der sozialistischen Umwälzung, sondern vor der Aufgabe der Hinwegräumung der politischen Hindernisse für die Entwicklung der bestehenden, d. h. kapitalistischen Produktionsweise steht. Und Kautsky fährt fort:

In dem Verhältnis zwischen Bauer und Großgrundbesitzer dürfte die revolutionäre städtische Bewegung neutral bleiben. Sie hat keine Ursache, sich zwischen die Bauern und den Grundbesitzer zu stellen, die Schutztruppe für diesen gegen jene zu bilden; ihre Sympathien sind vollständig auf Seite des Bauern. Aber sie hat auch nicht die Aufgabe, die Bauern gegen die Gutsherren zu hetzen, die heute in Russland eine ganz andere Rolle spielen, als etwa der Feudaladel des ancien régime in Frankreich. Übrigens würden die städtischen Revolutionäre, selbst wenn sie wollten, auf das Verhältnis zwischen Grundbesitz und Bauern sehr wenig Einfluss haben. Das machen die untereinander aus."

Um diese Bemerkungen Kautskys richtig zu verstehen, die, aus dem Zusammenhang gerissen, nicht wenig Missverständnisse hervorrufen könnten, muss man auch die folgende Bemerkung am Schluss des Artikels unbedingt beachten.

Übrigens dürfte es eine siegreiche Revolution – sagt er dort – auch keine übermäßige Überwindung kosten, die großen Latifundien der schlimmsten Gegner der Revolution ebenfalls für die Verbesserung der proletarischen und bäuerlichen Verhältnisse anzuwenden."

Der Leser, der alle diese Behauptungen Kautskys aufmerksam miteinander vergleicht, wird in ihnen leicht gerade jene sozialdemokratische Fragestellung erkennen, die wir soeben umrissen haben. Einzelne Ungenauigkeiten und Unklarheiten in der Ausdrucksweise Kautskys dürften sich durch die Flüchtigkeit seiner Bemerkungen und die mangelhafte Kenntnis des Agrarprogramms der russischen Sozialdemokratie erklären lassen. Der springende Punkt ist, dass das Verhalten des revolutionären Proletariats gegenüber dem Streit zwischen Bauern und Grundbesitzern nicht in allen Fällen und unter allen Umständen bei den verschiedenen Peripetien der russischen Revolution dasselbe sein kann. Unter gewissen Verhältnissen, bei einer bestimmten Konjunktur, muss dieses Verhalten nicht nur das der Sympathie, sondern der direkten Unterstützung sein, und nicht nur Unterstützung, sondern auch „Aufhetzung". Unter anderen Verhältnissen kann und muss dieses Verhalten neutral sein. Kautsky hat, nach seinen oben zitierten Bemerkungen zu urteilen, diese Doppelseitigkeit unserer Aufgabe richtig erfasst – zum Unterschied nicht nur von unseren „Sozialrevolutionären", die bis an die Ohren in den vulgären Illusionen der revolutionären Demokratie stecken, sondern auch von vielen Sozialdemokraten, die, wie Rjasanow oder Iks, nach einer „einfachen", für alle Kombinationen gleichen Lösung der Aufgabe suchten4. Der Grundfehler solcher Sozialdemokraten (und aller Sozialrevolutionäre) besteht darin, dass sie den Klassenstandpunkt nicht konsequent einhalten und, indem sie eine für alle Kombinationen gleiche Lösung der Aufgabe suchen, die zwiespältige Natur der wohlhabenden und mittleren Bauernschaft vergessen. In ihren Berechnungen operieren sie im Grunde nur mit zwei Klassen: entweder Grundherren und „Bauern- und Arbeiterklasse", oder Eigentümer und Proletarier. In Wirklichkeit haben wir jedoch vor uns drei, ihren nächsten und ihren Endzielen nach verschiedene Klassen: die Grundherren, die wohlhabende und zum Teil die mittlere Bauernschaft und endlich das Proletariat. In Wirklichkeit kann die Aufgabe des Proletariats bei einer solchen Lage der Dinge keine andere als eine doppelseitige sein, und die ganze Schwierigkeit des sozialdemokratischen Agrarprogramms und der Agrartaktik in Russland besteht in der möglichst klaren und genauen Bestimmung, unter welchen Verhältnissen für das Proletariat die Neutralität und unter welchen die Unterstützung und die „Aufhetzung" geboten sind.

