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Wladimir I. Lenin 19050609 Revolutionärer Kampf und liberales Maklertum

Wladimir I. Lenin: Revolutionärer Kampf und liberales Maklertum

[Proletarij" Nr. 3, 27. Mai/9. Juni 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, Wien-Berlin 1929, S. 457-467]

Die Entstehung von politischen Parteien ist eine der interessantesten und charakteristischsten Besonderheiten unserer interessanten Epoche. Die alte Ordnung, der Absolutismus, bricht zusammen. Immer breitere Schichten, nicht nur der sogenannten „Gesellschaft", d. h. der Bourgeoisie, sondern auch des „Volkes", d. h. der Arbeiterklasse und der Bauernschaft, beginnen darüber nachzudenken, wie und welche neue Ordnung aufgebaut werden soll. Für das klassenbewusste Proletariat sind diese Versuche der verschiedenen Klassen, ein Programm zu umreißen und eine Organisation des politischen Kampfes zustande zu bringen, von großer Bedeutung. Mag in diesen Versuchen, die meist von einzelnen, niemand gegenüber verantwortlichen und niemand hinter sich führenden „Politikern" ausgehen, noch so viel Zufälliges, Willkürliches, mitunter Phrasenhaftes enthalten sein, im Großen und Ganzen aber äußern sich darin mit unwiderstehlicher Kraft die Grundinteressen und die Grundtendenzen der großen gesellschaftlichen Klassen. Aus dem scheinbaren Chaos von Erklärungen, Forderungen, Programmen zeichnet sich die politische Physiognomie unserer Bourgeoisie und ihr wahres (nicht nur zur Schau getragenes) politisches Programm ab. Das Proletariat erhält immer mehr und mehr Material, um darüber zu urteilen, wie die russische Bourgeoisie, die jetzt von politischem Handeln spricht, handeln wird – welche Stellung sie im entscheidenden revolutionären Kampf, dem Russland so rasch entgegengeht, einnehmen wird.

Das im Auslande erscheinende „Oswoboschdjenije", das ohne jede Behinderung durch die Zensur die Bilanz der zahllosen Kundgebungen der russischen Liberalen zieht, liefert manchmal besonders wertvolles Material zum Studium der Politik der Bourgeoisie. Das soeben von ihm veröffentlichte (oder der Zeitung „Nowosti" vom 5. April nachgedruckte) „Programm des Bundes der Befreiung", mit lehrreichen Erläuterungen des Herrn P. S.1 bildet eine vortreffliche Ergänzung zu den Beschlüssen der Semstwokongresse und zu dem Verfassungsentwurf der „Oswoboschdjenije"-Leute, von dem wir in Nr. 18 des „Wperjod gesprochen haben. „Mit der Ausarbeitung und Abstimmung dieses Programms – sagt mit Recht Herr P. S. – ist ein großer Schritt zur Schaffung einer russischen konstitutionell-demokratischen Partei getan."

Ohne Zweifel ist das für die russischen Liberalen ein großer Schritt, der aus der schon ziemlich langen Epopöe der liberalen Kundgebungen hervorragt. Und doch wie klein ist dieser große liberale „Schritt", verglichen mit dem, was zur Schaffung einer wirklichen Partei notwendig ist, und selbst verglichen mit dem, was die Sozialdemokratie zu diesem Zweck schon geschaffen hat! Die Bourgeoisie verfügt über eine unermesslich größere Freiheit des legalen Auftretens als das Proletariat, über unvergleichlich mehr intellektuelle Kräfte und Geldmittel, über ungleich größere Bequemlichkeiten für eine Parteiorganisation – und trotzdem haben wir immer noch eine „Partei" vor uns ohne offiziellen Namen, ohne ein allgemeines, klares und genaues Programm, ohne Taktik, ohne Parteiorganisation, eine „Partei", die nach der Äußerung des kompetenten Herrn P. S. aus einer „Semstwofraktion" und aus dem „Bund der Befreiung", d. h. aus einem unorganisierten Konglomerat von Personen plus einer Organisation besteht. Übrigens, vielleicht sind die Mitglieder der Semstwofraktion „Parteimitglieder" in jenem berühmten Sinne, dass sie unter Anerkennung des Programms, „unter der Kontrolle einer der Parteiorganisationen", einer der Gruppen des „Bundes der Befreiung", arbeiten? So wenig eine derartige Auffassung der Parteimitgliedschaft dem ganzen Geiste der Sozialdemokratie entspricht, so bequem und zweckmäßig ist sie für die Liberalen, so eigentümlich ist sie für ihren ganzen politischen Habitus. Aus dieser Auffassung der Partei (ausgedrückt nicht in dem geschriebenen Statut, sondern in der realen Konstruktion dieser „Partei") ergibt sich unter anderem die Tatsache, dass die organisierten Parteimitglieder, d. h. die Mitglieder des „Bundes der Befreiung", in ihrer Mehrzahl zwar für das Einkammersystem sind, aber nichtsdestoweniger in ihrem Programm darauf verzichten, dass sie die Frage mit völligem Schweigen übergehen, den unorganisierten Parteimitgliedern, der „Semstwofraktion" zuliebe, die für das Zweikammersystem eintritt. Das „Kräfteverhältnis ist für die politisch aktive Bourgeoisie sozusagen providentiell: die organisierten Intellektuellen denken und die unorganisierten Geschäftemacher, die Kapitalisten, lenken.

