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Karl Kautsky 19050215 Die Bauern und die Revolution in Russland

Karl Kautsky: Die Bauern und die Revolution in Russland

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 23.1904-1905, 1. Band.(1904-1905), Heft 21, S. 670-677, 15. Februar 1905]

In seiner Nummer vom 10. Februar bringt der „Vorwärts" einen Artikel über „Die Politik der russischen Regierung", den er mit den Worten einleitet: „In einem düsteren Artikel, der gewisse Stimmungen der russischen Liberalen wiederzugeben scheint. erörtert ein Moskauer Mitarbeiter der Vossischen Zeitung die politischen Aussichten. Der Gewährsmann rechnet damit, dass die herrschende Clique systematisch darauf hinarbeitet, den ,Unverstand der Massen', das ist der Bauern, gegen die revolutionäre Intelligenz rebellisch zu machen. Sicher ist, dass der Zarismus seit jeher diese Taktik verfolgt, und noch neuerdings hat er sie sogar bei den Industriearbeitern angewandt, die freilich für solche Irreführung schon zu aufgeklärt sind."

Aus dem Artikel der „Vossischen Zeitung" zitiert er dann folgendes:

Am deutlichsten spricht Pobjedonoszew, der sich durch ein Rundschreiben an das Landvolk wendet, worin die Bauern aufgefordert werden, den Zaren zu schützen und der Obrigkeit zu gehorchen! Gegen wen soll der Zar geschützt werden? Doch wohl gegen den Feind der Clique, gegen die Liberalen, gegen alle ,Nichtrussen' und Intelligenten, die es satt haben, sich und das Volk auspressen zu lassen. Anders ist dieser Aufruf gar nicht zu verstehen. Die Clique bereitet das Volk vor, im gegebenen Augenblick für die Reaktion zu arbeiten. Im Ansiedlungsrayon wird der Jude, in Moskowien der liberale Semstwomann daran glauben müssen. Nach den Vorgängen in Petersburg halte ich die Clique zu allem fähig, und kein gebildeter Russe leugnet, dass die Popularität – wörtlich zu nehmen – auf Seiten der Regierung bleiben wird. …

Ich glaube nicht. dass ein Volksaufstand in Russland in allen Gouvernements gleichzeitig ausbrechen wird, dazu hat die Clique wohl noch zu viel Gegner in den Reihen der Gouverneure. Ebenso wenig kann ich annehmen, dass er schon jetzt beginnen wird. … Es werden große Trupps von Arbeitern, die sich an den Aufständen beteiligten, in die Heimatdörfer abgeschoben. Wozu wird denn gerade das unruhige Element in die Dörfer geschickt und nicht die Tausende von Bettlern. Es gibt dafür keine andere Erklärung als den Wunsch der Machthaber, das Volk gegen die Intelligenz auf dem Lande zu hetzen.

Trotz alledem dürfte ein Bauernaufstand gegen die Intelligenz vor dem Frühjahr nicht zu erwarten sein. Dann aber treten wirtschaftliche Faktoren hinzu, die mir einen solchen Aufstand wenigstens für einzelne Gouvernements unvermeidlich erscheinen lassen. Zunächst der Mangel an Saatgetreide und der Mangel an Geld, solches zu beschaffen, und dann die Abwesenheit genügender Arbeitshände. Die Zeit der Ackerbestellung ist in Russland weit kürzer bemessen als in Deutschland, und die in mehrere Stücke geschnittenen Acker liegen häufig 1 bis 3 deutsche Meilen auseinander. Nun haben einzelne Kreise sieben und acht Mobilmachungen über sich ergehen lassen müssen. Die Bauern vieler Gebiete werden daher vor der Unmöglichkeit stehen, den Acker zu bestellen und später zu ernten. Der Staat wird nicht in der Lage sein, rechtzeitig Getreide zu liefern, wenn er dazu auch finanziell in der Lage wäre. Was also bleibt dem Bauern übrig, als zu rauben? Oder glaubt jemand, dass er schon so ausgemergelt sei, dass er sich hinlegt, um zu sterben?