Es kann nur eine Lösung dieser Aufgabe geben: zusammen mit der bäuerlichen Bourgeoisie gegen jede Art Feudalismus und gegen die feudalen Grundherren, zusammen mit dem städtischen Proletariat gegen die bäuerliche und jede andere Bourgeoisie, – das ist die „Linie" des Landproletariers und seines Ideologen, des Sozialdemokraten. Mit anderen Worten: die Bauernschaft unterstützen und anspornen bis zur Wegnahme jedes beliebigen „geheiligten" herrschaftlichen „Eigentums", soweit diese Bauernschaft revolutionär-demokratisch auftritt; sich der Bauernschaft gegenüber misstrauisch verhalten, sich von ihr gesondert organisieren, zum Kampfe gegen sie bereit sein, soweit diese Bauernschaft reaktionär oder antiproletarisch auftritt. Noch anders ausgedrückt: Unterstützung des Bauern, wenn sein Kampf gegen den Grundherrn der Entwicklung und Festigung der Demokratie nützt; Neutralität gegenüber dem Bauern, wenn sein Kampf gegen den Grundherrn lediglich eine für das Proletariat und die Demokratie gleichgültige Auseinandersetzung zwischen zwei Fraktionen der grundbesitzenden Klasse ist.

Selbstverständlich wird eine solche Antwort die Leute nicht befriedigen, die an die Bauernfrage ohne durchdachte theoretische Anschauungen herantreten, die auf eine populäre und effektvolle „revolutionäre" (in Worten) Losung erpicht sind, die die gewaltige und ernste Gefahr des revolutionären Abenteurertums gerade auf dem Gebiet der Bauernfrage nicht begreifen. Gegenüber solchen Leuten – und wir haben ihrer gegenwärtig bereits nicht wenige, zu ihnen gehören die Sozialrevolutionäre, und die Entwicklung der Revolution sowie der Bauernbewegung bürgt für das Anwachsen ihrer Reihen – gegenüber solchen Leuten müssen die Sozialdemokraten unbeirrt den Standpunkt des Klassenkampfes gegen die revolutionäre Verschwommenheit jeder Art, das nüchterne Abwägen der verschiedenartigen Elemente der Bauernschaft gegen die revolutionäre Phrase vertreten. Praktisch und konkret gesprochen, wird man mit folgender Behauptung der Wahrheit am nächsten kommen: alle Gegner der Sozialdemokratie in der Agrarfrage lassen die Tatsache außer acht, dass wir im eigentlichen europäischen Russland eine ganze Schicht (1,5-2 Millionen Höfe von insgesamt rund 10 Millionen Höfen) wohlhabender Bauern haben. In den Händen dieser Schicht befindet sich nicht weniger als die Hälfte allen Eigentums und aller Produktionsmittel, über die die Bauernschaft verfügt. Diese Schicht kann ohne Beschäftigung von Landarbeitern und Tagelöhnern nicht bestehen. Diese Schicht steht sicher dem Feudalismus, den Grundherren, der Beamtenschaft feindlich gegenüber, sie ist fähig, demokratisch zu werden, aber noch sicherer ist ihre Feindschaft gegenüber dem ländlichen Proletariat. Jeder Versuch, diese Klassenfeindschaft im Agrarprogramm und in der Taktik zu vertuschen, zu umgehen, ist ein bewusstes oder unbewusstes Verlassen des sozialistischen Standpunktes.

Zwischen dem ländlichen Proletariat und der bäuerlichen Bourgeoisie steht die Schicht der Mittelbauern, deren Lage Züge des einen wie des andern der beiden Antipoden aufweist. Die gemeinsamen Züge in der Lage aller dieser Schichten, der gesamten Bauernschaft als eines Ganzen, gestalten ohne Zweifel auch ihre ganze Bewegung zu einer demokratischen, wie groß immer diese oder jene Äußerungen mangelnden Klassenbewusstseins und reaktionärer Gesinnung auch sein mögen. Unsere Aufgabe ist es, nie den Klassenstandpunkt zu verlassen und das engste Bündnis zwischen städtischem und ländlichem Proletariat zu organisieren. Unsere Aufgabe ist es, uns selbst und dem Volke den tatsächlichen demokratischen und revolutionären Inhalt, der sich hinter dem allgemeinen, aber verschwommenen Streben nach „Land und Freiheit" verbirgt, klar zu machen. Unsere Aufgabe ist daher die tatkräftigste Unterstützung und das Vorwärtstreiben dieses Bestrebens, und daneben die Vorbereitung der Elemente des sozialistischen Kampfes auch im Dorfe.

Um das Verhalten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Praxis gegenüber der Bauernbewegung genau zu bestimmen, muss der dritte Parteitag unserer Partei eine Resolution über die Unterstützung der Bauernbewegung annehmen. Hier der Entwurf einer solchen Resolution, die die oben dargelegten und in der sozialdemokratischen Literatur wiederholt entwickelten Ansichten formuliert und die jetzt von einem möglichst weiten Kreis von Parteiarbeitern durch beraten werden muss.

Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, als Partei des klassenbewussten Proletariats, erstrebt die völlige Befreiung aller Werktätigen von jeglicher Ausbeutung und unterstützt jede revolutionäre Bewegung gegen die heutige gesellschaftliche und politische Ordnung. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands unterstützt daher auf das tatkräftigste auch die gegenwärtige Bauernbewegung, indem sie für alle revolutionären Maßnahmen eintritt, die geeignet sind, die Lage der Bauernschaft zu verbessern, und zu diesem Zweck wird sie auch vor der Expropriation der gutsherrlichen Ländereien nicht haltmachen. Hierbei strebt die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands, die eine Klassenpartei des Proletariats ist, unbeirrbar nach einer selbständigen Klassenorganisation des ländlichen Proletariats und vergisst keinen Augenblick die Aufgabe, es über den feindlichen Gegensatz zwischen seinen Interessen und denen der Bauernbourgeoisie aufzuklären, ihm klarzumachen, dass nur der gemeinsame Kampf des ländlichen und städtischen Proletariats gegen die gesamte bürgerliche Gesellschaft zur sozialistischen Revolution führen kann, die allein imstande ist, die ganze Masse der Dorfarmut von Elend und Ausbeutung wirklich zu erlösen.

Als praktische Losung für die Agitation unter der Bauernschaft und als Mittel, die höchste Zielbewusstheit in diese Bewegung hinein zu tragen, proklamiert die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands die sofortige Bildung revolutionärer Bauernkomitees zur umfassenden Unterstützung aller demokratischen Umgestaltungen und zu ihrer Durchführung im Einzelnen. Auch in diesen Komitees wird die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands nach einer selbständigen Organisation der ländlichen Proletarier trachten, einerseits zur Unterstützung der gesamten Bauernschaft bei allen ihren revolutionär-demokratischen Aktionen und anderseits zum Schutze der wahren Interessen des ländlichen Proletariats in seinem Kampfe gegen die Bauernbourgeoisie".

1Wperjоd" („Vorwärts") – das erste bolschewistische Blatt, erschien wöchentlich in Genf im Jahre 1905. Neben Lenin gehörten der Redaktion noch an: Olminski, Worowski und Lunatscharski. Im ganzen erschienen 18 Nummern. Die erste ist datiert vom 4. Januar 1905 (22. Dezember 1904), die letzte vom 18. (5.) Mai 1905. Lenin schrieb für den „Wperjod" nicht nur Leitartikel, seiner Feder entstammt auch eine große Anzahl kleinerer Notizen und von ihm bearbeiteter Korrespondenzen. Manche Artikel wurden von Lenin gemeinschaftlich mit einem anderen Redakteur geschrieben (Worowski-Lenin, Olminski-Lenin). Der erhaltene Teil der Manuskripte verschiedener Autoren trägt die Spuren größerer Korrekturen und erheblicher Einfügungen von Lenin. Wie Olminski in einem Erinnerungsartikel berichtet, pflegte Lenin jede Nummer des „Wperjod" in den Fahnenabzügen ganz durchzusehen. Selbst als er von der Arbeit auf dem III. Parteitag in London völlig in Anspruch genommen war, fand er dazu Zeit übrig. – Die Rolle des „Wperjod" in der Geschichte des Bolschewismus wird dadurch gekennzeichnet, dass er als politisch-ideologisches Kampforgan im Auslande, neben dem praktischen Zentrum in Russland (dem Büro der Komitees der Mehrheit), dazu beitrug, dem Bolschewismus eine feste politische und organisatorische Form zu geben. Der „Wperjod" hat zum ersten Mal die Idee der revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft entwickelt und begründet und die taktische und politische Abgrenzung von den Menschewiki vollzogen. Auf dem III. Parteitag der SDAPR wurde beschlossen, ein eigenes Zentralorgan der Partei unter dem Namen „Proletarij" zu schaffen, der dann an die Stelle des „Wperjod" trat.

3 Kautskys Artikel: „Die Bauern und die Revolution in Russland" ist abgedruckt in Nr. 21 der „Neuen Zeit", Jahrgang 23, Bd. I (15. Februar 1905). Der Artikel wurde auch ins Russische übersetzt.

4 Bezieht sich auf folgende Broschüren: 1. N. Rjasanow: „Der Programmentwurf der ,Iskra' und die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten" (Materialien zur Ausarbeitung eines Parteiprogramms, Heft 2), herausgegeben von der Gruppe „Borjba" („Kampf"), Genf 1903, russisch; 2. Iks (Pseudonym von P. Maslow): „Über das Agrarprogramm", Genf 1903, russisch. Die gleichen Gedankengänge entwickelte Maslow auch in einem Artikel: „Über das Agrarprogramm der Sozialrevolutionäre" in Nr. 77 der „Iskra".

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