Herr P. S., der aus vollem Herzen das Programm des „Bundes der Befreiung" begrüßt, verteidigt hierbei prinzipiell sowohl die Unklarheit, die Unvollständigkeit, die Unfertigkeit des Programms als auch die organisatorische Verschwommenheit und die taktischen Verschweigungen, er verteidigt sie mit Erwägungen der „Realpolitik"! Wir werden noch auf diesen herrlichen, für das ganze Wesen des bürgerlichen Liberalismus charakteristischen Begriff zurückkommen; jetzt wollen wir zur Prüfung der Grundlagen des liberalen Programms übergehen.

Einen offiziellen Namen hat die Partei, wie wir bereits sagten, nicht. Herr P. S. nennt sie mit demselben Namen, der, wie wir glauben, auch in den Spalten unserer legalen liberalen Zeitungen figuriert, nämlich „konstitutionell-demokratische Partei". Und so unwichtig auf den ersten Blick die Frage des Namens auch sein mag, so erhalten wir auch hier schon sofort Material zur Klärung der Frage, warum die Bourgeoisie, im Unterschied zum Proletariat, sich mit politischer Verschwommenheit begnügen und sie sogar „prinzipiell" verteidigen muss, – eben „muss", nicht allein aus subjektiven Stimmungen oder Eigenschaften ihrer Führer heraus, sondern infolge der objektiven Existenzbedingungen der gesamten Bourgeoisklasse als eines Ganzen. Der Name „konstitutionell-demokratische Partei" erinnert sofort an den bekannten Ausspruch: Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen. Der Name „konstitutionell-demokratische Partei" ist erfunden worden, um den monarchistischen Charakter der Partei zu verbergen. In der Tat, wer weiß denn nicht, dass diese ganze Partei, sowohl in Gestalt ihres Unternehmerflügels – der Semstwofraktion – als auch in Gestalt des Bundes der Befreiung, für die Monarchie eintritt? Die einen wie die andern reden nicht einmal von der Republik, da sie solche Gespräche für „unseriös" halten, und in ihrem Verfassungsentwurf wird die Monarchie direkt und eindeutig als Regierungsform anerkannt. Wir haben also eine Partei der Anhänger der konstitutionellen Monarchie vor uns, eine Partei der konstitutionellen Monarchisten. Das ist eine Tatsache, die nicht dem geringsten Zweifel unterliegt und durch keinerlei Räsonnements über die „prinzipielle" Anerkennung der Republik aus der Welt zu schaffen ist (obwohl wir von den „konstitutionellen Demokraten" einstweilen solche Räsonnements nicht gehört haben!), denn es handelt sich gerade nicht allein um die „prinzipielle", sondern um ihre praktisch-politische Anerkennung, um den Willen, sie zu erkämpfen und um die Notwendigkeit, zu kämpfen.