Wenn der Zar nicht einlenkt und unverzüglich die von der gemäßigt-liberalen Gruppe aufgestellten Hauptforderungen, Freiheit der Presse und Zusammentritt eines Parlamentes von Semstwo-Leuten, erfüllt, dann wird Russland der Tummelplatz eines Volksaufstandes werden, der an Schrecknissen nicht geringer werden wird, als der dreißigjährige Krieg es für Deutschland war. Dieser Aufstand wird vielleicht nicht nur das Haus der Romanows vom Throne fegen … er wird die Kultur vernichten und den russischen Staat zertrümmern."

Der „Vorwärts" bemerkt schließlich zu diesen Ausführungen:

In diesem liberalen Stimmungsbild spiegelt sich, wie man sieht, ein gut Stück bürgerlicher Angst vor dem Aufstand der dunklen Masse. Soweit es die Bauern angeht, die allerdings teilweise sogar in den japanischen Krieg mit verblendeter Begeisterung für den Friedenszaren gegangen sind, mögen die Befürchtungen nicht ganz unbegründet sein. Dagegen liegt die ganze Rettungsmöglichkeit in dem Industrieproletariat, das zu einem Kampfe gegen die Intelligenz durch die ärgsten Lockspitzeleien Väterchens zu gewinnen ist. Aber die ,gemäßigt Liberalen' fürchten sich eben auch vor dem proletarischen Klassengegner, und deshalb ihre Angst, die Gespenster sieht. Der ,gemäßigte' Liberalismus gerade ist die Gefahr, die nur durch die entschiedene Demokratie überwunden werden kann."

Wenn unser Zentralorgan meint, die „Befürchtungen" der Vossin „mögen, soweit es die Bauern angeht, nicht ganz unbegründet sein", die „ganze Rettungsmöglichkeit liege im Industrieproletariat", so kann das zu sehr falschen Auffassungen führen, wenn man hiermit den einleitenden Satz des „Vorwärts" zusammenhält, dass die „herrschende Clique systematisch darauf hinarbeitet, die Bauern gegen die revolutionäre Intelligenz rebellisch zu machen". Man könnte meinen, der „Vorwärts" fürchte von einem Bauernaufstand das Schlimmste für die „revolutionäre Intelligenz" und die Revolution, und die einzige Rettungsmöglichkeit in dieser Situation biete das Industrieproletariat.

Ich weiß nicht, ob der „Vorwärts" das wirklich sagen wollte. Indes ist diese Frage sehr nebensächlich. Die Hauptsache für uns ist, dass eine solche Befürchtung, wenn sie wirklich gehegt wird, eine durchaus verkehrte wäre. Die Revolution braucht in Russland von einem Bauernaufstand nicht das Mindeste zu fürchten, sie darf von ihm das Beste erwarten.

Die „Vossische Zeitung" hat allerdings darin ganz recht. dass dem „liberalen Semstwo-Mann" ein Bauernaufstand sehr unangenehm werden kann, aber man darf doch diesen Mann nicht mit der „revolutionären Intelligenz" verwechseln.

Diese besteht vornehmlich aus Studenten, die in Russland von einem ganz anderen Schlage sind als in Deutschland. Wird bei uns das Studium immer mehr ein Privilegium der Wohlhabenden, ist für den richtigen deutschen Studenten der Reserveoffizier das Ideal, und studiert er vor allem dahin, jenen „gefrorenen Dünkel", den schon Heine verhöhnte, in seiner teutschen Mannesbrust möglichst stark zu entfalten, so sind die russischen Studenten vielfach noch armer Leute Kind, die sich unter den größten Entbehrungen durchschlagen; stets aber sind sie von der Polizei überwacht und gehetzt. Die einen sind wirkliche Proletarier, die anderen, besser Situierten, sind wenigstens von vornherein Oppositioneller durch ihre Kollegen, proletarischem Empfinden leichter zugänglich. Das sind die Elemente der sozialistischen, revolutionären Intelligenz. Natürlich gehören nicht alle Studenten dazu. Streber und Spitzel finden sich auf den russischen Universitäten auch. Aber sie sind weit weniger zahlreich und weit verachteter als auf den Hochschulen des Volkes der Denker und Dichter.

Der „liberale Semstwo-Mann" hat mit dieser revolutionären Intelligenz nicht das Mindeste zu schaffen. Der „liberale Semstwo-Mann", der hier in Betracht kommt, ist ein adeliger Gutsbesitzer, der die „Intelligenz" höchstens im Nebenamt betreibt. Er steht in der Opposition, einmal weil seine Wirtschaft immer mehr zurückgeht und die Regierung trotz aller „Liebesgaben" an den verschuldeten Grundbesitz durch ihre Steuer- und Zollpolitik die Landwirtschaft ruiniert, dann aber auch, weil er bei einem Bauernaufstand am meisten zu verlieren hat und darum nach einem liberalen Regime drängt, von dem er erwartet, es könne am ehesten den Bauern befriedigen, ohne ihm weh zu tun, endlich aber auch, weil er es schmerzlich empfindet, dass er durch die Allmacht der Bürokratie zu völliger Nichtigkeit im Staate verurteilt ist.

Diese Liberalen sind also jene Elemente, die vor einer Empörung der Bauernschaft zu zittern haben, nicht aber die „revolutionäre Intelligenz". Glaubt man denn, die rebellischen Bauern würden in die Städte ziehen und die Universitäten stürmen?

Die Befürchtung, die Bauern könnten gegen die revolutionäre Intelligenz mobil gemacht werden, ist eine Reminiszenz an längst vergangene Zustände, wie sie zum Beispiel Turgenjew in seinem Roman „Neuland" schildert, der ja lange die vornehmste Quelle war, aus der der „gebildete" Westeuropäer seine Kenntnis des „Nihilismus" schöpfte.

Damals, als die studierende Jugend „ins Volk" ging, um die Bauern für den Sozialismus zu gewinnen, da kam es vor, dass die Bauern die Agitatoren aus der Stadt übel aufnahmen, durchprügelten, verjagten oder gar den Behörden auslieferten. Aber diese Zeiten sind längst vorbei. Die Studenten betreiben nur noch in höchst geringem Maße bäuerliche Agitation, und sie haben es nicht notwendig, denn inzwischen ist eine Schicht erstanden, die dem Bauern viel näher steht als der Student. die der Bauer leichter versteht, mit der er zahlreiche soziale Beziehungen unterhält, da sie erst jüngst aus der bäuerlichen Bevölkerung emporgewachsen ist: das industrielle Proletariat.

Der industrielle Lohnarbeiter, der auf das flache Land zurückgeht, geht in sein Dorf, in das Dorf, aus dem er stammt, in dem seine Eltern, seine Geschwister, seine Jugendfreunde sitzen. Der wird im Dorf ganz anders aufgenommen, angehört als der Student, dessen Sprache kaum verstanden wird, der in seinem Äußern und seinen Gewohnheiten den dem Bauern verhasstesten Klassen, den Beamten und Wucherern, anzugehören scheint.

Nichts drängt heute die „revolutionäre Intelligenz" auf das flache Land hinaus. Was sollte ihr also die bäuerliche Wut anheben können?

Dagegen bieten freilich die Schlösser, die vollen Scheunen, das wohlgenährte Vieh der „liberalen Semstwo-Männer" Objekte, die den hungrigen Bauern vor der Nase liegen und nur zu leicht ihre Gier herausfordern. Aber diese gefährdete Position teilen die „liberalen Semstwo-Männer" mit dem gesamten großen Grundbesitz, auch dem der konservativsten und verbohrtesten Verehrer der Autokratie. Diese müsste schon ganz verblendet und völlig kopflos geworden sein, wollte sie die Bauern gegen die liberalen Grundbesitzer hetzen. Die Bauern würden keine Zeit mit Anstellung feiner politischer Unterscheidungen verlieren, sondern sich gegen den gesamten großen Grundbesitz wenden.

Wenn daher der „Vorwärts" mit Beziehung auf die Mitteilungen der „Vossin", dass die herrschende Clique systematisch daraus hinarbeitet, die Bauern gegen die Liberalen und Intelligenten aufzuwiegeln, bemerkt: „Sicher ist, dass der Zarismus seit jeher diese Taktik verfolgt", so ist vielmehr zu bemerken, dass der Zarismus sich seit jeher gehütet hat. diese Taktik zu verfolgen, wenn man unter den „Liberalen" und „Intelligenten" jene Klasse versteht, die in diesem Zusammenhang allein darunter verstanden werden darf, die liberalen Grundbesitzer, und nicht die revolutionären Studenten. Und es müssten schlagendere Beweise vorliegen, als die Angstprodukte der Phantasie eines Moskauer Liberalen, bevor wir annehmen könnten, dass selbst heute die „herrschende Clique" „systematisch" eine so selbstmörderische Politik verfolgt.