Aber das ist es ja eben, dass es den Herren Bourgeois unmöglich ist, sich jetzt mit ihrem richtigen Namen zu bezeichnen. Das ist ebenso unmöglich, wie es unmöglich ist, vollkommen nackend auf die Straße zu gehen. Man kann nicht offen die Wahrheit sagen, man kann nicht laut aussprechen was ist2, weil das gleichbedeutend wäre mit der Anerkennung eines der ungeheuerlichsten und schädlichsten politischen Privilegien, gleichbedeutend mit der Anerkennung des eigenen Antidemokratismus. Dies kann die um politische Freiheit kämpfende Bourgeoisie nicht zugeben, nicht nur deshalb, weil dies sehr blamabel, beschämend und unanständig wäre. Nein, die bürgerlichen Politiker machen vor keiner Schändlichkeit halt, sobald dies ihre Interessen erfordern. Aber augenblicklich erfordern ihre Interessen die Freiheit, und die Freiheit kann man nicht ohne das Volk erlangen, die Unterstützung des Volkes aber kann man sich nicht sichern, ohne sich „Demokrat" (= Anhänger der Volkssouveränität) zu nennen, ohne seinen Monarchismus zu verbergen.

Die Klassenlage der Bourgeoisie führt somit unvermeidlich zu einer innerlichen Unbeständigkeit und Unwahrhaftigkeit bei der Stellung ihrer politischen Grundaufgaben selbst: der Kampf für die Freiheit, für die Vernichtung der jahrhundertealten Privilegien des Absolutismus ist unverträglich mit der Verteidigung der Privilegien des Privateigentums, denn diese Privilegien zwingen, mit der Monarchie „behutsam umzugehen". Das reale Programm der monarchischen Verfassung wird deshalb in das hübsche luftige Gewand einer demokratischen Verfassung gehüllt. Und diese Beschönigung des realen Inhalts des Programms durch ein wissentlich verlogenes, zur Schau getragenes Flitterwerk nennt sich „Realpolitik" … Der Ideologe der liberalen Bourgeoisie spricht deshalb mit unnachahmlicher Geringschätzung, mit großartiger Selbstgefälligkeit von der „theoretischen Selbsterbauung", mit der sich die „Vertreter der extremen Parteien" beschäftigen („Oswoboschdjenije" Nr. 69/70, S. 308). Die Realpolitiker der Bourgeoisie wollen sich weder an Unterhaltungen noch selbst an Träumen von der Republik erbauen, da sie für die Republik nicht kämpfen wollen. Aber gerade deshalb fühlen sie den unwiderstehlichen Drang, das Volk mit dem Lockmittel der „Demokratie" zu erbauen. Sie wollen sich nicht selbst über ihr eigenes Unvermögen, auf die Monarchie zu verzichten, täuschen, und gerade deshalb müssen sie das Volk täuschen, indem sie ihren Monarchismus verschweigen.

Der Name einer Partei ist, wie man sieht, gar keine so zufällige und so unwichtige Sache, wie man auf den ersten Blick glauben könnte. Mitunter verrät schon das Schreiende, das Gekünstelte des Namens selbst das tiefe innere Gebrechen des ganzen Programms und der ganzen Taktik einer Partei. Je inniger der Ideologe der Großbourgeoisie seine Anhänglichkeit an die Monarchie fühlt, um so lauter schwört er Stein und Bein, indem er aller Welt seine demokratische Gesinnung einzureden sucht. Je mehr der Ideologe des Kleinbürgertums dessen Unbeständigkeit, dessen Unfähigkeit zu einem konsequenten und unbeirrbaren Kampf für die demokratische Revolution und für den Sozialismus widerspiegelt, mit um so größerem Eifer redet er von der Partei der „Sozialrevolutionäre", von der treffend gesagt wurde, dass ihr Sozialismus gar nicht revolutionär ist und ihr Revolutionarismus mit dem Sozialismus gar nichts zu tun hat.3 Es fehlt nur noch, dass die Anhänger des Absolutismus sich „Volkspartei" nennen (wie sie es bereits mehr als einmal versucht haben), damit wir ein vollständiges Bild haben, wie Klasseninteressen in politischen Aushängeschildern verklärt werden.