Aber damit ist nicht gesagt, dass uns das Frühjahr nicht doch eine Erhebung der Bauern in Russland bringen kann. Bauernaufstände sind dort nichts Ungewöhnliches. Fast jedes Jahr sieht ein paar Bauernrevolten, die so regelmäßig wiederkehren wie die Donnerwetter im Hochsommer, aber unter normalen Verhältnissen auch nicht viel mehr Schaden anrichten, mit leichter Mühe niedergeschlagen werden.

Mehr noch als im westlichen Europa ist der Bauer in Russland fern von den Zentren des kulturellen und politischen Lebens; lokale Aufstände sind es, die ihn treiben, sich plötzlich der. Obrigkeit zu widersetzen, planlos, ohne Einverständnis mit den weiter Wohnenden, ohne Rücksicht auf die Aussichten, welche die allgemeine ökonomische und politische Situation bietet, und ohne Mittel des Widerstandes. Ein paar Kosaken genügen in der Regel, das aufrührerische Dorf zu „beruhigen", und eine solenne Auspeitschung seiner angesehensten sowie seiner kecksten Bewohner bildet den regelmäßigen Abschluss der Empörung.

Aber diesmal dürfte es anders kommen. Die Nachrichten von dem unglücklichen Krieg und den Revolten in den Städten dringen, wenn auch langsam, so doch unaufhaltsam in die entferntesten Dörfer und verbreiten dort allgemeine Erregung.

Der. Krieg hat diesmal, im Gegensatz zum letzten russisch-türkischen, schon bei seinem Beginn allgemeines Missvergnügen erregt, das jede Aushebung von Reserven immer mehr zur Erbitterung steigerte. Der „Vorwärts" erzählt freilich, dass die Bauern „teilweise mit verblendeter Begeisterung für den Friedenszaren in den Krieg gegangen seien"; aber diese „verblendete Begeisterung" existierte nur in den verlogenen Berichten der russischen Reptilien. Die Wirklichkeit sah nichts davon.

Der Fortgang des Krieges bewirkt jetzt, dass das Gegenteil dieser „verblendeten Begeisterung" immer stärker auch auf dem Lande anwächst. Dafür sorgen die Berichte von den Niederlagen, die schließlich auch in die bäuerlichen Hütten bringen, und vor allem die Verstümmelten und Siechen, die aus dem Kriege heimkommen und in ihre Dörfer verschickt werden, um nicht in den Städten im Wege zu sein. Der Jammer und der Grimm jedes dieser misshandelten Menschen muss selbst den stumpfsinnigsten Bauer aus seiner Apathie wecken.

Zu diesen Agitatoren gegen die Regierung gesellen sich aber nun die rebellischen Arbeiter, die man massenhaft aus den insurgierten Städten ausweist, da man sie nicht gut alle niederschießen und einsperren kann. Sie kommen in ihre Dörfer als Berichterstatter über die Revolten und als Schürer neuen Aufruhrs. So wie unter dem Sozialistengesetz in Deutschland und dem Ausnahmezustand in Österreich die Ausweisungen zahlreicher Genossen aus den großen Städten ein mächtiges Mittel waren, die sozialistische Propaganda in die kleineren Orte zu tragen, so wirkt jetzt in gleicher Weise die russische Reaktion. Aber niemand wird behaupten wollen, dass Bismarck und Taaffe „systematisch" darauf hinarbeiteten, die Proletarier der Kleinstädte gegen ihre Kapitalisten „rebellisch zu machen". Das ist heute eine Notwendigkeit. der keine Regierung entgeht. die den Sozialismus bekämpft: entweder muss sie die Unruhestifter in ihrer Nähe binden, wo sie ihr direkt gefährlich werden, ober sie muss sie aus ihrer Nähe fortschaffen, wodurch sie für den Moment etwas mehr Luft bekommt, aber nur, um etwas später mit verdoppelter Macht angegriffen zu werden.

Das dürfte sich auch jetzt in Russland vollziehen, und zwar weit rascher und energischer als in Deutschland und Österreich, denn wenn Kriegsjahre doppelt zählen, so zählen Revolutionszeiten das Zehn- und Zwanzigfache.

Krieg und städtische Unruhe verstärken aber nicht bloß gewaltig die jahraus jahrein wirkenden Antriebe zu bäuerlichen Revolten, sie lähmen auch die Kraft der Staatsgewalt, sie zu unterdrücken. Militär und Polizei sind heute schon aufs Äußerste angespannt; und doch sind der Städte verhältnismäßig wenige nur. 14 Prozent der 130 Millionen des russischen Reichs leben in Städten. Das Landvolk lieferte bisher noch genügend Truppen, die Insurrektion der Städter wenn auch nicht völlig niederzuschlagen, so doch am Siege zu verhindern. Woher dagegen Soldaten nehmen, um die ungeheure Menge der Bauernschaft niederzuhalten? Sehen die Bauern aber erst, dass sie straflos sich empören können, dann flammt der Aufstand leicht lichterloh auf. An Brennstoff fehlt's nirgends.

So dürfen wir erwarten, dass zu den ständigen Unruhen der Städte sich in wenigen Wochen oder Monaten ausgedehnte Unruhen auf dem Lande gesellen, wenn nicht rechtzeitig eine parlamentarische Verfassung mit einem Rucke alles Drängen und Streben der aufkommenden und der leidenden Klassen der Nation in neue Formen der Betätigung drängt. Der „Semstwo-Mann" weiß ganz gut, warum er gerade jetzt so dringend in Liberalismus macht. Sind einmal die Bauern aufgestanden, dann nützen ihm die Forderungen einer Repräsentativverfassung nichts mehr.

Weit entfernt aber, die Sache der Revolution zu gefährden, muss die Empörung der Bauern sie fördern.

Es war von vornherein nicht zu erwarten, dass die Insurrektionen der städtischen Arbeiter sofort die Autokratie über den Haufen rennen würden. Dieser stehen alle Mittel der modernen Kriegstechnik zu Gebote und gegen die kommt man auch mit Revolvern und Handgranaten nicht auf. Der Sturm auf die Bastille, die Tage des Februar und März 1848 wiederholen sich nicht mehr. Ein modernes, das heißt über alle Machtmittel des modernen Staates verfügendes Regime kann heute nur noch dadurch gewaltsam gestürzt werden, dass man ihm seine Lebensquellen abschneiden und so seine Machtmittel schließlich zum Versagen bringt; dass man seinen Kredit erschüttert, seine Steuereingänge hindert, Militär und Bürokratie ermüdet, erschöpft, ihr Missvergnügen hervorruft und endlich Verwirrung und Kopflosigkeit in den Zentralstellen der Regierung aufs Höchste steigert. Das ist ein langwieriger Prozess, in dem schließlich derjenige Faktor siegt, der sich als der zäheste, unermüdlichste und ausdauerndste erweist. Die jetzigen Unruhen sind nur der Ausgangspunkt der Bewegung, aber siegen kann diese nur, wenn sie nicht schon ihren Höhepunkt bedeuten, wenn nach kurzem Zurückebben von neuem sich die Flut wieder erhebt, immer gewaltiger aufgepeitscht durch das Elend, das der Krieg, die Geschäftsstockung immer wieder von neuem erzeugt, durch das Elend, das die blutige Reaktion dazu gesellt. Jede Fortführung des Krieges muss zur Fortführung des revolutionären Stadiums führen, aber andererseits bedeutet der Friede heute einen schimpflichen Frieden, bedeutet die Empörung der Feldarmee, die nutzlos und zwecklos mehr als ein Jahr lang das Äußerste erduldete, um gedemütigt heimzukehren. Die Fortsetzung des Krieges wie der Abschluss des Friedens bedrohen den Zarismus in gleicher Weise – er hat aber nur noch die Wahl zwischen der Skylla und der Charybdis.