Das Aushängeschild der liberalen Bourgeoisie (oder das Programm des „Bundes der Befreiung") beginnt, wie es sich für ein Aushängeschild geziemt, mit der effektvollen Einleitung:

Der Bund der Befreiung findet, dass die schwere äußere und innere Krise, die Russland durchmacht, gegenwärtig sich so verschärft hat, dass das Volk die Lösung dieser Krise in die eigene Hand nehmen muss, zusammen mit den anderen gesellschaftlichen Gruppen, die gegen das bestehende Regime aufgetreten sind."

Also, die Macht soll in die Hände des Volkes übergehen, es lebe die Souveränität des Volkes an Stelle des Absolutismus des Zaren. Nicht wahr, Herrschaften? Verlangt dies nicht die Demokratie?

Nicht doch, das ist theoretische Selbsterbauung und Verkennung der Realpolitik. Jetzt befindet sich die gesamte Macht in den Händen der absoluten Monarchie. Gegen sie steht das Volk, d. h. das Proletariat und die Bauernschaft, die den Kampf bereits begonnen haben, ihn verzweifelt führen und am Ende … am Ende gar sich durch diesen Kampf hinreißen lassen könnten bis zur völligen Niederwerfung des Feindes. Doch neben dem „Volk" stehen noch „andere gesellschaftliche Gruppen", d. h. die „Gesellschaft", d. h. die Bourgeoisie, die Grundbesitzer, die Kapitalisten, die professionelle Intelligenz. Man muss also die Macht in drei gleiche Teile teilen. Das eine Drittel der Monarchie überlassen, das andere der Bourgeoisie geben (ein Oberhaus, das auf einem indirekten und möglichst faktisch ungleichen, nicht allgemeinen Wahlrecht beruht), das restliche Drittel – dem Volke (ein Unterhaus auf der Basis des allgemeinen usw. Wahlrechts). Das würde eine „gerechte" Teilung sein, bei der ein sicherer Schutz des Privateigentums und die Möglichkeit gewährleistet wäre, die organisierte Gewalt der Monarchie (Armee, Bürokratie, Polizei) gegen das Volk zu richten, falls es sich durch irgendeine „unvernünftige" Forderung von denen, die „die Vertreter der extremen Parteien aus lauter theoretischer Selbsterbauung" aufstellen, „hinreißen" lassen sollte. Diese gerechte Teilung, durch die das revolutionäre Volk auf eine ungefährliche Minderheit, auf ein Drittel, reduziert wird, sei eine „grundlegende Umgestaltung nach den Grundsätzen der Demokratie", aber beileibe nicht nach den Grundsätzen des Monarchismus oder nach denen der bürgerlichen Privilegien.

Wie soll diese Teilung verwirklicht werden? Durch ehrliches Maklertum. Das hat bereits seit langem Herr P. Struve prophetisch vorausgesagt, schon im Vorwort zu Wittes Denkschrift, in dem er feststellte, dass die gemäßigten Parteien stets durch die Verschärfung des Kampfes zwischen den extremen Parteien gewinnen. Der Kampf zwischen dem Absolutismus und dem revolutionären Volk verschärft sich. Man muss zwischen jenem und diesem lavieren, man muss sich auf das revolutionäre Volk stützen (indem man es mit der „Demokratie" ködert) gegen den Absolutismus und auf die Monarchie gegen die „Extreme" des revolutionären Volkes. Bei geschicktem Lavieren wird unbedingt so etwas wie die obenerwähnte Teilung herauskommen, wobei der Bourgeoisie mindestens ihr Drittel in jedem Falle und unbedingt gesichert sein wird, während die Verteilung der Quoten zwischen dem Volk und dem Absolutismus von dem Ausgang ihres entscheidenden Kampfes abhängt. Auf wen man sich vorzugsweise zu stützen hat, das hängt von dem Augenblick ab – das ist das Wesen der Kuhhandels-, wollte sagen der „Real“politik.