Die Lahmlegung der Regierung muss aber durch eine Empörung der Bauernschaft erheblich gefördert werden. Für sich allein kann allerdings die Bauernschaft nie ein modernes Regime gefährden, ganz anders jedoch, wenn eine ländliche Revolte sich gegen eine Regierung wendet, die sich in den Städten nur noch mit Mühe behauptet. Die städtische Revolution wird dadurch unwiderstehlich. Der Gedanke, die Regierung des Zaren könnte sich mit der bäuerlichen Revolution verbünden, um die städtische Revolution niederzuwerfen, ist absurd. Was die Bauern fordern – Land, Getreide, Vieh – finden sie nicht in der Stadt, sie finden es nur beim großen Grundbesitz. Der Zar ist aber der größte Grundbesitzer im Reiche; jede Plünderung des großen Grundbesitzes bedroht auch seinen Besitz. Die kaiserliche Familie besitzt (nach Professor Masaryk in der „Frankfurter Zeitung“) 325 Schlösser. Der Zar hat den Bauern nichts zu geben, nur zu nehmen: ihre Söhne für den Kriegsdienst, ihr Geld für den Fiskus.

Ganz anders die städtische Revolution.

Wohl ist die Stellung der Sozialisten zu den Bauern noch überall, auch in Russland, eine vielumstrittene. Der Bauer ist eine viel zu starke Bevölkerungsschicht, als dass nicht jede demokratische Partei mit ihr rechnen müsste; alle Versuche aber, die bäuerliche Wirtschaft, wie sie ist, in den Rahmen einer sozialistischen Produktionsweise als dauerndes Glied einzuverleiben, führen auf Abwege und zu Monstrositäten.

Indes handelt es sich heute in Russland zunächst nicht um eine soziale Revolution, nicht um die Eroberung der politischen Macht durch eine der unteren Krassen der Gesellschaft zur Anbahnung einer neuen Produktionsweise, sondern um eine politische Revolution, um die Hinwegräumung der politischen Hindernisse, die das freie Funktionieren der schon bestehenden Produktionsweise hindern.

Die historische Rolle des industriellen, sozialistischen Proletariats in dieser Revolution besteht nicht darin, die Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft zu legen, sondern darin, rücksichtsloser, „radikaler" als alle anderen Klassen die Interessen der Demokratie, zunächst noch auf der Grundlage der heutigen Gesellschaft zu verfechten.

Gerade diese Rücksichtslosigkeit, dieser Radikalismus aber ist es, wodurch das Proletariat der städtischen Revolution, wenn sie zum Siege gelangt, der bäuerlichen Masse erhebliche Erleichterungen ihrer Existenz bringen kann und wird.

In dem Verhältnis zwischen Bauer und Großgrundbesitzer dürfte die revolutionäre städtische Bewegung neutral bleiben. Sie hat keine Ursache, sich zwischen die Bauern und den Grundbesitzer zu stellen, die Schutztruppe für diesen gegen jene zu bilden; ihre Sympathien sind vollständig auf Seite des Bauern. Aber sie hat auch nicht die Aufgabe, die Bauern gegen die Gutsherren zu hetzen, die heute in Russland eine ganz andere Rolle spielen, als etwa der Feudaladel des ancien régime in Frankreich. Übrigens würden die städtischen Revolutionäre, selbst wenn sie wollten, auf das Verhältnis zwischen Grundbesitz und Bauern sehr wenig Einfluss haben. Das machen die untereinander aus.

Aber der Bauer steht nicht bloß in einem Verhältnis zum großen Grundbesitz, sondern auch zum Staate. Und hier begegnen sich seine Interessen mit denen der städtischen Revolution und stehen denen der Regierung diametral entgegen.

Die städtische Revolution verlangt das Aufhören des Krieges, das Aufhören des stehenden Heeres, dessen Ersetzung durch die Volksbewaffnung. Die Verweigerung des Kriegsdienstes dürfte eine der ersten Handlungen der empörten Bauern sein. Nie konnte die Forderung der Aufhebung des stehenden Heeres populärer sein als jetzt, wo Russland von keiner Seite bedroht ist, das Heer bloß dazu dient, das eigene Volk nieder zu kartätschen und einen ebenso ruhmlosen wie verderblichen und durch nichts gerechtfertigten Expansionskrieg zu führen.

Die städtische Revolution verlangt aber auch die Aufhebung der das Volk bedrückenden Steuern und ihre Ersetzung durch eine progressive Einkommenssteuer, die die kleinen Einkommen steuerfrei lässt. Keine Klasse würde bei der Durchführung dieser Forderung mehr gewinnen als der Bauer, der in Russland unter der Steuerlast weit mehr leidet, durch sie weit mehr verelendet und ruiniert wird als der westeuropäische Bauer, und für den diese Forderung gleichbedeutend wäre – bei seinem geringen Einkommen – mit Aufhebung jeglicher Steuer.

Das wären zwei Forderungen, die allein schon genügen könnten, den russischen Bauern ebenso mächtig wie die Aufhebung der feudalen Lasten 1789 den französischen Bauern an die Sache der Revolution zu fesseln.

Allerdings sind das zwei Forderungen, zu denen sich die „liberalen Semstwo-Männer" nicht erheben werden. Nur das revolutionäre Proletariat besitzt die Rücksichtslosigkeit und Kühnheit, sie zu stellen, und insofern kann man allerdings sagen, dass nur das Industrieproletariat imstande ist. die Revolution zu „retten", das heißt die Bauern zu ihren Verfechtern zu machen.

Aber die städtische Revolution dürfte noch weiter gehen. Ist sie auch noch nicht eine sozialistische, so doch eine proletarische, eine solche, die verlangt, dass der Staat alles tut, was in seinen Kräften steht. dem materiellen und intellektuellen Elend der unteren Volksklassen abzuhelfen. Dazu ist jedoch in der kapitalistischen Gesellschaft Geld notwendig, viel Geld, und woher das nehmen, wenn alle das Volk bedrückenden Steuern wegfallen und nur eine progressive Einkommensteuer auf die größeren Einkommen an deren Stelle tritt? Ein Regime der „liberalen Semstwo-Männer" müsste an dieser Schwierigkeit scheitern: die proletarische Revolution dagegen würde nicht Halt machen vor den Schranken, vor denen die Liberalen zurückschrecken; sie würde die Konfiskation des Vermögens der gesamten kaiserlichen Familie, sowie der Kirchen und Klöster aussprechen und damit einen reichen Schatz gewinnen, das Kulturniveau Russlands, des bäuerlichen wie des proletarischen, mit einem Schlage enorm zu steigern. Allein an Grundeigentum besitzt die kaiserliche Familie acht Millionen Hektar, besitzen die Klöster und Kirchen ungefähr ebenso viel, zusammen soviel wie das gesamte Ackerrand des Königreichs Preußen ausmacht1. Ihr mobiler Besitz wird dementsprechend groß sein. Was ließe sich mit diesen kolossalen Mitteln leisten, wie viele Schulen, Spitäler aus ihrem Erlöse bauen, wie viel Vieh und Ackerwerkzeug an die Bauern verteilen usw.! Übrigens dürfte es eine siegreiche Revolution auch keine übermäßige Überwindung kosten, die großen Latifundien der schlimmsten Gegner der Revolution ebenfalls für die Verbesserung der proletarischen und bäuerlichen Verhältnisse anzuwenden.

Man sieht, die Revolution hat den Bauern weit mehr zu bieten als der Zar. Kommt es zu einer Erhebung der Bauernschaft, worauf alle Anzeichen hindeuten, dann hat also die Revolution dabei nichts zu befürchten, wohl aber der Zar, dem sie nicht bloß die Krone, sondern, was für ihn noch schmerzlicher wäre, auch seine Schätze kosten würde.

Der revolutionäre Proletarier der Stadt dagegen begrüßt im Bauern seinen besten Bundesgenossen. Sollte die „herrschende Clique" wirklich wahnwitzig genug sein, selbst die Bauern zu einer Erhebung aufwiegeln zu wollen, dann würde sie dabei noch ganz andere Erfahrungen machen als mit den Gapons und mit den Subatowschen Arbeiterorganisationen.

Also nur zu, meine Herren!

1 Nach dem Bericht Drages über Russland in der englischen Enquete über Arbeiterverhältnisse (London 1894) beträgt das Land der Krone 7.367.740 Desjatinen = rund 8.100.000 Hektar, das der Kirchen, Klöster und Städte 8.572.622 Desjatinen = rund 9.500.000 Hektar. Der Besitz der Städte ist unbedeutend. Diese Zahlen gelten bloß für das eigentliche europäische Russland ohne Polen, Finnland und das Gebiet der Donschen Kosaken.

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