Im gegebenen Augenblick befindet sich noch die ganze Macht in den Händen des Absolutismus. Deshalb muss man sagen, dass das Volk die Macht in seine Hände nehmen müsse. Deshalb muss man sich Demokrat nennen. Deshalb muss man die Forderung der „sofortigen Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf der Grundlage des allgemeinen usw. Wahlrechts zur Ausarbeitung einer russischen Verfassung" in den Vordergrund schieben. Jetzt ist das Volk nicht bewaffnet, es ist zersplittert, nicht organisiert, machtlos gegen die absolute Monarchie. Die konstituierende Nationalversammlung wird es vereinigen und eine große Kraft darstellen, die der Kraft des Zaren entgegenstehen wird. Dann erst, wenn die Macht des Zaren und die vereinigte Kraft des revolutionären Volkes einander gegenüberstehen werden, dann erst wird für die Bourgeoisie der wahre Festtag eintreten, dann erst wird man mit zuversichtlicher Hoffnung auf Erfolg diese beiden Kräfte „in Einklang bringen" und das günstigste Resultat für die besitzenden Klassen sichern können.

Das ist die Kalkulation der Realpolitiker des Liberalismus. Die Kalkulation ist nicht dumm. In diese Kalkulation wird ganz bewusst die Beibehaltung der Monarchie und die Zulassung einer konstituierenden Nationalversammlung nur neben der Monarchie eingesetzt. Den Sturz der bestehenden Macht, die Ersetzung der Monarchie durch die Republik will die Bourgeoisie nicht. Deshalb tritt die Bourgeoisie Russlands (nach dem Vorbild der deutschen Bourgeoisie von 1848) für einen „Kompromiss" zwischen dem Volke und der Krone ein. Für den Erfolg dieser Kompromisspolitik ist notwendig, dass weder die eine noch die andere der kämpfenden Parteien, weder das Volk noch die Krone, einen vollständigen Sieg davontragen, dass sie sich gegenseitig die Wage halten. Dann und nur dann könnte die Bourgeoisie sich mit der Monarchie einigen und dem Volke die Unterwerfung vorschreiben, das Volk zwingen, sich mit einem „Drittel" … oder vielleicht gar mit einem Hundertstel der Macht zufriedenzugeben. Die konstituierende Nationalversammlung wird gerade Kraft genug besitzen, um den Zaren zu zwingen, eine Verfassung zu gewähren, aber eine größere Kraft wird sie nicht und darf sie nicht (vom Standpunkt der Interessen der Bourgeoisie) besitzen. Sie soll nur der Monarchie die Wage halten, sie aber nicht stürzen, sie soll die materielles Werkzeuge der Macht (Armee usw.) in den Händen der Monarchie belassen.

Die „Oswoboschdjenije"-Leute machen sich über die Schipow-Leute lustig, die dem Zaren die Kraft der Macht und dem Volke die Kraft der Meinung gewähren wollen. Allein stehen denn die „Oswoboschdjenije"-Leute selber im Grunde genommen nicht auf demselben Standpunkt wie die Schipow-Leute? Sie wollen doch auch dem Volke nicht die ganze Macht geben, sie selbst sind doch auch für einen Коmpmiss zwischen der Macht des Zaren und der Meinung des Volkes!

Wir sehen also, dass die Interessen der Bourgeoisie als Klasse im gegebenen revolutionären Augenblick ganz natürlich und unvermeidlich dazu führen, die Losung der konstituierenden Nationalversammlung aufzustellen, aber keinesfalls die Losung der provisorischen revolutionären Regierung. Die erste Losung ist die Losung der Politik des Kompromisses, des Kuhhandels und des Maklertums, oder sie ist es geworden. Die zweite ist die Losung des revolutionären Kampfes. Die erste ist die Losung der monarchistischen Bourgeoisie, die zweite ist die Losung des revolutionären Volkes. Die erste Losung sichert am ehesten die Möglichkeit, trotz des revolutionären Ansturmes des Volkes, die Monarchie beizubehalten. Die zweite bahnt den direkten Weg zur Republik. Die erste überlässt dem Zaren die Macht und beschränkt sie nur durch die Meinung des Volkes. Die zweite ist die einzige Losung, die konsequent und vorbehaltlos zur Souveränität des Volkes im vollen Sinne dieses Wortes führt.

Nur dieser Grundunterschied in der Stellung der politischen Aufgaben durch die liberale Bourgeoisie und das revolutionäre Proletariat erklärt uns, außer den festgestellten, noch eine ganze Reihe nebensächlicher Züge des Programms der„Oswoboschdjenije"-Leute. Nur vom Standpunkt dieses Unterschieds aus kann man z. B. die Notwendigkeit des Vorbehalts der „Oswoboschdjenije"-Leute begreifen, dass die Beschlüsse ihres Bundes „nur insofern als bindend angesehen werden können, als die politischen Bedingungen unverändert bleiben", dass ein „provisorisches und bedingtes Element" in dem Programm zugelassen sei. Dieser Vorbehalt (der in den Erläuterungen des Herrn P. S. eingehend und besonders „schmackhaft" entwickelt wird), ist für die Partei des „Kompromisses" zwischen dem Volk und dem Zarismus unbedingt notwendig. Dieser Vorbehalt gibt äußerst deutlich zu verstehen, dass die Mitglieder des „Bundes der Befreiung" im Namen der Kuhhandelspolitik („Realpolitik") auf sehr, sehr viele ihrer demokratischen Forderungen verzichten werden. Ihr Programm ist nicht der Ausdruck ihrer unerschütterlichen Überzeugungen (solche sind der Bourgeoisie nicht eigen), sie sind nicht der Hinweis darauf, wofür man unbedingt kämpfen soll. Nein, ihr Programm ist ein bloßes Feilschen, das von vornherein mit einem unvermeidlichen „Preisnachlass" rechnet, je nach der „Festigkeit" der einen oder andern kämpfenden Partei. Die konstitutionell-„demokratische" (lies: konstitutionell-monarchistische) Bourgeoisie wird sich mit dem Zarismus auf einen billigeren Preis einigen als ihr jetziges Programm – das unterliegt keinem Zweifel, und das klassenbewusste Proletariat darf sich in dieser Hinsicht keine Illusionen machen. Daher die Gegnerschaft des Herrn P. S. gegen die Teilung in ein Minimalprogramm und ein Maximalprogramm, gegen „feste programmatische Beschlüsse überhaupt". Daher die Beteuerungen des Herrn P. S., dass das Programm des „Bundes der Befreiung" (das absichtlich nicht in Form einer präzisen Formulierung bestimmter Forderungen, sondern in der einer literarischen, annähernden Beschreibung dieser Forderungen dargelegt ist), „mehr als genug ist für eine Partei, die sich realpolitische Ziele gesetzt hat". Daher das Schweigen über die Bewaffnung des Volkes in dem Programm der „demokratischen" Monarchisten, das Ausweichen vor einer entschiedenen Formulierung der Forderung nach Trennung von Kirche und Staat, das Betonen, dass die Abschaffung der indirekten Steuern undurchführbar sei, die Ersetzung der politischen Selbstbestimmung der unterdrückten Völker durch ihre kulturelle Selbstbestimmung. Daher das naiv offenherzige Eingeständnis des Zusammenhanges zwischen der Demokratie und den Interessen des Kapitals, die Anerkennung der Notwendigkeit, an Stelle „des Schutzes einzelner Unternehmungen und Unternehmer den verstärkten Schutz der Entwicklung der Produktivkräfte des Volkes" zu setzen, der Begünstigung der „Prosperität der Industrie" usw. Daher die Reduzierung der Agrarreform auf eine rein bürokratische „Zuweisung" von Land an die Bauern mit der bindenden Garantie einer „Entschädigung" an die Grundbesitzer für die den Bauern zuzuweisenden Ländereien, – d. h. mit anderen Worten, die entschiedene Verteidigung der Unantastbarkeit des versklavenden und feudalen „Eigentums". Das alles ist, wir wiederholen, das natürliche und unvermeidliche Resultat der Lage der Bourgeoisie als Klasse in der modernen Gesellschaft. Das alles bestätigt den Grundunterschied zwischen der proletarischen Politik des revolutionären Kampfes und der bürgerlichen Politik des liberalen Maklertums.

1 Es handelt sich um einen Artikel von ihm in Nummer 69/70 des „Oswoboschdjenije" vom 7./20. Mai 1905.

2 Die Worte „aussprechen was ist" auch bei Lenin im Original deutsch. Die Red.

3 Die auf deutsch üblicherweise „Sozialrevolutionäre“ genannte Partei hieß auf russisch, wörtlich übersetzt, „Sozialisten-Revolutionäre“ – WK

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